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Spuren? Falter!

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Einen Moment zögerte ich, weitere Ex-Kollegen im Polizeipräsidium aufzusuchen. Ein Besuch bei unserem Spuren-As Hartmut Dreute war letztlich zu verlockend. Ich wusste genau, dass er seine Quizleidenschaft bei der Weitergabe von Informationen gegenüber einem aus dem Dienst Ausgeschiedenen noch extremer ausleben würde. Zu aktiven Zeiten hatte er mich regelmäßig mit seiner Eigenheit, Fakten nie direkt, sondern in einer Art Ratespiel auf den Tisch zu bringen, genervt. Nun ja, es lagen Jahre dazwischen. Vielleicht waren meine Nervenstränge im Ruhestand dicker geworden. Die Geduld mit diesem Knispel würde sich bestimmt lohnen.

Ich traf Hartmut in seinem Kellergelass an. Sein Haarkranz war in den letzten Jahren vollständig ergraut. Durch die Aschenbechergläser seiner Brille musterte er mich beim Hereinkommen, als wäre ich eine übersinnliche Erscheinung. Wie ein Uhu sah er aus.

»Ich schmeiß mich weg. Der Sigi!«

»Tag Hartmut. Ich komme gerade zufällig hier vorbei und denke mir so: Wie mag es den alten Kollegen gehen? Bei Erich und Möhrchen war ich schon. Mein Nachfolger ist mächtig im Stress wegen dieser Sache in Werden. Keine Minute hatte der Zeit für mich. Da dachte ich mir: Besuch den Hartmut, der ist wesentlich gelassener in seinem Job. Wie geht es denn so?«

Der Überrumpelte schüttelte seine Überraschung schnell ab.

Er reagierte sofort auf den hingehaltenen Knochen.

»Ja, ja. Die Tote in Werden. Du hast bestimmt Zeitung gelesen? Ihren Macker mussten sie laufen lassen.«

Ich überlegte kurz, ob ich erwähnen sollte, dass ich Arnfried Nußbaum kannte, ließ es jedoch bleiben. Ich war hier, um den Kollegen anzuzapfen, nicht, um ihn in meine Pläne einzuweihen.

»Erich schwimmt scheußlich, was?«

»Das zu beurteilen, steht mir nicht zu. Ich mache hier meine Arbeit, die da oben ihre.«

Kam mir bekannt vor. So hatte es Hartmut immer gehalten.

»Warst du am Tatort?« Hoffentlich bemerkte er mein Lauern nicht.

Das Spuren-As wechselte unvermittelt das Thema. Das gehörte zu seiner Spielart des Quiz dazu. »Wie geht es Lotte? Und Lucy?«

»Danke der Nachfrage. Beiden geht es prächtig.«

»Hat Lucy denn jetzt ihren Doktor?«

»Ja. Tatsächlich. Unsere kleine Lucy. Sie hat kurz darauf eine Stelle an der Uni ergattert. Am Lehrstuhl für Kunstgeschichte. In vier Wochen zieht sie mit ihrem Freund in eine größere Wohnung.«

»Da ist Papa bestimmt eingeplant. Auf so einen Top-Handwerker können sie bei einem Umzug bestimmt nicht verzichten.«

Hartmut spielte mit dieser Bemerkung ironisch auf meine beiden linken Hände an. Dass ich so Etliches damit vermasselt hatte, war bis ins Polizeipräsidium vorgedrungen. Leider.

»Natürlich werde ich den beiden helfen. Ehrensache.«

»Wann hört Lotte auf mit Arbeiten?«

»Ein gutes Jährchen hat sie noch. Dann wird sie mit dreiundsechzig vorzeitig in Rente gehen. Die Abzüge nimmt sie in Kauf. Irgendwann ist es genug. Wie lange musst du deine Kniften noch zum Dienst tragen?«

»Das dauert. Auf alle Fälle bleibe ich bis zum Schluss.«

Hörte ich da ein wenig Frust heraus?

Hartmut Dreute war vor ewigen Zeiten die Frau weggelaufen. Nicht zuletzt wegen seiner Vorliebe für aufgespießte, tote Schmetterlinge. Seine Frau hatte es wahrscheinlich nicht mehr ausgehalten in seinem Schmetterlings-Mausoleum. In seiner Bude hing oberhalb der Türen Glaskasten neben Glaskasten. Außer im Bad. Eine neue Partnerin würde beim ersten Betreten dieser Höhle bestimmt auf dem Absatz kehrtmachen.

