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Erinnerungen an die Schulzeit

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Lotte würde gegen vier von der Arbeit kommen. Bis dahin blätterte ich noch etwas in der Zeitung und schlief kurz danach im Sitzen ein. Geweckt wurde ich dadurch, dass unsere Wohnungstür aufgeschlossen wurde.

»Schatz? Ich bin wieder da!« Meine Frau.

Benommen rappelte ich mich hoch. Diese Guido-Abende! Verlangten einem körperlich eine Menge ab.

»Hallo! Sitze im Wohnzimmer!«

Die Hand auf der Türklinke aufgestützt, steckte Lotte ihren Kopf zu mir herein. »Na, Alkohol verdunstet?«

Sie sagte das nicht vorwurfsvoll, eher fürsorglich. So, wie ich meine Angetraute unter normalen Umständen kenne.

»Glaub schon. Ich war zu unvorsichtig gestern. Hätte mit Erich und Möhrchen aufbrechen sollen. Da hatte ich den Kanal voll genug. Aber dann bildet man sich plötzlich die zweite Luft ein. Und Ecki findet selten früh Schluss.«

»Ja, ja. Der Teufel hat den Schnaps gemacht.«

»‘tschuldigung Lotte. Manchmal bin ich schwer zu ertragen, was?«

»Ach, mein Sigi! Trotzdem bist du mir der Liebste von allen Männern!« Lotte kam vollends herein und drückte mir einen Kuss auf die hohe Stirn. Das war Balsam für mein schlechtes Gewissen.

»Du ziehst dich jetzt erst mal um und machst dich frisch. Ich sorge derweilen für Kaffee«, schlug ich vor.

»Einverstanden. Dann müssen wir noch zum Getränkemarkt. Die Kisten im Flur.«

Ach ja, das Leergut. Der sprichwörtliche Anstoß für den Streit gestern Abend!

Zehn Minuten später saßen wir am Küchentisch beisammen, jeder einen dampfenden Pott Schwarzgebräu vor sich. Meine Tasse war die alte aus dem Büro. Die mit der jahrelang gepflegten Coffein-Patina. Wer gewagt hätte, sie zu spülen, hätte ernsthaft Ärger mit mir bekommen. In einen kleinen Karton hatten die privaten Utensilien aus meinem ehemaligen Büro hineingepasst. Ein paar Bilder, die über Jahre gesammelten Zeitungsausschnitte von meinen Großtaten, von denen ich einige unter der transparenten Schreibtischauflage verwahrt hatte, und eben die Tasse. Wehmütig dachte ich daran, wie Erich sie mir aus dem Polizeipräsidium nach Hause gebracht hatte.

»Wie war dein Tag so?«, fragte mich Lotte.

»Ich war in Werden spazieren. Beim Blick auf die Brehminsel musste ich an unseren ersten Kuss denken.«

Lotte lachte auf. »Ja. Nicht mit einem Zaunpfahl, mit dem ganzen Zaun musste ich winken, dass du dich das getraut hast. Alle meine Antennen gingen auf Sendung. War das nicht nach dieser verkorksten Geburtstagsparty bei diesem, diesem, … na wie hieß er gleich? Die im Keller, draußen in Heidhausen.«

Ich besaß keinerlei Erinnerung an eine Geburtstagsparty. »Hää?«

»Na, dieser Schulkollege von dir. Wir waren nur dieses eine Mal dort. Der war scharf auf mich. Ständig hat er mich angeglotzt. Ein Langweiler, der Typ. Lief den ganzen Abend mit einer Kamera herum. Hinter der hat er sich versteckt, damit er bloß nicht mit einem der Mädchen tanzen musste. Sag schon den Namen …«

»Da herrscht nur Leere in meinem Oberstübchen.«

»Der hatte, so jung er war, erste Anzeichen einer Glatze. Dunkle Haare. Jetzt weiß ich: Arnfried hieß der. Arnfried Nass…, Nos… , …«

Endlich fiel bei mir der Groschen. Und wie er fiel! Das Klingeln von gestern Abend!

