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Schulzeit – und immer auf Achse

Nun waren wir also in Ingolstadt gelandet. Nachdem mein Vater die Pionierkompanie aufgestellt hatte und diese nach München verlegt worden war, wechselte er auf einen speziell für ihn geschaffenen Dienstposten. Er bekleidete hinfort bei der Standortkommandantur den Rang des »Pionieroffiziers vom Platz der Feste Ingolstadt«. Damit war er für den Zustand, die Pflege und Instandhaltung aller Ingolstädter Festungswerke verantwortlich, wobei er von einer sogenannten »Wallmeistergruppe« unterstützt wurde, die sich aus altgedienten Pionierfeldwebeln zusammensetzte. Ich war auch meinen Spielkameraden gegenüber mächtig stolz darauf, dass mein Vater über alle diese Anlagen herrschte.

Die ersten Nachkriegsjahre bis 1923 – ich war damals sechs Jahre alt – waren politisch ziemlich unruhig. Der sogenannte »Muttergottesgeneral« Ritter von Epp kämpfte mit seinem Freikorps gegen die Münchner Räterepublik und die kommunistischen Aufständischen an der Ruhr. Wir sangen voller Begeisterung das Kampflied der »Brigade Ehrhardt«, eines für seine Brutalität berüchtigten völkischen Freikorps: »Hakenkreuz am Stahlhelm, schwarz-weiß-rotes Band …«.

Besonders toll fand ich, dass ich eines Tages einen richtigen Stahlhelm unter der Ingolstädter Brücke fand, auf den vorne ein großes Hakenkreuz gemalt war. Für meine Freunde war ich, so schien es mir damals, mit diesem Besitz der Größte.

Noch ein Umstand machte mich stolz: Unsere Wohnung lag in der Theresienstraße, der Hauptstraße von Ingolstadt, genau gegenüber der Stiftskirche. Es war damals das einzige vierstöckige Haus der Stadt, und wir bewohnten den vierten Stock. Von dort hatte man einen herrlichen Blick über Stadt und Umgebung.

Die erste persönliche Erinnerung, die ich von Ingolstadt habe, ist der nächtliche Feuerschein eines brennenden Hauses, den ich von unserem Balkon aus beobachtete. Meine Mutter hatte mich wohl geweckt, um mir das Schauspiel zu zeigen. Ich muss davon sehr beeindruckt gewesen sein, weil es einen so nachhaltigen Eindruck auf mich hinterlassen hat. War das die Vorahnung künftiger Flächenbrände?

Es ging aber normalerweise friedlicher bei uns zu. Da war meine Puppe Wolfgang. »Buben spielen doch nicht mit Puppen!«, war die allgemeine Meinung. Ich aber liebte heiß und innig meinen Wolfgang, für den meine Aschaffenburger Tante Liesl immer neue Anzüge strickte.

Das volle Geläut des Münsters gegenüber unserem Haus beeindruckte mich tief, und auch vom Ritus einer Messe in dem hohen Haus war ich ergriffen, zumal meine Mutter mit mir vorne im Chorgestühl Platz zu nehmen pflegte, wo ich der heiligen Handlung ganz nahe war. Es endete jedoch mit einem Eklat: Genau während der Wandlung, als absolute Stille im Kirchenschiff herrschte, fragte ich angesichts der beiden Ministranten: »Du Mutti, sind das dem Herrn Pfarrer seine beiden Söhne?«

Seitdem saßen wir nicht mehr vorn im Chorgestühl. Jedenfalls gefiel mir das feierliche Zeremoniell am Altar. Wir hatten in dieser Zeit ein Dienstmädchen, wie man damals die Haushaltshilfen nannte. Mit ihr feierte ich »Messe«. Dazu waren auf einem Tisch ein Buch und ein Glas aufgebaut, das als Kelch diente. Ich hatte ein Betttuch umgehängt und zelebrierte unsere Messe. Die Franzi musste ab und zu das Buch von der einen auf die andere Seite tragen, ich verschränkte die Arme, wie ich es im Gottesdienst gesehen hatte, und beschloss die Messe mit den Worten: »Heiliger Sakradi!« Die Franzi verkniff sich das Lachen und machte es tapfer mit.