Die Einsamkeit setzte Hartmut wahrscheinlich zu und sein Leben zwischen den Schmetterlingsleichen machte ihn noch kauziger, als er es von Natur aus schon war. Ein armer Tropf. Aber einer, wie man ihn sich kaum besser für einen Spurensicherer vorstellen konnte.

Ich unternahm einen Versuch, das Gespräch auf mein Thema zurückzulenken: »Wie geht es dir denn? Hast du viel Arbeit mit eurem aktuellen Fall?«

Harmut stieg in mein Spielchen ein. »Was meinst du wohl, wie es Wochen nach der Verhaftung bei mir aussieht?«

»Also steht es eher mau mit Arbeit.«

»Das will ich nicht sagen …«

»Gibt es denn noch anstehende Untersuchungen?«

»Nicht unbedingt.«

Ich spielte den Gelangweilten. »Aha. Dich beschäftigt etwas. Ein Umstand, eine Spur, die du nicht deuten kannst. Lass mich damit zufrieden. Solche Dinge sind für mich Geschichte.«

Mein vorgetäuschtes Desinteresse traf ins Schwarze.

»Ich kann mir einfach nicht erklären, wie ein Mörder einen Tatort absolut spurlos verlassen kann. Irgendetwas muss ich übersehen haben.«

»Wenn es doch der war, den sie gestern rausgeschmissen haben, dann ist für mich sonnenklar, dass hauptsächlich er und das Opfer die Wohnung mit Spuren eingedeckt haben.«

»Der war es aber nicht. Keine noch so winzige Schmauchspur haben wir auf seiner Haut und an seinen Klamotten gefunden. Außerdem haben wir bis heute keine Tatwaffe entdeckt. In der Wohnung nicht, im Haus nicht, auf dem Grundstück nicht, in der näheren Umgebung nicht. Und volltrunken, wie der Kerl in dieser Nacht war, hätte er die Pistole niemals außerhalb dieses Dunstkreises verstecken können.«

»Um welche Uhrzeit ist es eigentlich passiert?«

»Das steht im medizinischen Gutachten. Das lese ich nie.«

Ich verlieh meiner Stimme einen unterschwelligen Ton, der meinem Gegenüber deutlich machte, dass ich seine Verarsche bemerkte. »Hartmut …«

»Ja, ja. Soll ich dir was vormachen? Der Doc sagt zwischen elf und Mitternacht. Erich hat Aussagen der Nachbarn vorliegen, die halb zwölf als wahrscheinlich erscheinen lassen.«

»Wer war denn alles in der Wohnung, als es passierte?«

»Wie soll ich das wissen?«

»Benutzte Gläser, Fingerabdrücke, Haare, Schmutz von Schuhen. Dein übliches Betätigungsfeld halt.«

»Was schätzt du?« Da war sie wieder, eine der Killerphrasen, die ich so hassen gelernt hatte.

»Ich bin nicht in die Ermittlungen involviert. Ich befinde mich auf dem Wissensstand eines Zeitungslesers.«

»Eine Meinung wirst du doch haben?«

»Ich tippe auf das Paar und einen Mörder.«

»Woher nimmst du diese Vermutung?«

»Ist ein Lottotipp. Reine Glückssache.«

»Sechs Richtige!«

Ich atmete tief durch. An diese Information war ich wenigstens einigermaßen schmerzlos gekommen.

»Hat der Täter beim Aufbrechen der Wohnungstür Hinweise auf seine Identität hinterlassen? Da ist doch meistens was zu finden.« Nur keinen Einblick in den eigenen Wissensstand geben, wenn man es mit Falter zu tun hat!

»Habe ich dir schon gesagt, Sigi.«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Was habe ich gesagt in Bezug darauf, welche Spuren der Mörder am Tatort und in seinem Umfeld hinterlassen hat?«, fragte Falter im Oberlehrermodus.

