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II

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Eines Tages hatte sich Piranesi im Gewirr von Schiffen, Wäschern und Getier am Tiberufer nahe der Ponte Rotto verloren, als er unterhalb der Reste des kleinen runden Herkulestempels, der dort steht, auf drei übereinander liegende, akkurat gefugte Quaderbögen stieß.

Es war dies der Auslass der Cloaca maxima, die Stelle, an der einst der gesammelte Unrat und der Ausschuss der antiken Metropole in den Fluss gelassen wurde, der ihn in das Meer schwemmte, wo er sich in der Unendlichkeit auflöste. Der Eingang zu diesem Bauwerk, das die subterrane Voraussetzung für die Möglichkeit der Riesenstadt und damit so etwas wie die negative Schlagader Roms darstellte, war von Gebüsch halb zugewachsen und durch allerlei Müll und angeschwemmtes Holz versperrt. Piranesi, der wissen wollte, wie weit man in den alten Kanal noch vordringen konnte, bog das Gebüsch beiseite und begann das Holz weg zu räumen. Dabei schreckte er ein bunt geschecktes Huhn auf, das ihn eine Zeit lang hektisch umflatterte, als wolle es ihn dran hindern, sich dem Kanal zu nähern. Nachdem er sich eine kleine Öffnung geschaffen hatte, betrat er einen penibel gemauerten, langen Gang, in dem er sich, immer wieder über am Boden liegende Gegenstände stolpernd, langsam entlang tastete. Der Gang schien vollkommen gerade zu sein. Piranesi, der die Strassen und Gebäude der Umgebung samt ihren Fundamenten durch seine Studien genau kannte, versuchte sich vorzustellen, unter welchem Teil der Stadt er sich jeweils befand. Nach einiger Zeit musste er jedoch feststellen, dass er die Orientierung verloren hatte. Dort wo er zu sein glaubte, konnte wegen der tief reichenden Fundamente der Großbauten, die nach seinen Rekonstruktionen hier hätten sein müssen, für den Kanal eigentlich kein Platz sein.

Der Gang mündete schließlich in eine lange rechteckige Halle mit flacher Decke, deren Längswände in regelmäßigen Abständen mit Pilastern untergliedert waren. In der Mitte dieser beiden Wände befand sich je ein hohes marmornes Portal, das üppig mit Ornamenten aus kleinen Elementen, die sich ständig wiederholten, geschmückt war. Die Portale waren vollkommen gleich. Sie unterschieden sich nur dadurch, dass über dem einen ein Kreis und über dem anderen eine liegende Acht angebracht war. Piranesi trat durch das Portal mit dem Kreis und fand sich in einem riesigen Raum, dessen Struktur ihm sofort merkwürdig unklar erschien. Unmittelbar vor ihm erhob sich eine mächtige Wand aus zyklopischen Steinquadern, in die mit gewaltigen Lettern tief die Worte „Quid est spatium?“ eingemeißelt waren. Darüber thronte eine große Figur, welche mit dicken Ketten an die Wand gefesselt zu sein schien. In die Höhe und die Tiefe führten allerhand Treppen. Außerdem wurde der Raum von mehreren übereinander gestaffelten hölzernen Galerien und Brücken durchquert, die auf jeder Ebene Verbindungen in alle Richtungen herstellten. Piranesi vermutete, dass dieses Gewirr von Verbindungen der Grund dafür war, dass er die Begrenzung des Raumes nicht einzuschätzen vermochte. Auch seine Funktion wurde ihm nicht deutlich. An Wänden, Balken und Brücken waren allenthalben schwere Eisenketten, dicke Seile und Ringe angebracht, wie man sie von Häfen kennt, in denen außerordentlich große Schiffe festzumachen sind. Unmittelbar vor ihm befand sich in horizontaler Lage ein riesiges Rad, das mit seinen senkrecht angebrachten martialischen Spitzen ein Folterinstrument für Riesen zu sein schien.


