Читать книгу Tod einer Bikerin - Klaus Heimann - Страница 9

Besuch an alter Wirkungsstätte

Оглавление

Erst am Dienstagmorgen, nachdem meine Gute zur Arbeit aufgebrochen war und ich die Tageszeitung zur Hand nahm, wurde ich wieder mitten hineingezogen in die Werdener Ereignisse.

»Tatverdächtiger auf freiem Fuß«, titelte der Journalist im Essener Teil, was sofort meine Aufmerksamkeit fesselte. Schon nach dem dritten Satz wusste ich, dass Erichs Befürchtung eingetroffen war: Sie hatten Arnfried Nußbaum am Montag entlassen. Er wurde zwar nicht namentlich erwähnt, aber die geschilderten Umstände passten hundertprozentig. Weiter stand im Artikel zu lesen, dass es keine neuen Tatverdächtigen gab und die Polizei im Dunkeln tappte.

Armer Erich. Ich vermochte einzuschätzen, wie so ein Pressebericht in den Mauern des Polizeipräsidiums aufgefasst wurde. Der Erfolgsdruck stieg für meinen ehemaligen Kollegen.

Ich legte das Blatt aus der Hand und überlegte kurz, ob ich schwach werden sollte. Keine Sekunde später war es um mich geschehen. Ich tauschte mein knittriges Home-Outfit gegen etwas Vorzeigbares und nahm meinen langjährigen Weg zur Arbeit unter die Hufe.

Meine anfängliche Entschlossenheit bröckelte, je mehr ich mich meiner ehemaligen Wirkungsstätte näherte. Wie würde mein Ex-Kollege den Besuch auffassen? Als Einmischung? Als Spott über seine Erfolglosigkeit? Oder als Unterstützung in einer schwierigen Situation? Ich hoffte, Letzteres.

Keine zehn Minuten später betrat ich meine ehemalige Arbeitsstätte durchs Hauptportal und meldete mich beim Pförtner. Der Mann kannte mich aus meiner aktiven Zeit. Nach einem kurzen Smalltalk – »Wie geht’s?«, »Beneide Sie«, »Alles Gute« –, ging ich hoch zu meinem alten Büro, in dem Erich unverändert residierte.

Die Tür, die einmal meinen täglichen Zugang zum Broterwerb markiert hatte, öffnete ich heute erst nach zaghaftem Anklopfen. Das Büro stand leer. Stattdessen erschien in der Zwischentür ein roter Lockenkopf: Möhrchen. Das versetzte mir einen sentimentalen Stoß. Wie früher!

»Tag, Sigi. Zeitung gelesen?«

Ertappt. Möhrchen konnte ich natürlich nichts vormachen. Die kleine Rote übertraf manchmal sogar Lotte darin, in meinen Gedanken zu lesen.

»Guten Tag, meine Beste. Wo steckt denn der Herr Gemahl?«

»Mein Göttergatte ist beim Chef. Unter anderem genau wegen diesem Zeitungsbericht.«

»Armer Kerl. Er tut mir echt leid.«

»Leidtun darf er einem wirklich. Bist du deshalb hier, um ihm das zu sagen?«

Die saphirblauen Augen der kleinen Roten blickten tief in mich hinein. Die beiden Klunker sahen wahrscheinlich mehr von meinem tatsächlichen Grund, was mich hergezogen hatte, als mir selbst bewusst war. Eine vernünftige Antwort fiel mir jedenfalls auf die Schnelle nicht ein.

»Ehrlich, Möhrchen? Ich bin überfragt. Erich tut mir leid, ich bin neugierig, der alte Ermittlerfunke ist in mir aufgeflackert, ich möchte eine Zeugenaussage machen, denn es hat sich herausgestellt, dass ich Arnfried Nußbaum kenne. Ein Brei aus dem allen, denke ich.«

Die kleine Rote schenkte mir ein undefinierbares Lächeln. »Kaffee? Schön schwarz?«

Die Beklommenheit, mit der ich hier eingedrungen war, fiel mit einem Schlag von mir ab. »Na, sicher. Wie früher!«

»Wie früher. Kommt gleich!«

Ich wagte nicht, mich auf Erichs Stuhl niederzulassen. Es war mein alter Platz, den er direkt nach meinem Ausscheiden für sich reklamiert hatte. Stattdessen setzte ich mich gegenüber an seinen ehemaligen Schreibtisch. Heute war ich hier der Benjamin. Merkwürdig, dass niemand in dieses Büro nachgerückt war. Sogar sein neuer Kollege nicht. Als ob dieser Stuhl auf mich wartete.

