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IV

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Nachdem sie weitere Zeit in der Gebäudewüste umhergeirrt waren, wurde den beiden immer deutlicher, wie Recht die junge Frau mit ihrer Warnung vor der Ähnlichkeit der Raumelemente gehabt hatte. Denn obwohl sie glaubten, sich von ihrem Ausgangspunkt entfernt und neue Räume betreten zu haben, stießen sie immer wieder auf den Faden. Salametti schimpfte laut über Huhn und Ei und verfluchte das Schicksal, welches ihn in diese unendlichen Hallen und Gänge verschlagen habe. Piranesi setzte sich verzweifelt auf einen Pilaster aus Marmor, der am Boden lag, und versuchte sich Klarheit über die Lage zu verschaffen.

„Wir bewegen uns immerfort“, stellte er fest, „ohne dass wir fortzuschreiten scheinen. Unser Weg gleicht daher dem des Mäander, einem Fluss, der in Kleinasien, was einmal Kernland des römischen Reiches war, durch eine weite Ebene kurvt, ohne recht vorwärts zu kommen. Er fällt sogar, in dem er sich weit in die Ebene ausbreitet, immer wieder hinter den Fortschritt zurück, den er schon hinter sich hat. Diese Art der Bewegung erscheint uns sinnlos. Vielleicht passt sie aber zu diesem Raum. Den Alten, die diese Räume gebaut haben, war diese Bewegung sehr vertraut. Sie schmückten ihre Bauten daher gerne mit Mäanderfriesen. Ich habe sie in Rom und seiner Umgebung immer wieder gefunden und schon oft abgebildet.

„Was meinst du mit Mäanderfriesen?“, fragte Salametti.

“Es sind Bänder, bei denen aus einer größeren Form eine kleinere wächst, die wieder größer wird, um eine weitere kleinere zu gebären und so fort. Für die Alten waren sie ein Symbol dafür, wie sich das Neue in alle Ewigkeit immer wieder aus dem Alten entwickelt.“

„Wie Huhn und Ei“, stellte Salametti fest und fuhr, nachdem er eine Zeit lang die andere Seite des Pilasters gemustert hatte, auf dem Piranesi saß, fort: „Oder wie die Pflanze, die jemand schön eingerahmt in diesen Stein gemeißelt hat. Sie zieht sich den Pilaster entlang, treibt dabei zu beiden Seiten Verzweigungen aus, wächst aber dennoch spiralförmig immer weiter.“

Piranesi stand auf und betrachtete die andere Seite des Steins. „Eine wahrhaft erstaunliche Akanthusranke“, rief er aus. „Wunderbar wie der Stamm unten aus üppigem Blattwerk herauswächst, sich die Nebenzweige in prallen Blütensternen sammeln und zu prächtigen Fruchtständen einrollen.“

„Du scheinst diese Pflanze gut zu kennen.“

„Ich bin einigermaßen vertraut mit dem Ornament, das aus der Gattung der Akanthusgewächse entwickelt wurde. Es stammt ursprünglich von den Griechen und soll sich, wie ich gehört habe, auf dem ganzen eurasischen Kontinent und selbst auf abgelegene Eilande am Rande der Welt verbreitet haben. Es ging mit Alexander dem Großen nach Baktrien und Indien und von dort weiter nach Osten bis an den Rand des großen Meeres, bis an welches sich der indische Geist ausgebreitet hat. Seine Allgegenwart macht es zum Zeichen dafür, wie Lebensformen dieses Kontinentes, die weit auseinander zu liegen scheinen, untergründig miteinander verbunden sind.“

„Wenn es überall zu finden ist, dann haben es sicher auch die Römer gekannt.“

„Selbstverständlich. Die Römer schmückten ihre wichtigen Bauten mit diesem Ornament vor allen in der Kaiserzeit, deren gediegene Opulenz, aber auch deren Sinnlichkeit es sehr treffend zum Ausdruck bringt. Nicht selten wuchs die Ranke aus dem Schwanz von Löwen, Greifen und sonstigen Fabeltieren oder nach Art der Meerjungfrauen aus dem Unterleib eines Engels.“

„Wie Huhn und Ei.“

„Allerdings habe ich selten eine Akanthusranke gesehen, die plastischer und reicher gestaltet gewesen wäre, als diese. Auch die Bordüre in Form einer Akanthusblattwelle ist meisterlich gearbeitet. Der Pilaster könnte aus der Villa des Hadrian stammen. In seinem für die Kunst so glücklichen Zeitalter hat man derart edle und sorgfältige Arbeiten hergestellt. Ich muss davon unbedingt eine Zeichnung machen.“ Damit zog er Papier und Stift aus seiner Tasche und warf mit großer Schnelligkeit eine Skizze auf das Blatt.

„Deine Zeichnung ist nicht sehr genau“, sagte Salametti, der ihm über die Schulter sah.

„Die Ausarbeitung mache ich in meinem Atelier. Ich mag es nicht, wenn meine Vorstellung durch die Vorzeichnung zu sehr eingeengt ist.“

“Hoffentlich stimmt dein Bild dann auch noch mit der Wirklichkeit überein.”

“Auf meine Weise schon.”