Die Zeit meiner Einschulung kam näher. Aber es gab da ein Problem: Meine Mutter, so hatte ich jedenfalls das Gefühl, hätte lieber ein Mädchen als einen Buben gehabt. Sie hatte mir nicht nur die Puppe geschenkt, ich musste obendrein auch noch mit einem Pagenkopf herumlaufen, der damals modischen Damenfrisur. Das kam mir immer wie ein Schandmal vor. Einmal war meine Mutter mit mir zum Einkaufen bei unserem Metzger. Der wollte mir ein Raderl Wurst schenken mit den Worten: »Da hast a Wurscht, Mädi.«

Ich stampfte vor Zorn mit dem Fuß auf, verschmähte die begehrte Wurst und verließ verärgert den Laden.

Weil ich wegen meiner Haartracht künftige Verwicklungen mit meinen Klassenkameraden befürchtete, steckte ich mich hinter meinen Vater. Der hatte ein Einsehen, und wir schlossen ein Komplott. Eines Nachmittags nach der Schule ging ich zu meinem Vater in dessen Büro. Gemeinsam suchten wir einen Friseur auf, der mir meine Lockenpracht auf normale Bubenlänge kürzte. Erleichtert lief ich zu meiner Mutter, die gerade hoch oben auf einer Leiter in unserem Garten bei der Zwetschgenernte war. Ich stand unter dem Baum und sagte, weil sie keine Anstalten machte, mich zu begrüßen: »Was ist, Mutti?«

Da merkte sie, dass dies ihr geschorener Sohn war und wäre beinahe vom Baum gefallen. Die Haare aber blieben kurz. Allerdings wurde ich beim nächsten Kinderfasching noch einmal als Page verkleidet, aber mit einer Perücke im Pagen-Look. Ich habe es überstanden!

An Ostern des Jahres 1924 wurde ich also in der Katholischen Knabenschule zu Ingolstadt eingeschult. Wir lernten die damals aktuelle deutsche Kurrentschrift.

Genau ein Jahr später wurde mein Vater an die Infanterieschule nach Ohrdruf in Thüringen versetzt, allerdings nur für ein halbes Jahr. Das war ein Truppenübungsplatz, an dem die Offiziersanwärter der Reichswehr ausgebildet wurden. Mein Vater war als Pionierlehrer tätig. Aus dieser Zeit stammt sein Spitzname »Schlammlatte«, unter dem er überall bekannt war. Noch zu Zeiten, als ich selbst schon Offizier war, wurde ich von älteren Kameraden bei der Nennung meines Namens angesprochen: »Ach, sind Sie nicht der Sohn von der Schlammlatte?«

Damit hatte es folgende Bewandtnis: Beim sogenannten Behelfsbrückenbau, der mit Balken und Bohlen betrieben wird, wird der untere waagerechte Balken eines Schwelljochs Schlammlatte genannt, weil er das Einsinken in den Untergrund verhindern soll. Und da mein Vater sehr schlank und groß war und diese Bezeichnung doch etwas ungewöhnlich klang, bekam er, da er sie den Offiziersanwärtern beibrachte, diesen Namen. Und da alle künftigen Offiziere von ihm unterrichtet wurden, kannte auch jeder ihn und seinen Spitznamen.

Für mich bedeutete der Umzug nach Thüringen einen Schulwechsel. Dort lernten die Kinder inzwischen die von dem Grafiker Ludwig Sütterlin 1911 im Auftrag der preußischen Regierung entwickelte Schulausgangsschrift. Das war zwar auch eine deutsche Schrift, aber sie hatte im Gegensatz zu der zuvor gelernten viele Rundungen und war rechtsläufig. Also totale Umstellung! Und in Erdkunde gab es plötzlich »Thüringen« statt »Bayern«.