Möhrchen kam mit einer dampfenden Besuchertasse herein. Sie stellte den Kaffee vor mich hin und blieb bei mir stehen.

»Offiziell kann ich dein Erscheinen natürlich nur wegen der Zeugenaussage gutheißen. Aber ganz persönlich freue ich mich darüber. Du kommst viel zu selten.«

»Das tut gut, dass du das sagst. Ich möchte euch unter keinen Umständen auf den Geist gehen.«

»Woher kennst du Nußbaum?«

»Das geht auf Schulzeiten zurück. Ein langweiliger Typ, ein Streber, wahrscheinlich angetrieben durch seine Eltern. Seit diesen fernen Tagen habe ich nichts mehr von ihm gehört.«

»Das ist deine Zeugenaussage?«

»Ja.«

»Recht dürftig. Deswegen bist du nicht hier.«

Teufelsbraten! Sie durchschaute mich immer wieder. Unheimlich konnte einem das werden.

Ich wand mich. »Auf eine Art schon. Neben meinem Schnüffler-Trieb, der mich dieser Tage stark heimsucht, interessiert es mich, welches Schicksal ihm widerfahren ist. Ob sein Leben Baustein ist für die Katastrophe. Ob er zum Mörder oder Mittäter wurde.«

»Er ist es offensichtlich nicht gewesen. Zumindest kann Erich ihm nichts beweisen.«

»Und er hat keine brauchbaren Aussagen zum fraglichen Abend gemacht?«

»Nein. Erich hat gesagt, immer wenn der Mord zur Sprache kam, hat er gebetsmühlenhaft wiederholt: Ich war volltrunken.«

»Was einerseits den Tatsachen entspricht, sich andererseits ziemlich einstudiert anhört.«

»Genau.«

»Keine Indizien, keine kleinen Hinweise?«

»Was wird das hier Sigi? Du bist draußen!«

Beschämt fixierte ich den schwarzen, dampfenden Spiegel in der Besuchertasse. »Logisch. War nur Neugier.«

Möhrchen setzte sich mir gegenüber auf meinen alten Stuhl. Sie stieß einen kleinen Seufzer aus. »Irgendwie ist Nußbaum in die Sache verwickelt. Das hat Erich im Gespür. Aber er hat nicht geschossen. Beihilfe kommt für seinen Geschmack unverändert infrage.«

Die plötzliche Diskussionsbereitschaft der kleinen Roten wirkte auf mich als Ermutigung, mich in kleinen Schritten vorzutasten. »Hat außer dem Schuss wirklich niemand im Haus etwas bemerkt? Einen Flüchtenden zum Beispiel?«

»Nix und wieder nix. Stell deine Bemühungen bitte ein, Sigi. Ich behalte den Rest für mich. Hab eh schon zu viel verraten.«

Ich beschloss, alles auf eine letzte Karte zu setzen. »Ob ich deinem Mann behilflich sein könnte. Undercover sozusagen?«

Ich las in ihrer Miene, dass es in Möhrchen arbeitete. Ihr Blick wurde unruhig und die Nase zuckte nervös. Ich hatte den richtigen Knopf gedrückt. Es bestand eine leise Chance, ihre Zustimmung einzuheimsen. Das war für mich wirklich wichtig.

»Wie willst du das anstellen?«

Aha. Abgeneigt schien sie nicht zu sein. Der erste Schritt auf meine Wiese.

»Ich könnte mich Arnfried Nußbaum ganz anders nähern als Erich. Als ehemaliger Schulfreund. Sein Vertrauen gewinnen. Vielleicht verrät er sich.«

Der kleinen Roten entfuhr ein trockenes Lachen. »Sigi, du alter, gerissener, grauer Wolf. Schleichst dich hier einfach in mein Mitleid mit Erich rein. Dass du dich nicht schämst, die Gefühle einer Ehefrau derart zu missbrauchen!«

Ihr Tonfall war zum Glück eher liebevoll, drückte Sympathie aus. Eine Antwort lag weder darin, noch in ihren Worten. Könnte ich sie knacken?

Ich fasste nach. »Sag schon. Was hältst du davon?«

Möhrchen grinste mich an. Ich kannte sie gut genug, um zu wissen, dass aus ihrem Mund etwas Doppelsinniges zu erwarten war.

»Als Kriminalbeamtin muss ich dich ermahnen, bloß keinen Schritt in diese Richtung zu unternehmen. Als jemand, der dich wirklich mag, muss ich dir dringend abraten. Du könntest dich in Gefahr bringen. Groß schätze ich die zwar nicht ein, aber immerhin. Warum solltest du? Als Ehefrau eines Mannes, der nicht mehr schläft, weil ihm zu viel Druck gemacht wird, der fahrig ist, der sich abrackert und quält, sehe ich das anders. In dieser Rolle muss ich dich sogar um deine Hilfe bitten!«

War das ehrlich gemeint? Die beiden blauen Ozeane musterten mich prüfend. Ob sie meinen inneren Triumpf erspürten?