»Keine?«

»Exakt! Und welche Spuren habe ich dann an der Wohnungstür gefunden?«

»Keine?«

»Du bist nicht nur glücklicher Lottogewinner, sondern erhältst von mir dazu ein Gratislos der Aktion Mensch. Hast ja doch nix verlernt, mein Junge. Einmal Bulle, immer Bulle.«

Das Gespräch driftete in eine Ecke ab, die ich vermeiden wollte. Mir fiel das Motorrad der Ermordeten ein. »Hat der Mörder denn etwas aus der Wohnung mitgehen lassen?«

»Rein, Pistole auf die Stirn gesetzt, abgedrückt, raus. Meine Meinung.«

»Wie ist er geflüchtet?«

»Wahrscheinlich mit dem Motorrad der Frau.«

»Wo stand das Teil?«

»Lieber Sigi. Du bist nicht mehr bei der Kripo. Ich habe dir als Außenstehendem bereits viel zu viel verraten. Schön, dass du da warst. Und Tschüss.«

Falters Körpersprache drückte etwas anderes aus. Sie verriet mir, dass er genau über das Motorrad und sein Verschwinden nachdachte und insgeheim froh darüber war, endlich von jemandem danach gefragt zu werden. Sein verbaler Rausschmiss war nur eine weitere Variante des Falter-Quiz’. Eine, die ich bisher nicht kannte. Er hatte sein Repertoire in den letzten Jahren offensichtlich erweitert.

Ich nahm ihn voll auf die Hörner. »Hartmut, wir kennen uns mindestens zwanzig Jahre. Du puzzelst genau an dieser Stelle der Faktenlage herum. Das spüre ich!«

Mein Ex-Kollege sah mich durch seine dicken Brillengläser an. Er schaute mir direkt ins Gesicht. Zum Uhu fehlte ihm jetzt nur das Gefieder, das er passend zu diesem Blick aufplusterte. Ich war die Beute für seine spurentechnische Erkenntnis, für die es im Polizeipräsidium, zumindest momentan, keine Abnehmer gab.

»Na schön. Hier hört mir ja doch keiner zu. Sollst wenigsten du an meiner Arbeit teilhaben, Sigi.«

»Gerne. Schieß los.«

»Also: Ich vermute, der Mörder ist durch die Hintertür in den Hof geflüchtet. Die ist nur von innen verriegelt und trägt kein Schloss. Ehe du fragst: Keine Fingerabdrücke. Er hat Handschuhe getragen, wie bereits in der Wohnung. Dann ist er zielsicher rüber zu der Garage, wo das Motorrad stand. Er hat das Ding geklemmt, aber nicht den Motor gestartet. Am Ende des Grundstücks läuft so ein Fußweg, weißt du. Vom Grundstück aus kann man den durch ein Törchen erreichen. Das haben wir eingetreten vorgefunden. Vom Grundstück aus eingetreten. War ganz verrostet. Dazu brauchte es nicht viel.

Der Täter hat das Motorrad rechterhand über den Weg geschoben. Auf der Wiese vorm Törchen waren ganz leichte Reifenspuren zu sehen. Auf dem Weg in rechter Richtung ebenfalls. Vor dem Tatzeitpunkt hat es lange nicht geregnet. Der Boden war steinhart. Leider, sonst hätte sich vielleicht mehr gefunden. An drei Stellen habe ich im Gras merkwürdige flächige Abdrücke entdeckt. In Schrittweite zueinander und groß wie ein Fuß. Keinesfalls von Schuhsohlen. Nur diese Flächen. Das beschäftigt mich.«

»Mich würde noch etwas anderes beschäftigen. Wie weit hat der Mörder das Motorrad geschoben? Wie ist er überhaupt zum Tatort gekommen? Woher besaß er diese blendenden Ortskenntnisse?«

»Das sind die Fragen eines Ermittlers. Ich grüble über Spuren nach.«

»Trotzdem: Wie lauten die Antworten auf diese Ermittlerfragen, wie du sie nennst?«

»Er hat die Maschine bis ans Ende des Fußwegs geschoben. Dort gibt es ein kleines Hotel. Ungefähr auf seiner Höhe muss er die Karre gestartet haben und ist abgerauscht.«

Jetzt drehte ich den Spieß um. Ein Spielchen, das ich immer schon gerne mit Falter getrieben hatte.

