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Erste Klasse einmal anders
ОглавлениеSeit ein paar Jahren besitze ich ein Bärenticket, besser gesagt, ich bezahle dafür - jeden Monat. Sie wissen nicht, was das ist? Ok, ein Bärenticket ist im regionalen Verkehrsverbund die Fahrkarte für über 60-jährige. Über den Preis in Höhe von demnächst 83,60 Euro ließe sich lange diskutieren. Doch das ist hier nicht das Thema.
Mit dem Bärenticket darf ich bei der Deutschen Bahn sogar in Waggons der 1. Klasse mitfahren. Das mache ich natürlich häufig aber nicht immer gerne. Das 1. Klasseabteil hat nämlich den unwürdigen Beinamen „Bärenkäfig“. Und wer sitzt schon bereitwillig in einem Käfig!
Ich fuhr kürzlich wieder einmal S-Bahn, 1. Klasse. Das Abteil zählt acht Sitze. Man ist „unter sich“. Mir gegenüber saß eine Mischung aus Mann und Frau, eher geschlechtsneutral. Die Person erweckte sogleich meine Neugier, ohne genau zu wissen, warum. Und das Wesen schien das genau zu spüren. So kamen wir ins Gespräch. Zu meiner Überraschung gab sich mein Gegenüber zu erkennen.
»Ja, Sie haben das schon richtig eingeschätzt. Ich bin nicht irgendwer. Ich verkörpere auf Erden einen unangenehmen Wesenszug des Menschen. Ich bin die Gleichgültigkeit.«
Ich erschrak etwas. Wie sollte ich mir das vorstellen? Die Gleichgültigkeit als eine Person, mir direkt gegenüber? Und wie sollte ich damit umgehen?
»Nun, das ist in etwa so. Normalerweise bin ich einfach da, unsichtbar aber wahrnehmbar. Ich funktioniere ähnlich wie eine Waage. Immer dann, wenn jemand Gleichgültigkeit lebt, senkt sich meine rechte Schulter. Umgekehrt, wenn also jemand erfreulicherweise Respekt zeugt von der Gültigkeit des Anderen, hebt sich die linke Achsel.«
Ich war sprachlos. So lebensnah hatte ich das bisher nicht gesehen. Viele Gedanken gingen mir plötzlich gleichzeitig durch den Kopf. Wie unterscheide ich die zahlreichen Facetten und Wesensmerkmale des Menschen? Woran erkenne ich den Unterschied zwischen Gedankenlosigkeit, Oberflächlichkeit, Unwissenheit oder Gleichgültigkeit, um nur einige zu nennen?
Uns blieb keine weitere Zeit für eine Unterhaltung. An einem Vorortbahnhof stieg ein Mann ein und setzte sich zu uns. Er war mir sofort unsympathisch, wirkte etwas prollig. Laptop, Sakko und Hose, Hemd mit Krawatte und Freizeitschuhe, passender für die Kegelbahn.
Vor dem Bärenkäfig standen gut erkennbar zwei Bedienstete der Bahn, die Fahrkarten kontrollierten.
Eine Station später betrat ein Farbiger den Waggon. Offensichtlich war er unkundig mit den Gepflogenheiten des Öffentlichen Nahverkehrs. Ich schätzte ihn ein als einen Neuankömmling in unserem Land.
Der neue Fahrgast kam in unser Abteil und wollte sich setzen. Hatte der eine Fahrkarte für die 1. Klasse? Eher nein. Ein Bärenticket hatte er sicher nicht. Ich erfasste die Situation sogleich. Vor der Tür die Kontrolleure. Ärger stand ins Haus. Wie würde das enden?
Mit meinem holprigen Schulenglisch gab ich dem Fremden zu verstehen, dass hier wohl das falsche Abteil für ihn sei. Ob er mich wirklich verstanden hatte, weiß ich nicht. Jedoch, er kehrte um.
Deutlich sah ich, wie sich bei der Gleichgültigkeit die linke Schulter anhob. Unsere Augenpaare kreuzten sich. Erleichterung war zu spüren.
Was dann geschah, war niederschmetternd. Unser prolliger Mitfahrer warf mir böse Blicke zu. Ihm hatte es nicht gefallen, dass ich helfend zur Seite stand. Er murmelte einiges vor sich hin. Ich verstand nur Wortfetzen wie „Ist doch egal …“, „Die werden schon sehen …“, „Warum sollen wir …?“, „Wohin soll das führen …?“
Mich überraschte nicht, was sich dann ereignete. Die rechte Schulter der Gleichgültigkeit zog es weit nach unten. Längst war die Erleichterung verflogen.
Unsere neuerlichen Blicke zeugten von Nachdenklichkeit.
An der nächsten Haltestelle stieg ich aus. Mir ging es nicht gut. Noch lange hatte ich die letzten Worte in meinen Ohren: „Wohin soll das führen?“