Mir wurde schlagartig klar, dass ich mir genau diese Ermutigung seitens meiner Ex-Kollegin erhofft hatte. Eine zweifelhafte Legimitation, gewiss. Das blendete ich einfach aus.

»Ich werde dir jetzt nicht sagen, was ich tue. Dieser Gedankenaustausch hat nie stattgefunden«, sicherte ich Möhrchen zu.

»Ich bitte dich herzlich darum, Erich nichts davon zu verraten. Er wirft dich achtkantig raus, wenn du ihm den Vorschlag machst, dich an Arnfried Nußbaum zu kleben. Mein Göttergatte war neulich, nach dem Abend bei Guido, schon wütend, dass du dich wie der erfahrene, clevere Cop aufspielst. Er will sich da alleine durchbeißen. Und ich sitze nebenan, weil bei den Drogen kein Platz ist, und bin gezwungen, tatenlos dabei zuzusehen, wie er leidet. Schöner Mist!«

Die Bürotür klappte auf und ein verblüffter Erich erschien im Rahmen. Ziemlich blass. »Du, Sigi?«

»Guten Tag, Erich. Sieht ganz nach mir aus, oder?«

»Du hast mir gerade gefehlt!«

Der war ja beschissen drauf! Wie nach frischem Plätten und Zusammenfalten.

»Ich kann gerne sofort wieder verschwinden. Wollte nur nachsehen, wie es euch geht. Nach dieser blöden Wendung im Werden-Fall.«

»Zum Kotzen geht es mir. Alles auf Anfang. Untersteh dich, mir auf irgendeine Weise ins Handwerk zu pfuschen. Ich sorge dafür, dass sie dir die Pension kürzen!«

»Hört sich tatsächlich an, wie ein Rausschmiss«, stellte ich beleidigt fest.

Erichs Blick wurde weich. »Entschuldige bitte, Sigi. Stress. Purer Stress. Du ahnst nicht, was hier los ist. Im Mordfall Wasserbahnhof ist eine neue Spur aufgetaucht. Der muss ich jetzt parallel zum Fall in Werden nachgehen.«

Der Wasserbahnhof liegt in der Nachbarstadt Mülheim. Dort ist an einer Schleuse Endstation für die Weiße Flotte, Ausflugsschiffe, die auf der Ruhr und dem Baldeneysee verkehren. Ganz in der Nähe hatte man eine tote Frau am Ufer gefunden. Letzten Herbst müsste das gewesen sein.

»Ich kann beurteilen, wie dir zumute ist. Dafür war ich lange genug selbst in der Pflicht zu liefern.«

»Da ist was falsch bei dir angekommen. Aber …« Erich fiel nichts mehr ein.

»Vorschlag zur Güte: Deine Frau holt dir einen von ihrem wunderbaren Kaffee und du schüttest mir dein Herz aus. Ich halte unterdessen die Schnauze. Versprochen.«

»Nee. Muss sofort weiter. Ein Kollege wartet auf mich. Wollte nur diese Papiere hier abwerfen. Tschüss Sigi. Andermal.«

Im Nu war Erich verschwunden.

»Der ist aber durch den Wind. Nimmt er das mit nach Hause?«

Möhrchen nickte. »Und ob. Kaum wiederzuerkennen, mein Mann.«

»Ich will dann mal. Wir bleiben in Kontakt. Deine Handynummer habe ich ja. Falls mir etwas einfällt oder ganz zufällig vor die Füße klatscht.«

»Ist wohl besser, wenn du gehst. Sollten möglichst wenige mitkriegen, dass du hier warst.«

Wir standen im selben Moment auf und nahmen uns vorm Kopf der Schreibtische in die Arme.

Ich drückte Möhrchen etwas fester als es mir eigentlich zustand an mich.

»Arme Kleine. Arbeitsstress mit nach Haus zu bringen, ist für die anderen immer eine blöde Situation. Lotte kann bestimmt ein Lied davon trällern.«

»Das darfst du laut sagen. Sei bitte vorsichtig, Sigi. Versprich mir das.«

»Versprochen. Bis demnächst.«

Ich gab die kleine Rote frei und verließ das Büro, in dem ich so viele Stunden verbracht und etliche Fälle gelöst hatte. Ein wenig sentimentaler, als ich hergekommen war.

Tod einer Bikerin

Подняться наверх