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Ein Porzellanfigürchen namens Bibelot

Dass ich als Kleinkind so zart wie ein Porzellanfigürchen war, möchte ich stark bezweifeln. Fotos aus jener Zeit beweisen eher das Gegenteil. Jedenfalls verpasste man mir diesen aus dem Französischen stammenden Spitznamen, der eigentlich »Schmuckstück« bedeutet. Wer diesen Namen erfunden hat und auch, ob man wusste, was das französische Wort »Bibelot« bedeutet, ist mir bis zum heutigen Tag verborgen geblieben. Derartige Ziergegenstände waren ja damals, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, sehr beliebt, und so standen unzählige Porzellanfigürchen auf Vertikos und Etageren herum. Sei’s drum. Wenn man mich mit einem beliebten Gegenstand betitelte, dann ist das ja positiv zu bewerten, und meine ersten Freunde wussten sowieso nicht, was dieser Name, der »Bibilo« ausgesprochen wurde, bedeutet. So konnte ich deshalb nicht gehänselt werden.

Geboren wurde ich im Hause meiner Großeltern an einem 8. September in der Mainstadt Aschaffenburg im nordwestlichsten Zipfel von Franken. Auf diesen Tag bin ich immer etwas stolz gewesen, ist er doch auch der Geburtstag der heiligen Maria. Das Jahr meiner Geburt, 1917, war dagegen weniger berauschend. Der Erste Weltkrieg ging in sein viertes Jahr, die Menschen hungerten. Weil es kaum etwas anderes als Kohlrüben zu essen gab, nannten die Menschen den darauffolgenden Winter »Kohlrübenwinter«. Diesem Mangel verdanke ich allerdings, dass meine Mutter mich fast neun Monate stillte. Man sagt, dass Menschen, denen solches widerfährt, von ausgeglichenem Temperament seien. Da kann ich meiner Mutter nur danken.

Wer lebte sonst noch in meinem Geburtshaus? Mein Vater Max war als Pionieroffizier im Krieg, meine Mutter somit »alleinerziehend«, jedenfalls in meinen ersten Lebensjahren. Diesen Begriff gab es damals allerdings noch nicht, und in der Tat war sie ja auch nicht allein. Sie hatte noch eine Schwester Elisabeth, von allen »Tant Lissele« genannt. Sie war stets eine liebe, mir herzlich zugetane Tante, die ich später oft in meinen Ferien besuchte. Mit ihren beiden Söhnen Hans-Helmut, der noch in den letzten Kriegstagen bei Berlin fiel, und dem jüngeren Hatto, später Professor für alte Geschichte, verstand ich mich immer glänzend. Onkel Walther, der Mann vom Lissele, arbeitete viele Jahre lang als Kinderarzt in Aschaffenburg. Er meinte manchmal scherzhaft, die halbe Stadt sei mit seiner Hilfe zur Welt gekommen.

Ein weiterer Bruder meiner Mutter hieß Engelbert, genannt Bert, war Tierarzt und damals schon verheiratet mit meiner Tante »My«. Und dann gab es noch den Onkel »Luc«, der als das schwarze Schaf der Familie galt. Er hatte eine Vorliebe für Autos, aber keinen richtigen Beruf. Soweit ich weiß, war er zuletzt der Fahrer eines SS-Obergruppenführers. Sein weiteres Schicksal ist unbekannt. Ich hatte ihn ungeachtet seines leichtsinnigen Lebenswandels ins Herz geschlossen, weil ich, als ich schon etwas größer war, gelegentlich auf seinem schweren Motorrad der Nürnberger Marke »Mars« mitgenommen wurde und mir dabei natürlich ungeheuer heldenhaft vorkam.

Die zentrale Figur im Haus war zweifellos mein Großvater Karl Haertle. Er zählte als Bezirkstierarzt des Landkreises Aschaffenburg zu den lokalen Honoratioren und prangte bei festlichen Anlässen in seiner bayerischen Beamtenuniform mit Zweispitz und Degen. Von seiner Umgebung wurde er respektvoll mit »Herr Rat« angesprochen. Er war ein liebenswerter, gutmütiger Mensch, zu dem ich mich oft flüchtete, wenn ich als kleiner Steppke wieder einmal glaubte, dass mir Unrecht angetan worden sei.