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Während in Piranesi die Ahnung hochstieg, dass er ins Herz der ewigen Stadt gelangt sei und sich ihrem Geheimnis nähere, hörte er hinter sich das aufgeregte Gegacker eine Huhnes. Ihm folgte ein Mann, der das Tier, welches offenbar auf der Flucht war, laut schimpfend verfolgte. Piranesi glaubte, das bunt gescheckte Federvieh wieder zu erkennen, welches er draußen am Eingang des Kanals aufgescheucht hatte. Das Huhn verschwand, kaum dass es den großen Raum erreicht hatte, zwischen umher liegenden Steinquadern. Als der Mann, der das Huhn verfolgte, Piranesi bemerkte, fragte er:

„Bist du der Idiot, der die alte Kloake geöffnet hat, die doch schon immer geschlossen gewesen ist? Wegen dir muss ich hinter meinem Huhn herlaufen, das sich, statt bei Tageslicht ein Ei zu legen, in diese endlose dunkle Röhre geflüchtet hat.“

Und er fügte, nachdem er sich erstaunt umgeschaut hatte, vorwurfsvoll hinzu, dass er, wenn das Huhn in diesem Durcheinander jetzt ein Ei lege, danach wohl ebenso endlos suchen könne, ganz abgesehen davon, dass er nicht wisse, wie er bei all diesen Treppen, Stegen und Balken das Huhn selbst je wieder zu fassen bekomme.

Piranesi, der sich für das Missgeschick des Mannes verantwortlich fühlte, stellte die Suche nach dem Geheimnis der ewigen Stadt zurück und bot ihm Hilfe bei der Suche nach Huhn und Ei an, was der andere ohne weitere Umstände annahm. Gemeinsam machten sie sich in die Richtung auf, in die das Federvieh geflattert war. Das Huhn bemerkte die beiden und lief laut gackernd und heftig mit dem Kopf nickend ziellos zwischen Quadern und Gebälk umher. Ihm folgten die beiden Männer, die sich mal langsam anschlichen, mal plötzlich zuzugreifen versuchten, ohne dass ihnen dabei Erfolg beschieden gewesen wäre. Jedes Mal wenn sie glaubten, das Huhn ergreifen zu können, setzte es zu einem verzweifelten Spurt an und entwich zwischen neuen Steinblöcken, Balken und Ketten. Die beiden Verfolger sahen bald ein, dass angesichts der topographischen Gegebenheiten eine bloße Verfolgungsjagd wenig Sinn machte. Sie verlegten sich daher auf die List und versuchten das Huhn von zwei Seiten anzugehen. Dem aufgebrachten Tier gelang es jedoch immer wieder, in Seitenwege zu flüchten, welche die Verfolger im Durcheinander der Architekturteile übersehen hatten. Nach einiger Zeit hatte sich das Huhn in einem Hohlweg aus Säulen und Architravstücken verfangen, aus dem es keinen Ausweg zu geben schien. Nun aber besann sich das Tier auf die dritte Dimension und flatterte, wiewohl ihm die Flügel gestutzt waren, mit dem Mut der Verzweiflung in die Höhe, sprang über Simse und Säulen und landete nach flatterndem Flug keuchend in einem dicken Eisenring, der in einiger Höhe im Maul eines Löwenkopfes an der Wand befestigt war. Dort wartete es leicht schaukelnd die nächsten Manöver seiner Verfolger ab. Um an das störrische Tier zu kommen, waren die beiden Männer nun auch ihrerseits gezwungen, den scheinbar festen Boden zu verlassen. Da es ihnen – anders als dem Vogel – nicht möglich war, einfach in die Höhe zu gehen, begannen sie, auf Vorsprünge und Simse zu klettern – nur mit der Folge allerdings, dass das Huhn sich mit kühnem Luftsprung auf eine hölzerne Brücke absetzte, die den Raum in großem Bogen überspannte. Kaum hatten die beiden Männer mühsam auch diese Brücke erklommen, flüchtete das Tier mit wildem Flügelschlag eine Treppe hinauf, die im Zick-Zack weit in die Höhe des Raumes führte. Völlig außer Atem gelangten nach einiger Zeit auch die Verfolger dort an. Oben herrschte verdächtige Stille. Der Hühnerbesitzer sprach die Befürchtung aus, dass das Huhn möglicherweise dabei sei, sich des fälligen Eies zu entledigen. Tatsächlich sprang das Huhn nach einer Zeit vollkommener Ruhe merklich erleichtert auf und verschwand in einer Tiefe, deren Dimensionen überhaupt nicht abzuschätzen waren.

