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Im Frühjahr 1740 wurde für den 19-jährigen venezianischen Architekturadepten Giovanni Battista Piranesi ein Traum zur Wirklichkeit. Er betrat im Gefolge von Francesco Vernier, den die Signoria der Serenissima als Botschafter zu dem soeben neu gewählten Papst Benedikt XIV. gesandt hatte, Rom, um die Bauten der Alten zu studieren. Die ewige Stadt sollte ihn Zeit seines Lebens gefangen halten.

Piranesi kannte das antike Rom aus den Zeichnungen seines Landsmannes Andrea Palladio, welche bei seinen Architekturstudien als Lehrmaterial dienten. Auch hatte ihm sein Bruder, der Kartäusermönch Angelo, immer wieder von den heroischen Gestalten und Ereignissen der römischen Geschichte berichtet und ihm häufig aus dem Geschichtswerk des Livius vorgelesen. Rom hatte dabei seine Phantasie so sehr entzündet, dass ihm seine Bauten und Gestalten nachts schon im Traum erschienen waren. Wiewohl es in seiner Heimatstadt nicht an Wundern der Architektur fehlte, war ihm die Größe und Faktur der römischen Bauten aber immer rätselhaft erschienen. Es verlangte ihm daher danach, sie mit eigenen Augen zu sehen und ihr Geheimnis zu entschlüsseln. Hierzu wollte er, die bauliche Hinterlassenschaft der Alten zunächst einmal zeichnerisch aufnehmen und sie in einer Weise in Kupfer stechen, die ihrer „magnificenza“ gerecht würde. Im Übrigen wollte er möglichst auch noch den Beweis führen, dass die Architektur der alten Römer und überhaupt ihre Kunst gegenüber der griechischen eigenständig, ja ihr sogar überlegen sei. Es war ihm also nur allzu willkommen, dass er sich der Gesandtschaft anschließen konnte, die seine Heimatstadt an dem Tiber schickte.

Als sich Piranesi der Stadt Rom näherte, stand vor ihm das Bild einer erhabenen und majestätischen Baukunst von nie übertroffener Festigkeit und Vollkommenheit. Alles, so schien es ihm, war hier so, wie es zu sein hatte, jeder Teil war dort, wo er hingehörte und notwendiger Ausdruck eines Ganzen, das, wiewohl nie mehr als die Summe seiner Teile, über sich das Bild wahrer Größe aufscheinen ließ.

Die Wirklichkeit freilich hielt dieser Vorstellung nicht stand. Piranesi fand die Überreste der antiken Bauten meist weit weniger vollständig und wohlerhalten, als es die peniblen Zeichnungen Palladios suggerierten. Viele waren in Wehranlagen der ewig befeindeten römischen Stadtgeschlechter aus dem Mittelalter versteckt, waren in Kirchen eingebaut oder lagen unter Palästen aus neuerer Zeit. Soweit Gebäude noch über ein Dach verfügten, dienten die alten Räumlichkeiten häufig Handwerkern und sonstigen Gewerbetreibenden als Arbeitsstätte oder Lagerraum. Eines Tages etwa geriet Piranesi mit dem französischen Ruinenmaler Hubert Robert, mit dem er sich, da man das Interesse an den alten Resten teilte, angefreundet hatte, in eine weiträumige düstere Basilika, wo Wäscherinnen unter kassettierten Tonnengewölben, welche von einer Vierungskuppel unterbrochen waren, für die hohen Herren der Stadt bei offenem Feuer und großer Rauch- und Dampfentwicklung riesige Laken in einem Zuber kochten, die sie anschließend zwischen mächtigen Säulen zum Trocknen aufhängten. Was von den alten Bauten nicht auf diese Weise zweckentfremdet, was nicht gänzlich umgestaltet oder abgetragen war, lag versunken im Schutt der Jahrhunderte, aus dem nur hier und da verwitterte Reste ragten. Ein Römergeschlecht, das wenig gemein hatte mit dem Heldenvolk, das diese Bauten erstellt hatte, hauste dazwischen samt allerhand Getier in Unterkünften, die aus vorgefundenen Steinquadern und Ziegeln zusammengestückelt waren, zwischen denen hier und da Säulentrommeln oder behauene Sims- und Gebälkteile steckten. Auf dem Forum Romanum, auf dem einstmals Weltpolitik gemacht wurde, weidete man Vieh, weswegen es „campo vaccino“, Feld der Kühe, genannt wurde.