Es gab aber dort auch viel Positives. Der Truppenübungsplatz bot uns Kindern jede Entfaltungsmöglichkeit für »Räuber und Gendarm«-Spiele. Und wir waren stolz, wenn wir bei den in die Unterkünfte zurückkehrenden Fahnenjunkern den Helm oder gar das Gewehr ein Stück tragen durften.

Noch einen Vorteil brachte das Soldatenleben mit sich: Meinem Vater stand ein Dienstpferd zu, das an seinen Dienstposten gekoppelt war. Außerdem besaß er ein Privatpferd, denn private Autos gab es damals kaum. Das Dorf Ohrdruf lag etwa vier Kilometer vom Lager entfernt, und häufig kam unser Bursche Sesselmann morgens vor Schulbeginn mit beiden Pferden zu unserer Wohnbaracke. Da er die Tiere ohnehin bewegen musste, ließ er mich auf eines aufsitzen und ritt mit mir fröhlich zur Schule. Der Schulranzen wippte auf dem Rücken und die Stricke mit Schwämmchen und Tafellappen flatterten. Mein Pferd war mit einem Beizügel am anderen befestigt, so konnte nichts passieren, und ich habe auf diese Weise im wahrsten Sinn des Wortes spielend das Reiten gelernt.

Das sogenannte gesellschaftliche Leben war äußerst unkompliziert. Wenn zum Beispiel ein Ehepaar Gäste zu sich einladen wollte, hieß es: »Stühle mitbringen!« Denn die Wohnbaracken waren streng nach Vorschrift und Bewohnerzahl möbliert. Einem Drei-Personen-Haushalt standen drei Stühle zu. Basta! Dazu ein Schrank oder ein Tisch. Aber ich glaube, gerade dieses einfache Leben brachte die Menschen viel näher zusammen, zumal Radio und Fernsehen noch unbekannt waren. Also musste man die Abende gemeinsam verbringen.

In diesem Sommer bekam ich meinen ersten Heuschnupfenanfall, eine Krankheit, die mich Jahrzehnte lang plagen würde. Wir Kinder spielten auf einer Wiese. Ein Mädchen hatte ein Sträußchen aus blühenden Grasrispen gesammelt und stupfte sie mir in die Nase. Ich antwortete jedes Mal mit einem »Hatschi!«. Doch plötzlich war mein »Hatschi« nicht mehr freiwillig, sondern entlud sich zwanghaft. Ich litt seitdem immer während der Gras- und Getreideblüte daran. Antiallergika gab es damals noch nicht, man bekam Protargol in Nase und Augen geträufelt. Daran habe ich noch heute eine unangenehme Erinnerung.

Als ich etwa 15 Jahre alt war, wollte ich mir wieder ein Fläschchen Protargol kaufen. Der Apotheker schaute mich strafend über seine Nickelbrille an und sagte: »So jung und schon so verdorben.« Ich wusste nicht, wie mir geschah. Erst später erfuhr ich, dass es als quecksilberhaltiges Medikament auch zur Behandlung von Geschlechtskrankheiten verwendet wurde.

Der rund um Ohrdruf gelegene Thüringer Wald lud zu schönen Spaziergängen und Ausflügen ein, zu Fuß und auch mit dem Rad. Ich besaß damals noch kein eigenes und saß auf einem Kindersattel auf der Längsstange des Rades meines Vaters. Bei allen Steigungen versuchte ich, meinen Vater durch wechselseitiges Drücken auf die Beine etwas zu entlasten. So durchstreiften wir so gut wie jedes Wochenende die nähere Umgebung. Und bei dieser Gelegenheit habe ich dann auch das Radfahren gelernt.

Auf dem kargen Boden des Truppenübungsplatzes gediehen prächtige Champignons. Ich glaube, mich niemals mehr so viel wie damals von Pilzen ernährt zu haben. Meine Mutter, die ja immer sehr gesundheitsbewusst war, schickte uns regelmäßig zum Schwammerlsuchen. Da wir nicht alle verzehren konnten, wurden sie geputzt, auf Schnüre aufgereiht und getrocknet. Im Winter gab es davon dann leckere Pilzsuppen.