»Du hast mich vorhin belogen, mein Freund.«

Der Uhu funkelte empört durch seine Brillengläser. »Ich? Wieso?«

»Musst du selbst hinterkommen. Tschüss, Hartmut.«

Ich täuschte mittels einer halben Körperdrehung mein Verschwinden an. Falter bekam meinen Hemdsärmel zu fassen. »Halt, Freundchen. Das gilt nicht. Erst alte Kollegen aushorchen und dann mit einem ermittlungsrelevanten Detail im Kopf verschwinden. In welcher Beziehung soll ich dich angeschwindelt haben?«

Ich bemühte den Gestus des Großzügigen. »Du hast mir gesagt: Rein, abgeknallt, raus. Ich sage dir: Er hat den Schlüssel von der Honda der Toten mitgehen lassen.«

»Den haben wir im Flur in ihrer Jackentasche gefunden.«

»Und der Zweitschlüssel? Meistens bewahren die Leute ihre Zweitschlüssel woanders auf.«

»Stimmt. Das habe ich bei meiner Aufzählung vergessen. Daran habe ich natürlich auch gedacht. Wir haben die komplette Wohnung durchgekämmt. Gründlich. Du kennst mich ja.«

»Und?«

»Was meinst du?«

Das wurde mir jetzt eine Quizrunde zu viel. »Spucks einfach aus!«

Falter setzte einen verschwörerischen Blick auf.

»Warum sollte ich einem Rentner diese Geheimnisse anvertrauen?«

»Brauchst du nicht«, verfiel ich auf eine bewährte Taktik im Umgang mit Altquizmaster Kulenkampff, nämlich, ihn mittels einer Behauptung aus der Reserve zu locken, »erstens weiß ich es auch so und zweitens interessiert mich die ganze Chose eigentlich nicht die Bohne.«

»Ich möchte es gerne hören!« Sein Tonfall klang beinahe beleidigt, dass ich sein Spielchen auf diese Weise beendete.

»Ihr habt sie nicht gefunden. Sie sind futsch. Der Mörder hat sie mitgehen lassen und war somit in der Lage, das Motorrad als Fluchtfahrzeug zu nutzen.«

Immerhin entlockte ich Falter ein zartes Lächeln. »Du bist und bleibst ein cleveres Kerlchen, Sigi. Dich könnten sie hier immer noch gut gebrauchen, glaube mir. Der Erich tut sich manchmal arg schwer.«

Das hörte ich einerseits gerne, andererseits nicht.

Ich hoffte, nicht meiner Einbildung aufzusitzen, was meine kriminalistischen Fähigkeiten anbelangte. Mein Ruhestand war ja eher ein erzwungener. Dieser Oberarsch Gelbarth hatte ihn durchgedrückt. Dass Falter eine positive Erinnerung an meine Fähigkeiten aufbewahrte, schmeichelte mir zugegebenermaßen.

Was mir an Hartmuts Bemerkung missfiel war, dass er schlecht über meinen Nachfolger sprach. Sicher, Erich ist wohl kaum der Hellste unter den Kriminalisten. Er besitzt aber unstrittig Qualitäten. Fleiß etwa und Hartnäckigkeit. Von seinem kleinen Manko, was Schlussfolgerungen angeht, wusste ich natürlich. Dazu war er lange genug mein Kollege.

Falter bemerkte meine Missstimmung. Er versuchte, dem Gespräch einen versöhnlichen Ausklang zu geben. »Lass uns mal außerhalb dieser heiligen Hallen treffen, Sigi. Zeit habe ich eigentlich immer. Du hast meine Nummer?«

»Die habe ich. Ich melde mich«, blieb ich vage. Ob ich Lust hatte, mich mit diesem Uhu zu treffen, wusste ich im Moment nicht. Jedenfalls hatte ich es die ganzen Jahre nach meinem Ausscheiden vermieden.

»Dann mache ich mal weiter. Hat mich gefreut«, verabschiedete mich Falter.

Ich tippte mit dem Finger an die Stirn. »Mach‘s gut, alter Knabe. Man sieht sich.« Schon war ich durch die Tür und beeilte mich, den ehrwürdigen Polizeitempel zu verlassen.

Tod einer Bikerin

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