Piranesi nahm im Stadtgebiet so gut wie jedes antike Gemäuer auf, dessen er habhaft werden konnte, und bannte es – in begleitenden Texten streitlustig immer den Vorrang der Römer vor den Griechen betonend – mit dramatischen Licht- und Schatteneffekten detailreich auf die Kupferplatte. Nach Art seiner Profession arbeitete er dabei einerseits penibel mit Bandmaß, rechtem Winkel und Zirkel. Von den perspektivischen Bühnenzaubereien der Bibienas, die er schon in den Opernhäusern seiner Heimatstadt kennen gelernt hatte, und den Deckengemälden in den neueren römischen Kirchen, allen voran der ins Unendliche strebenden Himmelsarchitektur des Andrea Pozzo in St. Ignazio, hatte er aber auch gelernt, wie man durch eine freie Handhabung von Linien und Winkeln die „magnifizierende“ Wirkung der Abbildungen erhöhen konnte. Das Kolosseum etwa stellte er nicht nur so dar, dass es sich vor dem Betrachter wie ein gigantischer architektonischer Organismus aufbläht, neben dem der Titusbogen wie ein Schoßhündchen wirkt. Er dehnte die elliptische Form der Arena dabei dergestalt zur Hyperbel, dass ihre Arkaden ins Unendliche zu führen schienen.

Auch außerhalb der Stadt war Piranesi auf den Spuren der Alten. Er hielt sich vor allem immer wieder in Tivoli auf, das schon im Altertum, als es – noch weniger spielerisch – Tibur hieß, die Menschen angezogen hatte, welche sich fern des Getriebes der Weltstadt auf das wahre Leben zu besinnen versuchten. Dort radierte er mehrfach den grandios über den Wasserfällen des Anio thronenden Rundtempel der Sybille und – in gerader Linie suggestiv in die Tiefe des Bildraumes führend – die Auch außerhalb der Stadt war Piranesi auf den Spuren der Alten. Er hielt sich vor allem immer wieder in Tivoli auf, das schon im Altertum, als es – noch weniger spielerisch – Tibur hieß, die Menschen angezogen hatte, welche sich fern des Getriebes der Weltstadt auf das wahre Leben zu besinnen versuchten. Dort radierte er mehrfach den grandios über den Wasserfällen des Anio thronenden Rundtempel der Sybille und – in gerader Linie suggestiv in die Tiefe des Bildraumes führend – die mächtigen übereinander stehenden Bogenreihen eines Heiligtums am Rande der Schlucht des Anio, welches man für die Substrukturen der Villa des Mäzenas hielt, wobei er seiner Neigung, mit unendlicher Akribie auch die feinsten Schattierungen und Lichtbrechungen zerfallenden Mauerwerks festzuhalten, hier in besonderem Maße freien Lauf ließ.

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An der Via Tiburtina nahm er den Rundbau des Plautiergrabes mit seinen großen Ehrentafeln auf und steigerte die Größe des Todesmonumentes durch die Verwendung divergierender Maße ins Übermenschliche. Am meisten zog ihn aber das Gelände des Landsitzes an, welchen der Kaiser Hadrian gegen Ende seines Lebens nach eigenen Entwürfen unweit von Tivoli bauen ließ.