Der ereignisreiche Sommer 1925 in Ohrdruf ging schnell vorüber, und wir zogen wieder zurück nach Ingolstadt: gleiche Wohnung, gleiche Umgebung, gleiche Schulklasse. Aber wir wussten: Im nächsten Frühjahr würde es wieder nach Thüringen gehen! Mein Klassenlehrer schrieb mir im März 1926 ins Zeugnis: »Ein gescheiter Knabe mit feiner Empfindung und reger Empfänglichkeit für alle Eindrücke«. Na, bitteschön!


Meine erste Freundin hieß Ursula Feyerabend

Dann wieder nach Ohrdruf, wie gehabt. Gleiche Umgebung, gleiche Schulklasse. Und erneut die Schreibschrift umstellen mit dem Resultat: »Sauklaue!«

Im Herbst 1926 zeichnete sich eine neue Situation ab: Die sogenannte Infanterieschule, die nur im Sommer existierte und der Ausbildung junger Offiziere diente, wurde nach Dresden verlegt. Später wurde sie als Kriegsschule bezeichnet. Also wieder Koffer packen und diesmal mit dem ganzen Hausrat nach Dresden!

Dort erwartete uns eine schöne Wohnung im Norden der Stadt, wo drei Mehrfamilienhäuser für die Offiziere der Schule bereitstanden. Da trafen sich natürlich die alten »Ohrdrufer« wieder, auch wir Kinder. Neben der Siedlung lag der Jägerpark. Dort wohnten in mehr oder weniger behelfsmäßigen Unterkünften sozial schwache Familien. Wir nannten sie Kommunisten, und so ganz falsch war diese Einschätzung wahrscheinlich nicht. Wir Offizierskinder lieferten uns täglich Straßenschlachten mit den Kindern vom Jägerpark, ausgetragen mit Bohnenstangen als Lanzen und Zaunlatten als Schwertern. Dabei gab es oft blutige Köpfe, und wir gingen nie einzeln, sondern nur in Gruppen zur Schule.

Die zweite Hälfte meines dritten Grundschuljahres musste ich natürlich wieder an einer anderen Schule verbringen, und zwar an einer Privatschule mit Lehrerseminar. Ich glaube, dass ich dort allerhand gelernt habe, zumindest in der Geographie des Landes Sachsen – und auch die sächsische Sprache. Dort wurde mir eine hohe Ehre zuteil: Als die neue Schule für Offiziersanwärter vom damaligen Reichspräsidenten Generalfeldmarschall von Hindenburg feierlich eingeweiht wurde, hatte ich die Aufgabe, ihm vor versammelter Mannschaft einen Blumenstrauß zu überreichen, natürlich im damals obligatorischen Matrosenanzug.

Mein drittes Schuljahr ging im Frühjahr 1927 abrupt zu Ende, denn meine Schule stellte ihren Betrieb ein. Was nun? Mein Vater versuchte, für mich eine Ausnahmeregelung für die Aufnahme am Gymnasium aufgrund meiner besonderen Situation zu erwirken, was tatsächlich gelang. Allerdings gegen eine Gebühr von drei Reichsmark. So bekam ich für drei Reichsmark ein ganzes Schuljahr geschenkt! Mein Vater versprach mir, bei zu erwartenden künftigen Schulwechseln und der erhöhten Gefahr des Sitzenbleibens kein böses Wort zu verlieren. Es war aber nicht nötig, denn ich habe bis zum Schluss Klasse für Klasse durchgehalten. Ich musste noch eine ärztliche Untersuchung und einen Sondertest über mich ergehen lassen und war dann stolzer Gymnasiast mit einer farbigen Mütze auf dem Kopf, wie es damals noch Brauch war.