„In der Ranke tummeln sich alle möglichen Tiere“, stellte Salametti nun fest. „Ich sehe Heuschrecken, Bienen, Eidechsen, einen Adler, der eine Schlange gefangen hat, und allerhand sonstige Vögel, ja sogar ein Vogelnest mit Jungen.“

„Die Akanthusranke war für die Alten nicht zuletzt ein Symbol für das pralle Leben, das für sie ganz diesseitig zunächst einmal Werden und Vergehen war. Deswegen findet sich ein besonders lebensvolles Exemplar der Ranke am Tempel der Venus Genetrix, welcher zu Zeiten Hadrians nahe dem Kolosseum für die Liebesgöttin als der Stammmutter Roms erbaut wurde.“

„Die Liebesgöttin war die Stammmutter Roms? Irgendwie habe ich es immer geahnt. Jetzt wird mir klar, warum der Name der Stadt rückwärts gelesen Amor lautet.“

„Sehr schöne Beispiele der Ranke, gerade solche mit Tieren, die eher selten sind, gibt es auch in Aphrodisias, einer Stadt, die an einem Nebenfluss des Mäander liegt. Aphrodisias erlebte seine Blütezeit ebenfalls während der Regierung Hadrians, der den Ausbau der Stadt und ihres überaus reich geschmückten Aphroditetempels großzügig unterstützte. Der Kaiser kam sogar persönlich hierher, um an den Festspielen und Wettkämpfen zu Ehren der Göttin teilzunehmen, die hier alljährlich stattfanden.“

„Der Schnörkel und seine Verwendung fangen an, mir zu gefallen, vor allem wenn ich mir vorstelle, welche Spielchen in Aphrodisias unter den bewegten Ranken des Akanthus sonst noch stattgefunden haben mögen. Schon der Name der Stadt läuft mir wie feinstes Olivenöl hinunter. Erzähle weiter. Was ist aus dem Ornament später geworden?“

„Dem christlichen Mittelalter, in dem man vor allem Jenseitiges, nämlich ewiges Leben wollte, war die lebensvolle Ranke natürlich suspekt. Man hat sie daher durch die vermeintlich geistigere Weinrebe ersetzt, weil, wie das Evangelium Johannes berichtet, Jesus damit sich und seine Anhänger verglichen haben soll.“

„Und dabei ist aus der Stadt der Liebesgöttin sicher die Stadt der göttlichen Liebe geworden.“

„In Aphrodisias trat an die Stelle der Göttin der Liebe der Liebe Gott. Den betörenden Namen der Stadt hat man ausgelöscht. Um jede Erinnerung an die anziehende Göttin zu tilgen, nannte man die Stadt nicht etwa Agapepolis, also Stadt der göttlichen Liebe, sondern rauh und abweisend Stauropolis, Stadt des Kreuzes. An die Stelle der biegsamen Akanthusranke trat nun das linienstarre Kreuz. Die Spiele und alle sonstigen Spielchen wurden verboten und der offene Tempel der Aphrodite durch allerhand Umbauten in eine geschlossene christliche Basilika verwandelt, worunter sein Charme, wie man sich vorstellen kann, nicht unerheblich gelitten hat.“

„Wie ging es weiter mit der Akanthusranke?“

„Als man tausend Jahre später begann, sich wieder mehr für die Alten und das wirkliche Leben zu interessieren, hat sie erneut Pilaster, Architrave und Bögen und überhaupt alle möglichen Gegenstände überwuchert, welche die Menschen liebten. Ich besitze Säulen, Tafelaufsätze, Vasen, Teller und allerhand Schnitzereien aus neuerer Zeit, die mit der Ranke wunderbar geschmückt sind.“

„Vielleicht ist unser Weg wie diese Ranke, die bei allen Verzweigungen stets weiter kommt und offenbar auch sonst nicht tot zu kriegen ist.“

„Den Alten kam es bei ihren Friesen nicht darauf an, dass die Bewegung voran geht“, wandte Piranesi ein. „Dies zeigen gerade die Mäanderfriese. Es gibt nämlich auch solche, in denen eine mäandernde Bewegung mit einer gegenläufigen Bewegung gleicher Art verwoben ist. Ich fürchte, dass die Akanthusranke nur ein Nebenprodukt des Mäanders ist und wir uns in diesem Raum nach Art der Doppelmäander zugleich vorwärts und rückwärts bewegen.“

„Wieder wie Huhn und Ei“, sagte Salametti. „Man kann beim Huhn nach vorne an das Ei denken, das es legen wird, oder zurück an das Ei, aus dem es gekommen ist. Letztendlich geht das Leben aber, wie die Ranke und selbst der windungsreichste Fluss, doch nur in eine Richtung und in die sollten wir gehen. Lasst uns also weiterlaufen. Der Faden wird uns schon helfen.“ Damit packte er Piranesi am Arm und zog ihn hinter sich her.

„Die Dinge sind nicht so einfach, wie du denkst. Wir haben den Faden über unzählige Architekturteile und daher ziemlich unregelmäßig verlegt. Außerdem sehen wir ihn immer nur bis zur nächsten Ecke und vielleicht noch ein paar Strecken hier und dort. Der Faden gibt keinen Überblick. Wir können mit ihm nur alle Einzelheiten wiederholen oder deren Wiederholung vermeiden, was nichts anderes ist, als neue Einzelheiten zu finden. Nie wird uns der Faden einen erhöhten oder gar wegweisenden Standpunkt geben. Der Faden hätte uns nur geholfen, wenn wir ihn im Pilasterraum oder schon am Ausgang der Cloaca maxima befestigt hätten.“

„Wir werden den richtigen Standpunkt finden, wenn wir ihn brauchen“, beendete Salametti das Gespräch.

Piranesis Räume

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