Читать книгу Tod einer Bikerin - Klaus Heimann - Страница 7
Mordadresse
ОглавлениеIch erwischte eine Straßenbahn der Linie 108. An der Schleife in Bredeney stieg ich aus und ging zur Bushaltestelle hinüber. Dort studierte ich den Fahrplan und wartete eine Weile auf die Linie 169 in Richtung Velbert.
Der Bus kam und ich stieg ein. An der nächsten Ampel bog er auf die Bundesstraße ab. Sie führt zweispurig durch ein Waldgebiet hinunter ins Ruhrtal. Essener nennen diesen Streckenabschnitt gerne Werdener Berg.
Als der Bus nach wenigen Stopps die Ruhrbrücke erreichte, erhaschte ich linkerhand einen Blick auf die Brehminsel, die den Fluss an dieser Stelle in einen Haupt- und einen Nebenarm teilt. Sie ist vom Ufer aus über eine Fußgängerbrücke erreichbar und stellt so etwas wie den Werdener Stadtpark dar. Mit ihr verbinde ich eine sehr persönliche Erinnerung, die ich mit Lotte teile. An der mir zugewandten Schmalseite der Insel, wo eine niedrige Mauer eine Art Aussichtsplattform im Dreiviertelkreis einfasst, hatte ich meine spätere Frau in einem Anflug tiefster Zuneigung zum ersten Mal geküsst. Die Erinnerung daran zauberte mir tatsächlich ein kleines Lächeln auf die Mundwinkel. Wie ein Trottel war ich gestern Nacht in die Bude gestolpert. Lottes aufbrausende Reaktion war aus nüchternem Blickwinkel betrachtet nur zu verständlich.
Beinahe hätte ich in meinem Anflug von Romantik versäumt, den Bus am Werdener Markt zu verlassen. Im letzten Moment sprang ich durch die sich bereits schließende Tür. Knapp geschafft.
Direkt neben der Bushaltestelle führt eine Treppe zur Kirche St. Ludgerus hinauf, deren Vorläufer bereits im 9. Jahrhundert als Abteikirche errichtet worden war. Das wusste ich, weil ich mich mal für die frühe Geschichte Essens mit ihren beiden historischen Kernen interessiert hatte, dem Stift Essen, das für die Töchter des sächsischen Adels gegründet worden war und in der City zu verorten ist, und eben die Abtei in Werden. St. Ludgerus selbst versteckte sich hinter hohen Bäumen.
Lotte und ich unternehmen häufiger Spaziergänge hier im Stadtteil. Allerdings vom Markt aus auf die Altstadt und den Baldeneysee zu. Die Straße, zu der ich heute aufbrach, lag in entgegengesetzter Richtung. Dort war ich tatsächlich bisher nie gewesen. Nicht einmal zu meiner aktiven Zeit bei der Polizei.
Ich folgte dem Klemensborn. Am Ende der Mauer, die das höher gelegene Gelände am linken Straßenrand abfängt, führte mein Weg am barocken Torhaus der ehemaligen Abtei vorbei. Sie beherbergt heute einen Teil der Folkwang Universität der Künste. In ihrer wechselhaften Geschichte waren die Räumlichkeiten der Abtei auch schon mal als Gefängnis genutzt worden.
Wenige Schritte weiter erreichte ich mein Ziel, die Abzweigung in den Wesselswerth. Dort verlangsamte ich mein Tempo und schlenderte die Häuserzeilen entlang. Die Baustile hier zogen alle Register von historisch bis modern. Stuckfassaden wechseln sich mit geglätteten Fronten gleicher Baujahre, unverputzten Ziegelwänden und Nachkriegsbauten aus verschiedenen Jahrzehnten ab.
Das gesuchte Haus lag im letzten Drittels der Straße. Ich stand vor einem Gebäude der vorletzten Jahrhundertwende. In der ersten Etage war vor nicht allzu langer Zeit ein Mord verübt worden. Seitlich führte eine Einfahrt auf einen Garagenhof. Die Haustür war relativ neu – Kunststoff mit Verzierungen, die historische Formen imitierten.
