Читать книгу Artikel 20.4 - Klaus Hammer - Страница 22
Оглавление9:35h U55
Dieter Freeh hatte wieder zu seinem normalen Rhytmus zurück gefunden. Den Flashmob, der gerade einmal eine halbe Stunde hinter ihm lag, hatte er schon wieder verdrängt. In seinem Kopf hatte wieder diese herrliche Leere Platz genommen, die ihm die Arbeit erträglich machte. Nur nicht nachdenken.
Er fuhr wieder einmal von der U-Bahn Station Hauptbahnhof in Richtung Brandenburger Tor ab. Der Zug beschleunigte und tauchte in das Schwarz des Tunnels ein. Normalerweise geschah absolut nichts auf dem Weg, zumindest bis er den hellen Schein der Haltestelle Bundestag aus dem Dunkel auftauchen sah. Erst dann musste er auf die Signale achten und den Zug verlangsamen.
Gelegentlich kam es vor, dass Fahrgäste etwas aus dem Gleisbett herausholen wollten und unvorsichtiger weise vom Bahnsteig auf die Schienen herunter stiegen. Dann musste er schnell handeln. Doch das geschah selten. Sehr selten.
Doch auf dem Weg zwischen den Haltestellen? Da gab es leere und Schwärze. Und nichts zu beachten. - Fast nichts. - Es gab durchaus Signale auf dem Streckenabschnitt. Doch die waren immer Grün. Diese Signale würden nur in einem Notfall umgeschaltet, damit zum Beispiel ein Zug nicht in einen U-Bahnhof einfuhr, in dem es brannte.
Er war schon fast an dem roten Haltesignal vorbei gefahren, als Freeh das Signal überhaupt erst bemerkte. Das Signal war noch nie rot gewesen. Er lies den Fahrhebel los, der daraufhin direkt in die Nullposition zurück schwang und betätigte die Bremse. Er bremste den Zug so heftig ab, wie es ging. Hinter sich im Wagen hörte er, wie Menschen durcheinander vielen.
Als der Zug endlich stand, sah er durch das Sichtfenster der Tür zur Fahrerkabine nach hinten in den Zug. Fast alle Fahrgäste die nicht gesessen hatten, waren durch die abrupte Bremsung von den Beinen gerissen worden. Einige waren gegen Haltestangen und Sitze geprallt. Das Licht war erloschen. Nur die Batteriebetriebene Notbeleuchtung versuchte die Wagons in ein mäßiges Licht zu tauchen. Selbst die seitliche Wegbeleuchtung, die in gewissen Abständen den Tunnel erhellte, war aus. Er hörte Fluchen und Wimmern. Scheinbar hatten sich bei dieser Gewaltbremsung auch Menschen verletzt. Ihm war unwohl. Er hätte besser auf die Signale acht geben müssen. Dann hätte er den Zug früher bremsen können. Doch war das Signal wirklich schon vorher auf Rot umgeschaltet gewesen? Oder war es wie immer grün und erst im letztem Moment umgesprungen? Er wusste es nicht mehr. Er hätte nicht beschwören können, wie es war. Nun musste er sich um die Fakten kümmern. Der Zug stand und die Passagiere erwarteten eine Mitteilung was geschehen ist.
Dieter Freeh zog den Schwanenhals des Mikrophons zu sich heran und drückte auf die Sprechtaste. Die Passagiere im ganzen Zug würden ihn durch die Lautsprecher hören. Er hasste diesen Teil seines Jobs. Warum konnte man für soetwas nicht Bandansagen... Ach nein. Den Gedankengang hatte er heute schon einmal verworfen. Zum Glück hat auch die Sprechanlage eine Notstromversorgung. Sonst hätte er durch den Zug brüllen müssen.
„Hier spricht ihr Zugführer“, Er räusperte sich um den Frosch, der sich offensichtlich in seinem Hals befand, zu verscheuchen „Wir haben hier auf offener Strecke ein Nothaltsignal angezeigt bekommen. Deshalb musste ich den Zug so schnell stoppen.“ Er sah auf sein Bedienpult. Dort war inzwischen eine Lampe, die ihm signalisierte, dass der Zug Fahrbereit war, erloschen. Jetzt war der Wagen sogar vom Stellwerk aus abgeschaltet. Er könnte den Zug also, selbst wenn er wollte, nicht wieder in Bewegung setzen. Nicht solange diese Kontrolllampe nicht leuchtete.
„Wir müssen eine Weile an dieser Stelle ausharren. Offensichtlich gibt es an der Haltestelle Bundestag ein Problem. Bitte setzen Sie sich wieder und verhalten Sie sich ruhig. Ich melde mich bei Ihnen, wenn ich weitere Informationen habe.“
Dieter Freeh lies die Sprechtaste los und lehnte sich zurück. Nun hieß es warten. Was immer es war, er hoffte, das das Ganze nicht so lange dauern würde, dass er seinen Feierabend verpasste.