Ich schrie beinahe, als ich den gesuchten Namen aussprach: »Arnfried Nußbaum!«

»Ja genau. So hieß er! Dass ich nicht gleich darauf gekommen bin. Arnfried Nußbaum. So einen verdrehten Namen vergisst man doch nicht.«

Ich anscheinend schon.

Lotte besitzt ein phänomenales Gedächtnis, was Personen und Namen angeht. In meinem beruflichen Umfeld hatte ich einen ähnlichen Level erreicht. Aber im Privaten war ich diesbezüglich eine echte Niete.

Es war nicht zu fassen. Arnfried Nußbaum. Ich kannte den Lebenspartner der Ermordeten aus meiner Schulzeit. Und erst Lotte hatte mich darauf gebracht. Na klar, der langweilige Arnfried mit den schütteren Haaren. Ich war seinerzeit nur zu seiner Party gegangen, weil Lotte und eine ihrer Freundinnen ebenfalls eingeladen gewesen waren. Bei anderer Gelegenheit hatte ich mich ein wenig in diese Freundin verguckt. Dass ich dann bei Lotte andocken würde – manchmal spielt das Schicksal den Paarvermittler.

Wie es unter uns Jungs üblich war, hatten wir uns regelmäßig über die Bräute unserer Hemisphäre ausgetauscht. Wo sie wohnten, wohin sie gingen, ob sie leicht zu stürmen oder von spröder Natur waren. So war ich bestens über die Mädchen informiert gewesen, die zu Arnfrieds Geburtstag eingeladen worden waren. Ich durfte mich nicht zu seinem engeren Freundeskreis zählen und hatte ihn erst anquengeln müssen, bis ich kommen durfte.

Wie ein Fremdkörper war Arnfried auf seiner eigenen Party herumgestolpert. Er hatte sich nicht getraut, eines der Mädchen anzubaggern. Seine weiblichen Gäste waren bald mit anderen Jungs beschäftigt gewesen. Ganz züchtig, versteht sich. Alles andere hätten Arnfrieds Eltern, die jede Viertelstunde unter irgendeinem Vorwand in der Kellerbar aufgetaucht waren, sofort unterbunden.

Lotte und mir hatte die ganze Atmosphäre nicht gefallen. Zu meinem Leidwesen knutschte ihre Freundin mit einem anderen herum, einem echten Adonis. Dass mir nur der Rückzug blieb, sah ich schnell ein. Ich schnappte mir die zweitbeste Lösung, brach mit meiner heutigen Gattin sehr zeitig auf und versprach ihr, sie nach Hause zu bringen. Das hielt ich auch – vier Stunden später erreichten wir ihre Wohnadresse in Stadtwald.

Wir waren an diesem lauen Sommerabend spazieren gegangen und vorn auf der Brehminsel, auf der Aussichtsplattform, hatte es zwischen uns gefunkt. Der erste Kuss. Dass ausgerechnet dieses Mädchen zu meiner Lebensgefährtin werden würde und das mittlerweile über vierzig Jahre – daran hätte ich damals nie geglaubt.

»Weiß du noch, wie sich seine Eltern angestellt haben, dass bloß nichts Unsittliches unter ihrem Dach vorging«, erinnerte sich Lotte.

Plötzlich kam alles wieder hoch. Ganz frisch.

»Als sie deine Freundin in den Armen dieses Adonis entdeckten, haben sie die beiden tatsächlich auseinandergezerrt.«

»Die süße kleine Sophie. Dieses Biest hat sich jedem an den Hals geschmissen.«

Oh. Hatte ich damals doch eine Chance vergeben? Halt deine Zunge im Zaum, Sigi. Kein Wort gegenüber Lotte!

»Ja. Jetzt erinnere ich mich wieder. Der schüchterne, unscheinbare Arnfried Nußbaum. Was für ein bekloppter Zufall! Das ist der, dessen Lebensgefährtin ermordet worden ist, während er besoffen nebenan im Schlafzimmer gekokst hat. Stand vor ein paar Wochen in der Zeitung. Erich arbeitet daran.«

»Arnfried ist in einen Mord verwickelt?«

Ich erzählte Lotte alles, was ich darüber wusste. Dabei vermied ich tunlichst, die Verbindung meines Ausflugs nach Werden mit dem Ansinnen, das Mordhaus aufzusuchen, zu beichten.