Max Dennerlein als Oberleutnant im Dezember 1914

Als mein Vater glücklich aus dem Krieg heimgekehrt war, bemühte er sich natürlich um ein gutes Verhältnis zu seinem Filius. Solange er mit mir spielte, nannte ich ihn »Max«. Wenn er aber strengere Saiten aufziehen zu müssen glaubte, lief ich zu meinem Großpapa und rief heulend: »Darf mich der Mann denn hauen?« Damals war ein Klaps auf den Popo noch gängige pädagogische Praxis und galt keineswegs als Zeichen von elterlicher Verrohung oder Ursache von psychischen Traumata.

Noch einmal zurück zu meinem Großvater Karl, von dem ich auch einen meiner Vornamen habe. Er war nicht sehr groß, korpulent von Statur und trug einen kleinen »Embonpoint«. Heute würde man das als »Bäuchlein« bezeichnen. Er pflegte täglich am späten Vormittag in seiner Stammkneipe ein Schöppele Wein zu trinken. Mich nahm er gelegentlich mit, und ich durfte dabei auch ein Schlückchen trinken. Das hörte erst auf, als meine Mutter merkte, dass ich an solchen Tagen recht lustig und beschwingt heimkam und offensichtlich einen kleinen Schwips nach Hause brachte. Das hat mir aber offensichtlich nicht allzu sehr geschadet. Jedenfalls wurde ich nicht zum Abstinenzler erzogen, und dafür sei meinem Opa heute noch gedankt.

Als Tierarzt war mein Großvater natürlich viel unterwegs. Vor dem Krieg besaß er einen Zweispänner, in dem er zu den Höfen fuhr, auf denen gerade eine Kuh zu verkalben drohte oder ein Pferd lahmte. So fuhr er gemächlich die Landstraßen entlang und rief mal dem einen, mal dem anderen Bauern einen Gruß zu. Seine Pferde folgten dabei schön brav dem Straßenverlauf. Als fortschrittlicher Mensch schaffte er sich dann ein Automobil an und fuhr damit über Land. Dabei geriet er jedoch manchmal in den Straßengraben, denn das Auto fuhr stur geradeaus, wenn er seinen Kunden zuwinkte. Viel passiert ist dabei wohl nicht, denn die Geschwindigkeit war kaum höher als die des Pferdewagens. Also beschloss der Familienrat, einen Chauffeur einzustellen. Das funktionierte auch ganz gut. Dann aber kam der Krieg, und der Chauffeur wurde zum Militär eingezogen. Was nun? Die Pferde und die Kutsche waren ja abgeschafft worden.

Die Retterin in der Not war meine Mutter. Sie war damals mit meinem Vater erst verlobt – denn er war noch nicht im Hauptmannsrang und hätte für die Heiratserlaubnis eine Kaution von 10 000 Goldmark hinterlegen müssen, was er nicht konnte. Jedenfalls ließ sie sich zum Automobilchauffeur ausbilden – für eine Frau in der damaligen Zeit ein geradezu skandalöses Unterfangen. Neben dem Erlernen der Fahrkunst hatte sie sich einer wochenlangen Unterweisung in einer Werkstätte zu unterziehen, wo sie lernte, das Automobil zu zerlegen und wieder zusammenzubauen. Nach dieser sicher eher männlichen Ausbildung durfte sie zwar meinen Großvater chauffieren, aber unter den missbilligenden Kommentaren sowohl der Presse als auch der Bevölkerung. Man bezeichnete sie als »Mannweib«, weil sie noch dazu einen Lederanzug mit Hosen trug. Der war durchaus berechtigt, denn im Auto saß man damals völlig ungeschützt. Selbst das sogenannte Allwetterverdeck, eine Zeltplane, die man aufspannen konnte, wenn es ganz schlimm kam, schützte nicht vor Seitenwind. Auch wenn man befürchtete, diese Frau am Volant eines daher rasenden Automobils sei eine Gefahr für die Bevölkerung, gewöhnte man sich langsam an die Motorkutsche des Herrn Rat und seine Chauffeuse.