Die Hoffnung auf eine längere Verweildauer in Dresden erfüllte sich wieder nicht. Laut Entlassungszeugnis des Bischöflichen St. Benno Gymnasiums war dort am 29. November mein letzter Schultag. Diesmal ging es nach Schwaben, nach Ulm. Mein Vater wurde »Major beim Stabe« des dortigen Pionierbataillons 5. Das entspricht heute der Funktion eines stellvertretenden Bataillonskommandeurs. Der Zeitpunkt für unseren Umzug erwies sich als äußerst ungünstig. Es war der berüchtigte kalte Winter 1927/28. Der Vormieter hatte unsere Wohnung in Neu-Ulm zwar geräumt, aber in einem total verwahrlosten Zustand hinterlassen. Die elektrischen Leitungen hingen wie Girlanden von der Decke, und die Wände mussten dringend gestrichen werden. Aber der Möbelwagen stand schon vor der Tür, man musste einziehen.

Zu allem Überfluss bekam ich eine üble Grippe mit hohem Fieber. So wurde für mich ein Zimmer mit einem Kohleofen beheizt, in dem mein Bett als einziges Mobiliar stand. Drumherum werkelten Maler, Elektriker und sonstige Handwerker. In meinem Krankenzimmer wurden auch die Kakteen meines Vaters und die Blattpflanzen meiner Mutter abgestellt, weil es der einzige beheizte Raum war und eine Außentemperatur von minus zwanzig Grad herrschte. Manche Pflanzen haben es nicht überstanden. Ich schon!

Unsere Wohnung lag, aufgestockt auf ein altes Fabrikgebäude, in Neu-Ulm. Zwischen Ulm und Neu-Ulm fließt die Donau. Sie trennt Württemberg von Bayern. Und wie! Für die Ulmer begann der Balkan bereits in Neu-Ulm. Auf meinem Schulweg überquerte ich täglich diese Grenze. Sie war durch einen roten Strich auf Fahrbahn und Bürgersteig mitten auf der Donaubrücke markiert. Unsere Wohnung lag also nicht nur auf dem »Balkan«, sondern auch unmittelbar neben dem Güterbahnhof. Vor unseren Fenstern wurden jeden Tag Güterzüge zusammengestellt und rangiert. Ich höre heute noch die Rufe »Oane – a halbe!«, und dann kam das »Rumms«, wenn der rollende Waggon auf den stehenden auflief. Wir nahmen diese Geräusche schon bald nicht mehr wahr, aber wir wachten auf, wenn am Samstagabend der Rangierbetrieb eingestellt wurde und Ruhe herrschte.

Es war schwer, mitten im Schuljahr in eine neue Klasse versetzt zu werden. Man galt zunächst als Fremdling. Es verwunderte deshalb nicht, dass beim ersten Schulausflug in die Umgebung die Klasse beschloss, mich in Klassenkeile zu nehmen. Als der Lehrer gerade mal nicht präsent war, stürzten sich alle auf mich und versuchten, mich zu verdreschen. Es gelang mir, an ihre Fairness zu appellieren, sodass ich nacheinander mit jedem Einzelnen kämpfen durfte. Den größten Brocken haben sie sich bis zum letzten Kampf aufgehoben. Er war zwei Jahre älter als wir anderen, weil er schon zweimal durchgefallen war, brachte mich in den Schwitzkasten und ließ nicht mehr los. Die Klasse triumphierte.

Später fragte ich die Klassenkameraden, warum sie mich denn so in die Mangel genommen hätten. Die verblüffende Antwort: »Woischt, du bisch a Preuß, und Preußa wöllet mer dahanna itta.« Auf Hochdeutsch: »Weißt du, du bist ein Preuße, und Preußen wollen wir hier nicht.«


Auf dem Weg zum Schwimmen mit meiner Mutter Fanny

Da kam also ein sächsisch sprechender Bayer nach Württemberg und wurde als vermeintlicher Preuße verdroschen!

Von da an hieß es: »Schwäbisch lernen!« Auf diese Weise spreche ich noch heute Sächsisch ebenso gut wie Schwäbisch. Meine Integration in die Klasse machte in dem Maße meiner Schwäbischkenntnisse Fortschritte. Der Kerl, der mich bei der Klassenkeile bezwungen hatte, wurde sogar mein bester Freund.