Hadrian, unter dem Rom, davon war Piranesi überzeugt, den Höhepunkt seiner Macht, seiner Zivilisation und seiner Gestaltungskraft erreichte, Hadrian war sein Lieblingsheld, weswegen auf seinem Arbeitstisch immer ein Stück der bunt geäderten Marmorinkrustation der tiburtinischen Villa lag. Als Architekt, der nur wenige Bauaufträge bekam – es waren sogar bloß Umbauten -, war Piranesi schon davon fasziniert, dass der bärtige Philosoph im Staatsamt auf seinen jahrelangen Inspektionsreisen, bei denen er zu Fuß bis in die fernsten Winkel seines Riesenreiches vordrang, nicht von Soldatenkohorten, sondern von „Regimentern“ von Bauhandwerkern begleitet wurde, deren „Offiziere“ Architekten waren, und dass er dieselben überall, wo er Halt machte, prachtvolle Bauten errichten oder wiederherstellen ließ. In besonderem Maße war er davon beeindruckt, dass und vor allem auf welche Weise dieser milde Herrscher sein außerordentliches Leben schließlich in einem Bauwerk resümierte. Der weit über die hügelige Landschaft verstreute Villenkomplex hatte in verkleinerter Form alles, was für einen Römer zum gehobenen Leben gehörte – Theater, Odeon, Basilika, Arena, Stadion, Seen, Tempel, Wandelhallen und Thermen, einen Saal der Philosophen und je eine römische und eine griechische Bibliothek. Vor allem aber war die Villa voller Erinnerungen an Orte, Menschen und Gegenstände, die im Leben des Kaisers wichtig geworden waren. Man fand hier Nachbildungen von Bauwerken, die er auf seinen Reisen besucht hatte, etwa des berühmten Osiristempels von Canopus in Ägypten samt einer verkleinerten Kopie des dortigen Kanals, der malerisch von Statuen und Säulen umstanden war. Überall standen Abbilder von Göttern, die er verehrte, oder Personen, welche er liebte, allen voran des vergötterten und vergöttlichten schönen Jünglings Antinous, der auf einer seiner Reisen bei einem Bad im Nil ertrunken war. All das veredelten ausgesuchte Bauornamente und zahllose Kunstgegenstände nach dem Muster der Meister, die im Bereich seines Reiches einmal tätig gewesen waren, darunter wunderbar gearbeitete Kandelaber, feinste Mosaiken sowie herrliche Gemälde und Fresken. Im Laufe der Zeit war so ein Bauwerk entstanden, das so vielfältig und einheitlich wie das römische Reich und zugleich so reich und unsymmetrisch wie das Leben war. Piranesi schien, dass Hadrian mit diesem Bau ein Werk geschaffen hatte, das wie kein anderes die feste Schönheit der römischen Kunst und überhaupt den ganzen Glanz einer Welt spiegelte, die sich im Laufe ihrer Zeit in immer wieder ähnlicher Weise reproduziert hatte.

Als Kupferstecher pilgerte Piranesi häufig nach Tivoli und wetteiferte mit Hubert Robert, um die stimmungsvollste Darstellung der eigentümlichen Verbindung, welche Architektur und Landschaft, steinerne Artefakte und lebendige Natur, an diesem verwunschenen Ort eingegangen waren. Ihn faszinierte vor allem, wie sich die organische Natur immer wieder gegen den menschlichen Gestaltungswillen zu behaupten wusste. Er radierte Gewölbereste, die von Schlingenpflanzen und Wurzeln umwachsen mit prekärer Statik in den Himmel ragen und



und endlose, von allerlei Gräsern und Büschen überwucherte Mauern, welche weit in die Tiefe derLandschaft laufen.

Überhaupt befasste er sich gerne mit den in sich kreisenden Abläufen der Natur, auf die man hier in den unterschiedlichsten Formen stieß. Auf einem seiner größten Stiche rekonstruierte er die reich gegliederte Stuckdecke eines „grandiosen Saales“ der Villa, deren Kassetten von Fabelwesen und Tieren bevölkert waren, die wiederum Tiere und Fabelwesen jagten und auffraßen.