Den Namen »Gertrud Fenger« fand ich unter der oberen Türklingel. Arnfried Nußbaum erwähnte das messingfarbige Täfelchen nicht. Vor der Haustür lag tatsächlich eine Fußmatte. Es kribbelte mir in den Fingern. Ob sie dort immer noch den Schlüssel verwahrten?
Sollte ich … Wie könnte ich dann in die Wohnung von Gertrud Fenger gelangen? Einen Nachbarn unter irgendeinem Vorwand hinausklingeln? Ihn auf die naive Art ausquetschen, um sachdienliche Informationen einzuholen? Leider besaß ich keinen Dienstausweis mehr, der mir Türen und Menschen öffnete.
Ich bremste mich selbst. Was trieb ich hier eigentlich? Meinen Dunstkopf spazieren tragen, ja. Aber was weiter? Was versprach ich mir von diesem Ausflug zum Tatort irgendeines Mordes? Eine plötzliche Entdeckung, auf die der gesamte Polizeiapparat bisher nicht gestoßen war? Eine geniale Momenteingebung?
Sigi Siebert, du bist ein Träumer! Der Alkohol vom gestrigen Abend hat deine Sinne vernebelt. Du bist raus! Die Essener Kapitalverbrechen gehen dich nichts mehr an. Du hast in diesem Haus, in der Wohnung, in der Gertrud Fenger ermordet worden ist, überhaupt nichts zu suchen. Keine Tatortinspektion, keine Zeugenaussagen aufnehmen, keine Beweismittel sichern. Vorbei.
Hin- und hergerissen zwischen diesen Polen, lungerte ich im Wesselswerth herum. Anscheinend machte mich dieses Verhalten verdächtig. Natürlich sind die Leute nach einem Verbrechen, wie es hier verübt worden war, alarmiert und beobachten das Geschehen vor ihren eigenen vier Wänden genauer als sonst. Ein Fenster rechts von der Haustür öffnete sich. Der Mann, der seine Rübe hinausstreckte, war vielleicht fünf Jahre älter als ich. Er musterte mich von oben bis unten. Ich nahm an, es handelte sich um den Großvater der Kinder, für die der Schlüssel unter der Fußmatte lag.
»Was suchen Sie hier?«
Die Wortwahl seiner Frage war unfreundlicher als sein Tonfall. Der Mann ertappte mich auf dem linken Fuß. Mit einer solchen Begegnung hatte ich nicht gerechnet.
Instinktiv trat ich die Flucht nach vorn an. Zu verlieren hatte ich schließlich nichts. »Ich möchte zu Herrn Nußbaum. Der wohnt doch unter dieser Adresse, oder? Ich habe bei Fenger geklingelt, aber da macht niemand auf.«
»Der sitzt«, klärte mich der Mann knapp und nicht ganz korrekt auf.
Ich spann den Faden meiner Scharade weiter. »Wie, der sitzt? Wo sitzt er denn?«
»Im Bau.«
»Um Himmels Willen. Meinen Sie im Gefängnis?«
»Genau.«
Mir gelang es leidlich, den Ahnungslosen zu mimen. »Das ist ja schrecklich. Was wirft man ihm vor?«
»Der hat seine Alte abgemurkst. Erschossen.«
Die Feststellung des liebenswerten Nachbarn traf die Sache natürlich nicht wirklich. Soweit mir Erich gestern Abend erklärt hatte, war Arnfried Nußbaum nachweislich kein Mörder. So schnell verselbständigte sich die Gerüchteküche! Das war mir keinesfalls fremd und in meinem Beruf immer wieder begegnet. Es verriet mir immerhin, dass dieser Wachhund nicht auf Arnfried Nußbaums Seite stand.