Ulm entpuppte sich als ein ebenfalls sehr schöner Standort. Wir machten viele Ausflüge auf die Schwäbische Alb und zum Blautopf. Hier verbrachten wir die für eine Offiziersfamilie enorm lange Zeitspanne von dreieinhalb Jahren, also von Herbst 1927 bis Frühjahr 1931. Der Grund unseres neuerlichen Standortwechsels war die Versetzung meines Vaters nach München. Er wurde dort Kommandeur des Pionierbataillons 7.

Der Umzug war schon reine Routine. Diesmal bezogen wir eine schöne Wohnung in der Ainmillerstraße in Schwabing. Als Schule bot sich das in der Nähe liegende und sehr renommierte Maximiliansgymnasium an. Also ging mein Vater mit mir zum Schuldirektor, um mich anzumelden.

Beim Anblick meiner Ulmer Zeugnisse begann sich seine Stirn zu runzeln, und er meinte, solch schwache Schüler könne er nicht aufnehmen. Ihm war nicht bewusst, dass in Württemberg ein anderes Notensystem gebräuchlich war als in Bayern. In Ulm war die Note 8 »vorzüglich« und die 1 »ganz ungenügend«. In Bayern war die Note 1 die beste und die 5 die schlechteste. Meine Noten schwankten zwischen 3 und 6, was »nicht ganz genügend« bis »gut« entsprach. Nachdem dieses Missverständnis aufgeklärt war, wurde ich in Gnaden in das »Max«, wie es liebevoll genannt wurde, aufgenommen.

Das Eingewöhnen in die Klasse bereitete im Gegensatz zu Ulm überhaupt keine Schwierigkeiten. Es gab da eine Clique von Schulkameraden, die alle in Schwabing wohnten. Wir waren per Rad unterwegs und versammelten uns vor Schulbeginn bei »Bitz« Lempp, dem Sohn des Besitzers der Buchhandlung »Bücher-Kaiser« im Rathaus. Von dort radelten wir freihändig und zu dritt oder zu viert an den Schultern eingehängt durch Schwabings Straßen bis zur Schule. Das war damals natürlich auch schon verboten, aber angesichts des minimalen Autoverkehrs ohne weiteres möglich.

Mittlerweile war der Friedensvertrag von Versailles, der oft auch als »Schandvertrag« bezeichnet worden ist, faktisch Makulatur. Hitlers Vertragsbrüche begeisterten die Massen, eine nationale Welle schwappte über das ganze Land. Im Nachhinein kommt einem das Ganze verrückt vor und das, was einmal daraus geworden ist, schien damals undenkbar. Wie angespannt die politische Lage trotz aller Begeisterung wirklich war, beleuchtete ein Vorfall, den ich aus nächster Nähe miterlebt habe:

Als mein Vater um die Jahreswende 1932/1933 als Kommandeur des Pionierbataillons 7 und gleichzeitig Kasernenkommandant die vorgeschriebenen Sicherheitsmaßnahmen für die Kaserne überprüfen wollte, löste er eines Tages mittels eines Stichwortes den Alarm aus. Er hatte dies von einer Telefonzelle aus getan und blieb zunächst unauffindbar. In der Folge wurde die Truppe in Alarmbereitschaft versetzt, es folgten aufgeregte Telefongespräche mit den anderen Münchener Garnisonen, die sofort mobil machten. Das »Braune Haus«, die NSDAP-Zentrale, bekam das Ganze auch mit und reagierte mit Alarmierung von SA und SS. Jeder glaubte, der andere bereite einen Putsch vor. Die Wogen wurden erst langsam wieder geglättet, als mein Vater auf dem »Schlachtfeld« erschien und sich das Ganze als ein Probealarm entpuppte. So misstrauisch begegneten einander damals die regulären und paramilitärischen Verbände.

Meine Hoffnung, bis zum Abitur in München und im »Max« bleiben zu können, zerschlug sich leider. Wieder einmal stand eine Versetzung ins Haus. Im Frühjahr 1934 wurde mein Vater zum »Höheren Pionieroffizier beim Heeresgruppenkommando II«, befördert. Es gab in der damaligen Wehrmacht zwei solche Gruppenkommandos, eines in Ost und eines in West. Das »Westliche« war in Kassel stationiert. Also ab nach Kassel!