Schon bald nach meiner Geburt wurde ich auf den Dienstreisen meines Großvaters mitgenommen. Wenn es losging, legte man mich als Wickelbündel auf den Hintersitz. Meine Mutter erzählte mir, ich sei sofort in tiefen Schlaf gefallen, sobald der Motor ansprang. Während der ganzen Fahrtzeit hätte ich fest geschlafen und sei nur aufgewacht, wenn ich in den Zeiten, in denen mein Großvater seine Tierarztbesuche machte, die Brust bekam.

Das Auto meines Großvaters hatte noch keine elektrischen Scheinwerfer, sondern wurde mit Karbidlampen beleuchtet. Bei normalen Temperaturen funktionierte das gut. Wenn aber Frost herrschte – mein Großvater musste ja jederzeit ausrücken – konnte es geschehen, dass das zum Betrieb der Lampen erforderliche Wasser einfror. Das bedeutete, dass die Scheinwerfer nicht leuchteten. Also mussten wir den nächsten Bauernhof ansteuern und um ein paar Liter warmen Wassers bitten. Das wurde in die vereisten Lampen eingefüllt, und die Fahrt konnte weitergehen.

Meine Großmutter hörte auf den ungewöhnlichen Namen »Bibiana«. Sie war sicher eine gute Hausfrau in einem großen Haushalt, stand aber zeitlebens im Schatten meiner Urgroßmutter und wurde von dieser immer überwacht und dirigiert. Die Urgroßmutter schaute täglich in die Kochtöpfe und kritisierte, wenn ihr etwas nicht gefiel. Sie hatte einfach das Heft in der Hand. Ich kann mich noch sehr gut an sie erinnern: eine asketische, hagere Frau, zu der ich aber einen guten Draht hatte. Denn sie spielte gerne mit mir »Mensch ärgere dich nicht« oder »Halma«. Allerdings gehörte sie zu den Menschen, die nicht verlieren können. Wenn sie verlor, wollte sie nicht weiterspielen, ich aber schon. Also ließ ich sie oft absichtlich gewinnen.

Weihnachten kam näher. Wer durfte den Baum schmücken? Natürlich nur die Urgroßmutter! Sie stieg auf einen Schemel und fiel prompt herunter: Schenkelhalsbruch. Der zugezogene Arzt meinte: »Lasst die alte Frau doch in Frieden sterben.« Denn Operationen gab es damals noch nicht, und eine allgemeine Sepsis war das reguläre Ende. Aber meine Urgroßmutter erholte sich wieder, humpelte zwar, ging am Stock, aber gab ihr Regiment deswegen nicht ab.

Meine Mutter kehrte einmal im Winter von einer Fahrt mit meinem Großvater zurück. Wie üblich hupte sie bei der Rückkehr mit der Ballonhupe rechts außen an der Wagentür, worauf meine Urgroßmutter – kein anderer konnte das ja machen – die vereiste Rampe hinunterlief, um die Garagentür zu öffnen. Dabei rutschte sie aus und stürzte. Meine Mutter konnte den Wagen auf der Rampe nicht mehr zum Stehen bringen und streifte mit dem Kotflügel die Urgroßmutter. Bevor man aussteigen und ihr zu Hilfe kommen konnte, war sie schon verschwunden und hatte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen. Am nächsten Morgen brachte man ihr wie gewohnt das Frühstück. Sie saß in ihrem Lehnstuhl und hatte einen Schwamm, mit dem sie ihre Blattpflanzen vom Staub zu reinigen pflegte, auf dem Kopf. Diesen Schwamm hatte sie in das nicht mehr sehr klare Wasser ihres Waschlavoirs getaucht und kühlte sich damit ihre Wunden vom Vortag. Wie bei einem skalpierten Indianer war ihre Kopfhaut auf einer ziemlich großen Fläche abgerissen. Ein anderer Mensch wäre an einer Blutvergiftung gestorben, nicht aber unsere Urgroßmutter!