Angesichts der Tatsache, dass sich das Problem mit dem Verlust von Huhn und Ei verdoppelt hatte, wurde den Suchern klar, dass eine spontane Verfolgung der Art, wie sie sie bislang praktiziert hatten, nicht weiter führen würde. So wie die Dinge lagen, bedurfte es vorheriger Überlegung. Die beiden Männer setzten sich daher auf ein Säulenkapitell und begannen sich Gedanken über die Lage von Huhn und Ei zu machen. Dabei fand sich auch Zeit, die persönliche Bekanntmachung nachzuholen. Der Hühnerbesitzer stellte sich mit „Salametti“ vor, Giovanni Salametti, von Beruf Hühnerzüchter und Eierverkäufer, Piranesi mit seinem Nachnamen. Da Piranesi voraussah, dass für die Lösung der anstehenden Fragen seine berufliche Qualifikation eine Rolle spielen würde, fügte er nicht ohne Stolz „architetto“ hinzu.

„Ich habe von meinen Lehrmeistern in Venedig gelernt“, sagte Piranesi, „dass man, wenn man einen Raum in den Griff bekommen will, davon einen Plan machen muss. Nur so kann unsere Suche Erfolg haben.“

„In diesem Raum“, antwortete Salametti, „ist es viel leichter, ein gelegtes Ei zu finden, als ein Huhn, das sich bewegt. Daher, meine ich, ist es am besten, wenn wir uns auf das Ei konzentrieren. Immerhin kann man aus einem Ei, sollte das Huhn abhanden kommen, ein neues Huhn gewinnen.“

Sie einigten sich schließlich darauf, nach dem Ei suchen, ohne das Huhn zu vernachlässigen. Einstweilen wollte man auf getrennten Wegen erste Erfahrungen mit dem Raum sammeln und sich durch Zurufe verständigen. Piranesi sollte, seine architektonischen Kenntnisse nutzend, eine Übersicht über den Raum erstellen, die als Grundlage für eine systematische Suche dienen könne, Salametti sich unmittelbar auf die Suche nach dem Ei machen.

Salametti begann alsbald, den Boden nach dem Ei abzusuchen. Da er davon ausging, dass sich das Ei dort befinde, wo das Huhn seine letzte Flucht begonnen hatte, kreiste er in der unmittelbaren Umgebung der Stelle, an der man sich beraten hatte. Von Zeit zu Zeit stieß er einen gackernden Laut aus, einerseits in der Hoffnung, die Neugier des Huhnes zu wecken, andererseits, um seinem Suchgenossen zu zeigen, wo er sich gerade aufhielt. Piranesi, der gelernt hatte, dass man sich eines Raumes am besten an Hand des Grundrisses vergewissert, stieg die nächste Treppe in der Absicht hinauf, sich aus der Höhe Klarheit über die Struktur des Raumes zu verschaffen. Um den Kontakt zu seinem Begleiter zu halten, rief er dabei immer wieder „Quid est spatium“ aus, was mit vielfachem Echo im Raum verhallte. Schon bald musste feststellen, dass es von der Höhe, die er erklommen hatte, nicht möglich war, die Begrenzung des Raumes zu fixieren. Wann immer er glaubte, das Ende erreicht zu haben, stellte sich heraus, dass neue Gänge und Treppen in neue Räume und weitere Höhen und Tiefen führten. Hinter jedem Mauerbogen taten sich zusätzliche riesige Gebäudekomplexe auf. Wenn Piranesi an Hand der üblichen Indikatoren wie Dicke des Mauerwerkes, Sockelbildung oder Rustikaverkleidung zu der Überzeugung gekommen war, dass er den Boden des Raumes erreicht hatte, bemerkte er, dass von dort wieder Galerien und Treppen in tiefere Geschosse und Hallen führten. Wo sich verjüngende Bauformen und dachartige Konstruktionen auf einen Abschluss nach oben hindeuteten, folgten weitere unabsehbare Stockwerke. Das Ganze war im Übrigen angefüllt von architektonischen Versatzstücken wie Rundbögen, Stützmauern, Verstrebungen, Simsen, Architraven, Säulen, Pilastern, Portalen, Fenstern und Gittern sowie von einer Vielzahl ergänzender Requisiten, darunter dicken Seilen, die mal senkrecht aus der Höhe herab, mal in weitem Bogen in den Raum hingen, Winden, Eisenringen, Ketten, Ampeln, Streckrädern, Stützgalgen, Obelisken und Statuen. All das war überspannt von Holzbrücken, deren immer gleiche Geländer als endlose Bänder durch das Bild zogen. Hier und da taten sich Blicke auf, die zeigten, dass die Konstruktionen auch in weiter Ferne kein Ende fanden. Einmal schien es Piranesi, als könne er durch einen gewaltigen Bogen den Himmel sehen, vor dem sich ein zinnenbekrönter Turm der Art abhob, wie man sie im mittelalterlichen Italien baute. Er verwarf diese Vorstellung aber mit der Begründung, dass diese merkwürdige Welt dann auch von außen sichtbar sein müsse, was aber noch niemand festgestellt hatte.