Es war zwar immer ein aufregendes Abenteuer, wenn es Piranesi gelang, aus dem Schutt der Villa Kunstwerke und andere Gegenstände zu ziehen, die dem Kardinal d`Este entgangen waren, der das kaiserliche Landhaus in einer früheren Runde des Wiederauflebens der Antike für den Bau seiner prächtigen eigenen Villa in Tivoli geplündert hatte. Was ihn bei aller Entdeckerfreude aber am meisten bewegte, war die Frage, wie dieser singuläre Baukomplex, der doch von jener Festigkeit war, mit der die Römer wie für die Ewigkeit bauten, in einen derart elenden Zustand geraten war. Wer konnte, fragte er sich immer wieder, wer wollte dieses wunderbar lebensvolle Menschenwerk so fürchterlich zerstört haben?

Wahrscheinlich war diese brennende Frage, die hinter all seiner außerordentlichen geschäftlichen und künstlerischen Aktivität schwelte, der Grund dafür, dass Piranesi bei seinen Forschungen nie das Gefühl losgeworden war, den Zugang zum Geheimnis der Stadt noch nicht gefunden zu haben. Das eigentliche Rom, sagte er sich immer wieder, konnte nicht das wundersam verbaute und verwachsene Sammelsurium aus antiken Resten, neueren Prachtbauten und elenden Behausungen sein, das offen zu Tage lag. Das wahre Rom musste eine völlig andere Dimension haben, es musste unter der schillernden Oberfläche der verkommenen Gegenwart liegen, dort, wo spätere Generationen wenig oder nichts hinzugefügt oder weggenommen hatten. Der Schlüssel zum Rätsel des alten Zentrums der Welt lag, davon war Piranesi schließlich überzeugt, in der Tiefe der Stadt.

Mit diesen Gedanken streifte Piranesi von seinem Quartier auf der Via del Corso, der wie mit dem Lineal durch das Gewirr der Gassen gezogenen alten Schlagader Roms, durch die Stadt, um die Absichten der alten Baumeister aus den Fundamenten abzuleiten. Er stieg in Krypten und Keller hinab, zwängte sich durch verschüttete Gänge und betrat halbeingestürzte Gewölbe. Geradezu magisch zog ihn die subterrane Welt der Grabkammern an, die er in zahlreichen Abbildungen erfasste. Wo er nicht in die Tiefe vordringen konnte, schloss er aus dem, was über der Erde war, auf das, was sich darunter befinden musste. Immer wieder rekonstruierte er in liebevoll ausgearbeiteter Zeichnung die vermuteten Subkonstruktionen von Brücken, Theatern, Tempeln und Gräbern, die er für nicht weniger aufwändig und vollkommen ausgeführt hielt, als das, was über der Erde stand oder einmal gestanden hatte. Die Fundamente der Engelsburg etwa zeichnete er so grandios wie ihm die Figur Hadrians erschien, dessen gigantisches Grabmal sie einst war.

Er stellte sie als machtvolle symmetrische Kaskaden aus Stütz- und Querbögen dar, die tief unter das Niveau des Tibers führten. Zwischen die riesigen Quader platzierte er winzige Gestalten, welche die gewaltigen Substrukturen verwundert als Relikte einer Zeit anstarren, deren Maßstäbe ihnen völlig rätselhaft erscheinen. In besonderem Maße beschäftigte ihn die subterrane Meisterleistung der römischen Ingenieure am Albaner See, die den Wasserstand des abflusslosen Kratersees über einen noch immer funktionierenden Tunnel regulierten, den man über einen Kilometer durch den Kraterrand getrieben hatte. Minutiös erforschte er die Arbeitsweise der alten Tunnelbauer und stellte sie in stimmungsvollen Bildern dar. Eine der Wasserkammern des Ablasses bildete er als verfallenes Gewölbe mit allen Attributen eines antiken Palastes ab, in der nach Art seines Lehrmeisters Salvator Rosa Gestalten mit dramatischen Gesten zwischen wirr umher liegenden und von zerzausten Gewächsen überwucherten Architekturteilen agieren.


Piranesis Räume

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