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3 Edle Einfalt – stille Größe
ОглавлениеEs geht um J.J. Winckelmann, einen der ganz Großen der Kunst – und Kulturgeschichte, den heute kaum noch einer kennt, auch wenn er vielfältig geehrt wird. Er ist nur noch den Gebildeteren bekannt, freilich meist, ohne daß sie ihn denn gelesen hätten. Seine Zeit gehört ins 19. und teils auch 20. Jahrhundert, aber selbst im Lehrplan der Abiturstufe war er nicht zwingend vorgeschrieben. Seine Rolle im Welttheater ist an den Aufstieg und den unaufhaltsamen Niedergang der Bürgerlichkeit gekoppelt. Er sagt an die aufstrebende Klasse gewandt: „Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten“. Damit meinte er die radikale Abkehr von aller Kunst des Feudalismus und die Suche nach neuen Wurzeln, welche imstande waren, den Menschen des Industriezeitalters nachhaltig zu formen.
Die kleine Herkulanerin (Kore)
Spitzenkunstwerke im Abseits
Wenn irgendwo auf der Welt das Gespräch auf Dresdner Kunstschätze kommt, erinnert man sich meist sofort an die Sixtinische Madonna. Dabei gibt es in den berühmten Kunstsammlungen zwei Skulpturen von so hohem künstlerischen Rang, von Einzigartigkeit und Schönheit, daß man sie noch über das Gemälde von Raffael stellen muß, wenn man hier überhaupt Zensuren verteilen kann. Seit Johann Joachim Winckelmann gelten die Große und die Kleine Herkulanerin als Hauptwerke der Geschichte der Antiken Kunst. Schließlich kommt den beiden Göttinnen eine Schlüsselstellung bei der Entwicklung der intellektuellen Begründung nicht nur der deutschen Klassik zu.
Weshalb es diese Plastiken auf keinen Vorderplatz der Kunstgeschichte schafften, kann man nur mutmaßen. Möglicherweise liegt es daran, daß die Archäologen an der Deutung Winckelmanns zweifelten, es aber nicht wirklich besser wußten. Seitdem weiß keiner, wen die beiden Figuren darstellen: Göttinnen oder antike Bürgerfrauen? Geschichte lebt aber nun mal nur in Geschichten. Deshalb schließe ich mich der Sicht Winckelmanns an. Für ihn ist die Größere Demeter, die Tochter des Kronos, Mutter Erde und somit Göttin der Fruchtbarkeit, des Ackerbaues und der Viehzucht. Die Kleinere könnte Kore darstellen ihre Tochter mit Zeus gezeugt, ein besonders freundliches und liebenswertes Mädchen, was auch dem Zeusbruder Hades auffiel.
Mit Einwilligung des Göttervaters entführte er Kore als seine Gemahlin Persephone in die Unterwelt. Dem rasenden Zorn Demeters konnte Zeus als Kores Vater nichts entgegensetzen. Er entschied, wenn das Mädchen noch nichts in der Unterwelt gegessen habe, dürfe sie auf die Erde zurück. Der schlaue Hades hatte aber mit seiner Gemahlin einen Granatapfel geteilt. So durfte Kore nur zwei Drittel des Jahres wieder auf die Erde. Den Winter verbrachte sie dann in der Unterwelt. Sie wurde damit zur Göttin der Dialektik von Werden und Vergehen. Mutter und Tochter wurden in einem Heiligtum nahe Athen in einem Staatskult als Fruchtbarkeitsgöttinnen verehrt.
Als 1738 das Theater von Herculaneum ausgegraben wurde, stieß man mehr zufällig auf 18 Plastiken, die im Tuff vorzüglich erhalten waren. Prinz Eugen ( 1663 – 1736 ), Kunstkenner und im Nebenberuf österreichischer Feldherr und Reichsmarschall, erkannte den Wert der drei Herkulanerinnen sofort und ließ sie nach Wien in die Marmorgalerie seines Palais bringen. Als er starb, verkaufte seine Erbin diese Skulpturen an König August III, den Sohn Augusts des Starken, der sie aus Platzgründen schließlich im Großen Garten notdürftig zunächst unterbrachte.
Die ganze Akademie und alle Künstler in Wien waren gleichsam in Empörung, da man nur noch ganz dunkel von derselben Verkauf sprach...
Die drei Vestas aus dem Herculano, der größte Schatz von Altertümern, befindet sich zu Dresden. Ich kann aber das Vorzüglichste von Schönheit nicht angeben, weil die besten Statuen in einem Schuppen von Brettern wie die Heringe gepackt standen und zu sehen, aber nicht zu betrachten waren, schreibt Winckelmann dazu. Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der Griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt, und eine stille Größe, so wohl in der Stellung als im Ausdruck. So wie die Tiefe des Meeres allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, eben so zeigt der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele...Die edle Einfalt und stille Größe der Griechischen Statuen ist zugleich das wahre Kennzeichen der Griechischen Schriften aus den besten Zeiten; der Schriften aus Sokrates Schule, und diese Eigenschaften sind es, welche die vorzügliche Größe eines Raphaels machen, zu welcher er durch die Nachahmung der Alten gelangt ist.