Als sich nach etwa einer viertel Stunde noch nichts ereignet hatte, begann Freeh sich zu fragen, was denn geschehen sein könnte. Eigentlich hätte sich das Stellwerk schon längst melden müssen um ihm mitzuteilen, was die Ursache für diesen Nothalt gewesen war.
Er sah aus dem seitlichen Fenster der Fahrerkabine und versuchte die Streckenmarkierung zu erkennen. „Verdammte Dunkelheit“ fluchte er. Der Tunnel war nur durch das rote Licht des Haltesignals erhellt, und das lag schon ein ganzes Stück hinter ihm. Der Zug hatte eine ganz schöne Strecke zum Bremsen gebraucht. Da duchschoß es ihn wie ein Blitzschlag: Da musste doch noch diese Taschenlampe sein...
Er kramte in seiner Ledertasche in der er üblicherweise seine Kaffekanne und seine Brote transportierte. Er verteilte den Inhalt auf den Boden und das Bedienpult der Fahrerkabine und tastete in der Tasche umher. Dabei grub sich eine sandartige Masse in seine Fingernägel. Scheinbar hätte er die Tasche öfter von den Kekskrümeln und dem anderen Zeug reinigen sollen. Doch das war jetzt nicht wichtig. Ganz flach auf dem Boden der Tasche fand er, wonach er gesucht hatte: Eine etwa Kreditkartengroße Platikkarte, die fast so dick wie vier übereinander gelegte Karten war. An dem einen Ende schauten zwei kleine LED Lampen heraus. Wenn man in der Mitte auf die Karte drückte, dann leuchteten die LEDs. Freeh hoffte, dass die Batterien in dieser Lampe noch nicht leer waren.
Er versuchte die Karte aus der Tasche zu nehmen, doch sie schien festgeklebt zu sein. Er erinnerte sich: im Sommer hatte er einmal Weingummis dabei gehabt und die Tasche auf das Bedienpult gelegt. Zu dem Zeitpunkt war er noch eine der Straßenbahnlinien draußen gefahren. Scheinbar waren doch noch Weingummis in der Tasche gewesen. Diese haben jetzt die Taschenlampenkarte fest mit dem Boden der Tasche verklebt.
Er begann an der Karte zu reißen und zu zerren. Langsam, unendlich langsam, löste sich die Karte.
Als er das klebrige Ding endlich in seiner Hand hielt nahm er sich fest vor, dass er heute Abend die Tasche vernünftig reinigen würde.
Er drückte in die Mitte der Karte. Nichts geschah. „Verdammter Mist!“ Er drückte fester. Dann drehte er die Karte um und drückte auf die andere Seite der Karte. Immer noch nichts. Jetzt tastete er die ganze Karte Millimeter für Millimeter ab und drückte überall. als die LEDs endlich zu leuchten begannen, strahlten sie ihm direkt in die Augen.
Vor Schreck und weil ihn diese kleinen LEDs in dieser Dunkelheit geblendet haben, lies er die Taste gleich wieder los.
Nachdem seine Augen nicht mehr den weißen Fleck auf seiner Netzhaut abbildeten, richtete er die Taschenlampe aus dem Fenster und drückte erneut auf die Taste. Entgegen seiner Erwartung war das Licht für die Entfernung bis zur Wand des U-Bahnschachtes zu schwach. Trotzdem konnte er, zusammen mit dem schwachen Notlicht aus dem Wagon, etwas erkennen. Leicht hinter seiner Position, etwa auf der Höhe der ersten Zustiegstür, befanden sich an der Tunnelwand starke Metallstreifen. Diese Metallstreifen liefen ein mal rings um die Tunnelwand herum und bildeten so einen kompletten Rahmen. Der Tunnel war an dieser Stelle auch nicht Rund, sondern war zu einem Rechteckigen Raum erweitert worden. Ungefähr vierzig Zentimeter weiter befand sich noch solch ein Streifen. Unten auf dem Boden verlief quer zur U-Bahn Schiene eine weitere Schiene, die bis zur westlichen Wand verlief. Dahinter konnte man eine massive Stahltür erkennen, die mindestens zwanzig Zentimeter dick war. Das war also die sogenannte Flutsperre. Wenn dieser Tunnel drohte überflutet zu werden, dann konnte diese Flutsperre geschlossen werden, so dass nicht das restliche U-Bahn System von Berlin voll lief.
Zumindest die Gefahr, dass der Rest des Berliner Untergundes voll lief bestand derzeit nicht, da die U55 im Süden noch nicht an die U5 angeschlossen war. Das Wasser würde lediglich diesen Tunnel voll laufen lassen.
Dieter Freeh fragte sich, was wohl passieren würde, wenn das Fluttor sich jetzt schließen würde. Schließlich stand der Zug genau im Weg. Würde das Tor einfach stehen bleiben, oder würde es den Zug in der Mitte durchschneiden wie ein scharfe Messer eine Fleischwurst?
Ihre Position war somit ziemlich klar. Sie befanden sich direkt unter der Spree.