Dort angekommen, trat ich dem Wilhelmsgymnasium bei und wurde im April 1935 in die Oberprima, also die Abiturklasse, versetzt. Dass ich als Zugereister zum Klassensprecher – damals hieß das Klassenführer – gewählt wurde, machte mich schon ein wenig stolz.

Im September fuhren die vier Oberklassen unseres Gymnasiums für vier Wochen zu einem Arbeitslager auf die Nordseeinsel Borkum. Das waren etwa sechzig Schüler samt dem Schuldirektor und allen dazugehörigen Lehrern. Ich gehe deshalb etwas ausführlicher auf dieses Unternehmen ein, weil es zeigt, wie wir, noch dazu mit Elan und Begeisterung, in das Dritte Reich und den Nationalsozialismus als Weltanschauung hineingeraten sind.

Wir fuhren je zur Hälfte mit der Bahn und per Rad, streng gegliedert in Marschgruppen mit den jeweils eingeteilten Führern und Unterführern. Das Haus Waterdelle, in dem wir wohnten, hatte den Charakter einer Jugendherberge. Über dem Ganzen stand das Motto: »Seid allezeit fröhlich!«

Frühmorgens pfiff der eingeteilte Tagesführer mit der Trillerpfeife zum Wecken, dann schlüpften wir schnell in die Badehosen, und es ging im Laufschritt zum nahe gelegenen Meer. Am Strand folgten erst Gymnastik, dann Schwimmen und sofort wieder »zurück marsch-marsch!«. Nach dem Waschen hieß es zum Flaggenappell im Viereck antreten. Dabei mussten wir uns die Hände reichen und im Chor skandieren:

»Führer! Wir wollen wahrhaftig sein!

Führer! Wollen voller Tatkraft sein!

Führer! Unser Leben soll Deutschland sein!«

Anschließend gab es Frühstück und Unterricht, der in den verschiedenen Fächern von Griechisch bis zur Mathematik unserem Umfeld angepasst war. Der Stundenplan hieß nicht mehr Stundenplan, sondern nach militärischem Vorbild Dienstplan. Zweimal wurden wir mitten in der Nacht alarmiert und mussten ein bis zwei Stunden auf der Insel umhermarschieren. Der Turnlehrer, der uns geführt hatte, schickte uns mit markigen Worten zurück in die Betten: »Dieser Nachtmarsch ist eine kleine militärische Vorübung. Der Militärdienst ist Dienst an Volk und Vaterland. Mancher wird vielleicht sagen, er hätte lieber schlafen mögen. Wer so spricht, ist ein Jämmerling!«

Bald nach unserer Rückkehr nach Kassel und dem Fortgang des normalen Schulbetriebes begannen für mich die Vorbereitungen für das vorgezogene Abitur. Diejenigen, die sich als Offiziersanwärter meldeten und angenommen wurden, machten ihr Abitur schon im vorhergehenden Dezember, um dann noch ein Vierteljahr Arbeitsdienst anstelle des üblichen halben Jahres abzuleisten. Zu den Vorbereitungen gehörte die Ausarbeitung eines Vortrags, für den ich als Thema die neuen Reichsautobahnen wählte. Es war immerhin ein Projekt, das viele Arbeitsplätze schuf und in seinem System des kreuzungsfreien Verkehrs ohne Beispiel war.

Zusätzlich musste ich mich verschiedenen Prüfungen unterziehen, zunächst im April bei meinem anvisierten Truppenteil, dem Münchener Pionierbataillon, dann Ende Mai bei einer speziellen Prüfungsanstalt zur sogenannten »Psychotechnischen Prüfung«, die drei Tage dauerte. Großer Wert wurde dabei auf die körperliche Leistungsfähigkeit gelegt. Es gab aber auch knifflige Fragen in verschiedenen Sachgebieten von Geschichte bis Mathematik, die uns vorgelegt wurden. Diese Tests habe ich bestanden.