Ich blieb bei meiner Strategie, den Mann mit gespielter Ahnungslosigkeit zu locken: »Gibt es denn eine Frau Nußbaum? Ist Arnfried – oder war er etwa – verheiratet?«
»Nee. Verheiratet waren die nich. Vor ungefähr einem Jahr ist der bei Gertrud eingezogen. Gertrud Fenger. Wo Sie geklingelt haben.«
»Und Frau Fenger ist tot?«
»Genau. Die hat er auf dem Gewissen.«
»Ermordet?«
»Sie sagen es.«
Ich kratzte mich am Nacken und zog die Augenbrauen hoch. Zweite Klasse Laienschauspielschule.
»Sind Sie sicher, dass Arnfried etwas mit dem Mord zu tun hat? Wie ich den kenne, kann der keiner Fliege etwas zuleide tun.«
»Hat er aber wohl. Sonst hätten ihn die Bullen kaum in den Bau gesteckt.«
»Wann soll das passiert sein?«
»Zwei, drei Wochen ist das vielleicht her. Warten Sie. Ja genau, Ende Mai war das. Die Zeit rast …«
»Sie müssen verstehen, ich habe Arnfried lange nicht gesehen. Durch Zufall habe ich seine Adresse herausbekommen. Und nun erfahre ich so was …«
»War ein richtiger Schock. Mord unter dem eigenen Dach. Da läuft es einem kalt den Rücken runter.«
»Und sie? Ich meine diese Fenger. Wie lange hat die hier gewohnt?«
»Die war schon hier, als ich mit meiner Frau vor sieben Jahren eingezogen bin. War eine ganz Umgängliche. Manchmal war sie ein bisschen komisch. Wer ist das nicht? Wenn die Kinder im Hof gespielt haben und der Ball aus Versehen gegen ihre Karre flog, dann konnte sie richtig ausrasten. Das war das Einzige, was sie wirklich interessiert hat, diese Maschine. So ein dickes Motorrad, ’ne Honda, glaub ich. Ist jetzt verschwunden.«
»Gestohlen?«
»Keine Ahnung.«
»Wo stand es denn?«
»Das, mein Lieber, geht Sie gar nichts an.«
Das hatte so unfreundlich geklungen, wie die Wortwahl. Wollte ich mehr aus diesem Kerl herauskitzeln, musste ich vorsichtiger sein.
»Entschuldigung. Sie haben ja recht. Ich steh ein bisschen unter Schock, verstehen Sie. Würden Sie dem Arnfried denn einen Mord zutrauen?«
»Ein wenig stiekum, der Knabe. Hat nie viel von sich gegeben. Stille Wasser. Da weiß man nie …«
»Wer hat den Mord denn entdeckt?«
»Meine Frau hatte was mitgekriegt an dem Abend. Die Frauen und ihre übergroßen Ohren! Ganz entfernt hatte ich auch gemeint, etwas Ungewöhnliches gehört zu haben. Wir wohnen ja direkt drunter. Zuerst wollte ich ihr ausreden, die Polizei zu rufen. Aber sie hat darauf bestanden, dass es ein Schuss war.«
»Ich wüsste gar nicht, wohin mit meiner Angst. Haben Sie sonst was mitbekommen? Ist beispielsweise jemand aus der Wohnung geflüchtet?«
»Wir haben uns nicht vorgetraut. Die Holztreppe im Flur ist vorletztes Jahr durch eine Steintreppe ersetzt worden. Da hört man nicht viel.«
»Eine klappende Tür?«
»Wenn jemand hinten rausgeht, kriegen wir nichts mit.«
»Ein aufheulender Motor?«
»Nein. Hören Sie, das wollte dieser Schrank von der Polente auch alles wissen. Dreimal hat der uns bereits gelöchert. Gehören Sie zu dem Verein dazu?«
»Nein, nein«, log ich nicht einmal, denn ich gehörte ja seit Jahren wirklich nicht mehr dazu. »Das mit dem Arnfried haut mich einfach um. So ein lieber Kerl. Ich will es nicht wahrhaben.«
»Dann mal Tschüss. Muss Kartoffeln schälen.«
Der Mann schloss das Fenster und mir schien es ratsam, mich zu trollen. Am Ende würde ich noch angezeigt. Vor diesem Haus erwischen lassen wollte ich mich auf keinen Fall.