Aber wer Lotte kennt, der weiß, dass dieses Geheimnis nicht lange ungelüftet bleiben konnte. »Deshalb warst du heute in Werden unterwegs? Sigi, Sigi. Dass du mir nicht wieder Dummheiten machst. Denk an Namibia!«

Ich schämte mich dafür, ertappt worden zu sein. Lotte, diese Füchsin. Ich würde es wohl nie fertigbringen, etwas nachhaltig vor ihr zu verbergen.

»Keine Sorge«, versprach ich leichtsinnig, »darüber bin ich weg.«

»Das will ich gemeint haben. Jetzt aber dalli. Ab zum Getränkemarkt.«

Ich schleppte das Leergut zu unserem Auto und wir fuhren los. Das Fahren ist Lottes Job, denn ich hatte es lange aufgegeben. Vor vielen Jahren schon. Frage mich niemand, warum ich keinen Versuch mehr unternommen habe. Ich kann es nicht erklären.

Unterwegs kamen weitere Erinnerungen an Arnfried Nußbaum hoch. Ein Musterschüler war er gewesen. Bei keinem unserer Streiche hatte er mitgemacht. An ein kleines Wunder hatte es für uns gegrenzt, dass ihm die Eltern diese Geburtstagsparty im Keller erlaubt hatten. Es blieb das einzige Mal. Er war ständig der Beobachtung seiner Mutter ausgeliefert gewesen. Völlig unbegründet, harmlos wie mir sein Verhalten rückblickend erschien. Ob seine Fantasie ebenso unschuldig war, das konnte ich natürlich nicht beurteilen. Genauso wenig wie Einflüsse, die später gegebenenfalls Spuren in seinen Lebenslauf gegraben hatten.

Und so keimte, befeuert durch die persönliche Beziehung zu einem in den Werden-Fall Verwickelten, ein neuer Antrieb in mir auf, mich damit zu befassen. Ich war neugierig darauf, wie es meinem langweiligen, neunmalklugen Schulkameraden Arnfried Nußbaum über die Jahre ergangen war. Schließlich hatten ihn uns die Lehrer mehr als einmal zum Beispiel empfohlen. Diese Neugier an der Person mischte sich unselig mit meiner erwachten kriminalistischen Neugier.

Später redete ich mir gerne ein, es wäre mir um Arnfried gegangen. Nein, so war es nicht. Auch, wenn ich das lieber als Schutzschild vor mir hergetragen hätte. Von Anfang an war es mir um die Aufklärung eines undurchsichtigen Falls gegangen. Darum, mir und anderen ein weiteres Mal etwas zu beweisen.

Nur darum!

In den nächsten Tagen gelang es mir trotz des neuen Antriebsmoments ganz gut, die Gedanken an den Mord in Werden auszublenden. Wie sollte ich auch Weiteres herausbringen? Ein Herumfragen in der Wesselswerther Nachbarschaft hätte mich nur verdächtig gemacht. Ich ließ es lieber.

Das Wetter blieb stabil, sommerlich warm, und ich brach stattdessen zu ein paar Radtouren auf. Ganz für mich alleine. Am Wochenende besuchte ich gemeinsam mit Lotte Bekannte im Willinger Upland. Zusammen unternahmen wir herrliche Wanderungen über die Höhenzüge. Die Gedanken an den Werden-Fall wurden überdeckt von fröhlichen Gesprächen, deftiger Kost, selbstverständlich etlichen Bierchen, dem einen oder anderen Schnaps und Ausblicken in die Upländer Natur.

Am Montag hatte Lotte freigenommen und so wurde es ein verlängertes Wochenende. Heim ging es nach dem Frühstück mit den Bekannten und einer letzten Wanderung, die ich nur mit Lotte unternahm, am späten Montagnachmittag.

Tod einer Bikerin

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