Bei dem Versuch, aus diesem Durcheinander einen Plan zu ziehen, verwirrte Piranesi insbesondere, dass er immer wieder auf Räume, Hallen und Gänge stieß, für die auf dem Plan, den er gefertigt hatte, eigentlich kein Platz war oder dass er sich nicht dort befand, wo er nach seinem Plan hätte sein sollen. Immer wieder prüfte er nach, wo er sich verrechnet oder verzeichnet haben könnte. Jedes mal kam er zu dem Ergebnis, dass er die Regeln seiner Kunst nicht verlassen hatte. Nach langen Überlegungen kam er schließlich zu dem alarmierenden Schluss, dass er entweder die Orientierung in seinem eigenen Plan verloren hatte oder diese Räume zeichnerisch nicht korrekt zu erfassen waren.

Nach einiger Zeit fanden sich Piranesi und Salametti je auf einer Seite einer Zugbrücke wieder, die von beiden Seiten ein Stück hochgezogen war. Dazwischen lag eine tiefe Kluft, die man nur sehr schwierig hätte durchsteigen können. Eine Zeit lang stand jeder unschlüssig auf seiner Seite. Schließlich fasste sich Salametti ein Herz und sprang über den Spalt zwischen den Brückenhälften hinüber zu Piranesi. Dieser berichtete ihm beunruhigt von den Schwierigkeiten, welche er mit der Erfassung des Raumes hatte.

„Kein Mensch kann einen solchen Raum zeichnen“, beruhigte ihn Salametti. „Ich glaube aber trotzdem, dass wir ihn verstehen werden. Da das Ganze so groß und unüberschaubar ist, habe ich mich bewusst in der Nähe unseres gemeinsamen Ausgangspunktes gehalten. Ich habe mich daher eigentlich noch nicht verlaufen können.“

„Hoffentlich hast du Recht“, antwortete Piranesi. „Ich jedenfalls weiß nicht, wie es weitergehen soll.“

„Wir werden uns hier schon zurechtfinden. Allerdings sollten wir zuerst festzustellen, wo der Ausgang des Raumes ist. Um Huhn und Ei können wir uns später kümmern.“

Piranesi stimmte zu: „Dazu müssen wir nur nach dem Raum mit der großen Inschrift suchen.“

Die beiden Männer begaben sich in die Richtung, aus der sie glaubten, gekommen zu sein. Schon bald taten sich aber Zweifel auf, ob sie auf dem Hinweg hier nach rechts oder dort nach links abgebogen oder ob sie auf- oder abgestiegen waren. Wo Piranesi sicher war, dass sie aus dieser Richtung gekommen waren, war Salametti ebenso sicher, das es die andere Richtung war. Es dauerte nicht lange, und sie gerieten hierüber in Streit. Ein Wort ergab das andere. Piranesi, der leicht erregbar war, meinte schließlich, Salametti könne ja seinen eigenen Weg gehen. Salametti war daraufhin beleidigt. Er antwortete trotzig, genau das werde er jetzt tun und stieg eine Treppe hinauf. Schon nach kurzer Zeit bekam er es aber mit der Angst zu tun. Er behielt Piranesi im Auge und folgte ihm heimlich. Als Piranesi dies bemerkte, bot er Salametti an, mit ihm wieder gemeinsam auf die Suche zu gehen.



Piranesis Räume

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