***
Nachdenklich ging ich den Wesselswerth weiter hinab. Was hatte ich Neues erfahren?
Zumindest, dass Erich seine Arbeit gemacht hatte, denn mit »Schrank von der Polente« war zweifellos er gemeint gewesen. Es gab keine Zeugen dafür, dass sich zur Tatzeit eine unbekannte Person im Haus aufgehalten hatte. Natürlich könnte auch einer der Mitbewohner der Täter gewesen sein. Etwa dieser Wachhund von gerade? Hatte er gelogen? Ob Erich darauf gekommen war, einer solchen Möglichkeit nachzugehen?
Spekulation. Reine Spekulation. Und eine unwahrscheinliche obendrein. Auf diese Weise kam ich keinen Deut weiter.
Am Ende der Straße entdeckte ich links einen Abzweig, der hinter die Häuserreihe zu führen schien. An einem kleinen Hotel vorbei gelangte ich zu einem Fußweg, der parallel zum Wesselswerth verlief. Auf ihm kehrte ich, tief grübelnd an Gärten und Höfen entlangschleichend, zurück in Richtung Markt.
Der Fußweg mündete in die Brandstorstrße, die ein Stück weiter rechts als Sackgasse endet. Ich stieß auf einen kleinen Turm, halbseitig in den Hang hineingebaut. An einem Tor, hinter dem eine Treppe in den Garten zu seinen Füßen hinabführte, entdeckte ich einen Behälter mit Prospekten. Ich fischte eines der Faltblätter heraus. Es informierte mich darüber, dass ich vor dem Gartenhaus Dingerkus stand, vor über 200 Jahren an dieser Stelle in barockem Stil errichtet. Ein Verein kümmerte sich um seine Erhaltung und Pflege. Man lernt nie aus, was die eigene Heimatstadt angeht!
Ich sah auf die Armbanduhr. Mein knurrender Magen täuschte mich nicht. Die Mittagessenszeit war weit überschritten. Unmittelbar bei der Brücke über die Ruhr gab es eine Imbissbude. Eine Currywurst käme nicht schlecht.
Mit diesem Verlangen auf der Zunge schlug ich drei Haken und stand schon vor dem Betreiber der Imbissbude. Ich bestellte und prompt wurde meine Vision Realität. Auf ein Bier hatte ich aus erfindlichen Gründen keinen Appetit. Stattdessen orderte ich eine Cola. Ich nahm Essen und Getränk über den Tresen entgegen, bezahlte und setzte mich mit Wurst, Pommes und Getränkedose unterhalb der Ruhrbrücke auf eine Bank am Flussufer. Mein Blick fiel wieder auf das Aussichtsrund der Brehminsel. Wie versteckt dieser erste Kuss in meiner Erinnerung geschlummert hatte! Geliebte Lotte!
Es hatte längere Zeit nicht geregnet. Träge floss die Ruhr zu meinen Füßen dahin. Ein Spiegelbild meiner Stimmung. Eigentlich war mein ganzer Ausflug ein hirnloses Herumstolpern und sinnloses Hobbyschnüffeln – stellte ich mir selbst das Attest aus. Ohne persönlich mit Arnfried Nußbaum sprechen zu können, ihm bei meinen Fragen ins Gesicht zu sehen, würde ich nichts, rein gar nichts herausbringen. Warum auch? Ab zu Lotte und das Rentnerdasein genießen!
Die gründlich geleerte Pappschale und die ausgetrunkene Getränkedose wanderten in den bereitstehenden Müllbehälter. Ich verließ die Bank und setzte mich Richtung heimatliche Gefilde in Bewegung. Linie 169 und 108 brachten mich nach Rüttenscheid zurück, wo ich eine Weile im bewegten Geschäftszentrum umherdümpelte, ehe ich nach Hause ging.