Durch dieses vorgezogene Abitur habe ich also Ende Dezember 1935 mein Abitur nach weniger als zwölf Jahren abgeschlossen, und das ungeachtet aller Schwierigkeiten, die sich durch die häufigen Schulwechsel ergeben haben. Dazwischen machte ich noch den Führerschein der Klasse 3 für PKW und war natürlich stolz auf dieses Papier, das zu erwerben mir meine Eltern zum 18. Lebensjahr ermöglichten.

In meinem Abiturzeugnis steht, und das ist typisch für die damalige Zeit: »Gesund und kräftig, körperlich gut durchgebildet. Immer gleichbleibend ruhig und freundlich; mit festen Grundsätzen. Gut begabt und dementsprechend gute Erfolge. Besitzt das Reichsjugendsportabzeichen und das A-Sportabzeichen für Gleitflieger. Mitglied der HJ-Fliegergefolgschaft (Kameradschaftsführer).« Es folgen die einzelnen Noten. Dabei: »Physikalische Arbeitsgemeinschaft: gut (Fluglehre). Er hat die Reifeprüfung gut bestanden. Zusatz: Er verwaltete mit außerordentlicher Zuverlässigkeit längere Zeit die erdkundliche Kartensammlung der Schule.«

Zur Flieger-HJ kam ich nicht aus politischer Begeisterung. Vielmehr gab es eine Art Gruppenzwang, mit dem die Jugendlichen in die politischen Jugendorganisationen gedrängt wurden. Irgendwie musste man einfach dabei sein. Und die normale HJ war mir mit Exerzieren und Heimabenden zu blöde. Da erfuhr ich, dass es auch eine HJ-Gefolgschaft gab, in der die Jungen Segelfliegen lernen konnten. Ich also nichts wie hin! Es erwies sich als ein richtiger Glücksfall. Ich wurde angenommen, und wir übten an jedem Wochenende, soweit es das Wetter erlaubte, auf dem Dörnberg bei Kassel mit selbstgebastelten Segelflugzeugen. Das »selbstgebastelt‘‘ war nur möglich, weil ein großer Teil der Kameraden im Reichsbahnausbesserungswerk Kassel als Lehrlinge angestellt war. Und die bauten mit Anleitung unsere »fliegenden Kisten«, primitive Holzgestelle mit Tragflächen.

Der Flugbetrieb bei dieser völlig neuen Sportart verlief folgendermaßen: Oben auf der Hangkuppe war das Flugzeug aufgestellt, mit der Nase gegen den Wind. Der Pilot, der gerade dran war, wurde auf seinem Sitz, der völlig im Freien lag, angeschnallt. Am Sporn der Maschine saßen mehrere Kameraden und hielten sie fest. Auf das Kommando: »Ausziehen!« fingen die übrigen an einem doppelten Gummiseil zu ziehen an, dann folgte das Kommando: »Laufen!«. Das Seil spannte sich auf etwa dreißig Meter. Der Flugleiter rief »Los!«, die Haltemannschaft ließ los, das Flugzeug schnellte auf seinen Kufen nach vorn, das Gummiseil klinkte sich aus, und man schwebte in der Luft. Nun hieß es Kurs halten, langsam auf Landekurs gehen, und nach ein paar Hopplern war man wieder am Boden. Es erfolgte dann der Rücktransport des Flugzeugs, an dem sich die ganze Mannschaft beteiligte. Ein zweiräderiger Handwagen wurde heruntergefahren, das Flugzeug aufgebockt und im Handzug wieder den Hügel hinaufgeschoben.

Nach einiger Zeit, nachdem wir die A-Prüfung bestanden hatten, durften wir sogar auf der berühmten Wasserkuppe schulen. Das Ziel war die B-Prüfung, für die man mehrfach Schlangenlinien fliegen musste. Mein vorgezogenes Abitur beendete jedoch das Segelfliegen vorzeitig. Damit war meine Schulzeit abgeschlossen, und der vielzitierte Ernst des Lebens begann.

Unglaubliches überstanden

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