Ihr Tod war wie ihr Leben. Sie pflegte sehr früh und sehr reichlich zu frühstücken. Daher brachte man ihr schon um fünf Uhr morgens ihr Frühstück, das aus Kaffee und Schwartenmagen bestand. So auch an ihrem Todestag. Als ihr »Tant Lissele« das Tablett ans Bett stellte, schlug sie ihr ein bisschen unwillig auf die Hand, sagte in ihrem fränkischen Dialekt: »Hobt ihr mich alt Fraa denn ganz vergess?«, drehte sich um und war tot. Sie war dem Vernehmen nach nie krank, nicht einmal ein Schnupfen soll sie jemals geplagt haben. Solche Menschen sind ausgestorben!

So richtig heimelig wurde es in unserem Haus, wenn die Abenddämmerung hereinbrach. Wir hatten noch Gasbeleuchtung, und das Anzünden der Gaslampe im Wohnzimmer war eine besondere Zeremonie. Die Lampe, die an einer Eisenkette hing, wurde heruntergelassen, das Gas wurde aufgedreht und der Docht mit einem »Fidibus« angezündet. Diese Fidibusse durfte ich herstellen, meist indem ich Postkarten in lange Streifen schnitt. Ich reichte sie dem jeweiligen Anzünder, und wir warteten gespannt, bis der Glühstrumpf aufleuchtete. Dann wurde die Lampe wieder hochgezogen und erleuchtete das Zimmer mit ihrem magischen Schein. Gleichzeitig schaute ich gespannt auf das Telegrafenamt, das schräg gegenüber lag. Jedes Gespräch wurde damals ja noch von Hand vermittelt. Man hob ein hölzernes Hörrohr von dem an der Wand befestigten Apparat ab, dann meldete sich das »Fräulein vom Amt«, man nannte die gewünschte Rufnummer, und das »Fräulein« stellte durch entsprechendes Umstöpseln der vielen Leitungen die gewünschte Verbindung her. Diese Arbeitsplätze bildeten eine lange Reihe, und man konnte sie von unserer Wohnung aus sehen. Wenn nun der Abend kam, schalteten die Frauen über ihrem Arbeitsplatz Lampen mit grünem Schirm an. Die wurden damals schon mit Strom betrieben. Wenn dann die ersten Lämpchen leuchteten, rief ich verzückt: »Guckt alle her, das ›Güne‹ ist da!« Mit dem »R« tat ich mich noch längere Zeit schwer, denn das »Zungensegel« unter meiner Zunge musste erst gelöst werden.

Eine besondere Attraktion war der Blick vom ersten Stock unseres Hauses, das genau gegenüber dem »Ascheberger« Hauptbahnhof lag. Jedes Mal, wenn ein Zug ankam, strömten die Reisenden heraus, und ich konnte sie beobachten. Wenn Markttag war, kamen die Bäuerinnen aus der Umgebung mit ihren landwirtschaftlichen Produkten. Transportiert wurden diese in einem Korb, und diesen Korb trugen sie, wie sonst nur in südlichen Ländern üblich, auf dem Kopf. Damit der Korb nicht zu sehr auf den Kopf drückte, hatten sie ein kleines, rundes Kissen untergelegt. Ich habe immer wieder bewundert, wie sie dabei das Gleichgewicht hielten.

Mein Vater, der als Pionierhauptmann den Krieg unbeschadet überstanden hatte, war nach dem Waffenstillstand arbeitslos. Soldaten waren nicht mehr gefragt, schon gar nicht diejenigen, die nicht beim »Roten Soldatenbund« mitmachten. Dann aber wurde die Reichswehr aufgebaut, und die Aschaffenburger Zeiten näherten sich ihrem Ende. Mein Vater erhielt die Nachricht, dass er in Ingolstadt eine Reichswehrkompanie aufstellen solle. Mithilfe seiner alten Kameraden aus der Kriegszeit gelang ihm das auch. Es hieß aber Abschied nehmen von Aschaffenburg und »Auf nach Ingolstadt!« Dies war der erste unserer schier unzähligen Umzüge in den kommenden Jahren.

Unglaubliches überstanden

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