J.J. Winckelmann (Gleimhaus )
Diese grundlegenden Gedanken richteten sich gegen das Überladene, Gekünstelte, Asymetrische des Barock als einer zum Untergang verurteilten Epoche. In dieser Zeit erkämpfte sich das Bürgertum in Abgrenzung zu Bauern und Adel seine bürgerlichen Freiheiten, zunächst in den reichsunmittelbaren Städten, gestützt auf kaufmännische Gilden und handwerkliche Zünfte. Die im Zeitalter der Aufklärung formulierten und u.a. in der Französischen Revolution von den Bürgern erkämpften Bürgerrechte gelten heute als Menschenrechte. Winckelmann fand mit edle Einfalt, stille Größe genau das, was die Bürgergesellschaft als geistige Grundlage für das 19. Jahrhundert brauchte, ein Programm für alle, ein universales Modell, das Freiheit, Gleichheit und Teilnahme aller am Staatwesen. Diese Verallgemeinerung bürgerlicher Kultur und Lebensweise fand Winckelmann vor allem in den Plastiken der Antike, welche der sächsische Hof in Dresden gesammelt hatte. Über Schulen, Literatur, Kunst sollte es alle prägen bis zu dem Zeitpunkt als die Spaßgesellschaft über uns kam. Damit kann man Winckelmann als den geistigen Vater nicht nur der deutschen Klassik ansehen.
Als Ästhet im Militärstaat Preußen
Johann Joachim Winckelmann wurde 1717 als Sohn eines Flickschusters zu Stendal in dürftigste Verhältnisse geboren. Da der Soldatenkönig in eben jenem Jahr die allgemeine Schulpflicht für sein Land einführte, konnte Winckelmann wenigstens die Volksschule besuchen. Dort fiel seine Sprachbegabung auf; er wurde an der Stendaler Lateinschule untergebracht. Da er dem erblindeten Rektor Jesajas Wilhelm Tappert zur Hand ging und den anderen Teil des Schulgeldes als fahrender Kurrendesänger einbrachte, dufte er bleiben. Rektor Tappert förderte ihn besonders in Latein und Griechisch. Er brachte ihn schließlich am Cöllnischen Gymnasium in Berlin unter. Sein Berliner Lehrer Christian Tobias Damm legte schließlich die Grundlagen für seine gesamte spätere Entwicklung. Bei ihm hat er die Leitthese für seine späteren Werke aufgesogen: „ Die Griechen müssen noch Heute nachgeahmt werden, wenn etwas Beifallwürdiges zum Erscheinen kommen soll.“
Als einziger Studienweg, der für ihn möglich war, bliebt das Theologiestudium, da Friedrich Wilhelm I. Militärseelsorger brauchte. Winckelmann fand aber nur höchst selten den Weg zu Vorlesung oder Seminar, er studierte statt dessen in allen erreichbaren Bibliotheken griechische Literatur. Als ihm 1743 eine Stelle als Konrektor an der Lateinschule in Seehausen südlich von Wittenberg angeboten wurde, brach er die fruchtlosen Studien ab. Er schreibt darüber: Wenn ich zuweilen an den Schulstand zurückdenke so wundert mich, daß ich meinen Nacken unter der Last und dem Stolz eines vermaledeiten Pfaffen so lange habe beugen können. Von den Kindern weiß er nur noch, daß er Schüler mit grindigen Köpfen das ABC lesen ließ, während dessen er sich nichts sehnlicher wünschte zur Kenntnis des Schönen zu gelangen und Gleichnisse aus dem Homer zu beten. Nebenbei betrieb er weiterhin kulturhistorische Studien. Die Konspekte und Exzerpte, die dabei entstanden, bewahrt heute die Bibliotheque Nationale Paris auf.
Vaterlandsgefühle für Sachsen
J.J. Winckelmann ( A. Kaufmann)
Winckelmann war homosexuell, es wird angenommen, daß sein phänomenaler Aufstieg dieser Neigung geschuldet war. 1748 wurde er in eine Stelle als Bibliothekar beim Grafen Heinrich von Bünau ( 1697 –1762 ) auf Schloß Nöthnitz vermittelt. Bünau verfügte über eine exzellente Büchersammlung von 42 000 Bänden. Dort lernte er auch den Nuntius des Papstes Monsignore Albergo Archinto kennen und schätzen, der ihm eine Stelle in den vatikanischen Bibliotheken Rom anbot, um an Ort und Stelle seinen Sinn für die Geschichte der Bildenden Kunst zu vervollkommnen. Winckelmann trat zum katholischen Glauben über. 1754 kündigte er deshalb seinen Dienst beim Grafen von Bünau und zog nach Dresden zu seinem Freund Adam Friedrich Oeser in die Königstraße 10. Der Hofmaler gab ihm Zeichenunterricht wie vor ihm Goethe und schulte Winckelmanns Auge für Kunst. Oeser öffnete ihm die Dresdner Kunstsammlungen und Königliche Bibliotheken und regte ihn auch zu seiner ersten Veröffentlichung an.
Bei einem dieser Studiengänge war Winckelmann zu den Herkulanerinnen gelangt. Ihr Eindruck auf ihn war derart überwaltigend, dass er seine Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst doch zu Papier brachte. Gedruckt 1755 in Dresden – Friedrichstadt. Diese kleine Schrift machte Winckelmann in kurzer Zeit in ganz Europa bekannt: da war ein Aufklärer, der mit dem verspielten, überladenen Barock und Rokoko abrechnete und dieser Kunstepoche seine These entgegenstellte – edle Einfalt, stille Größe. Mit diesem Satz hat Winckelmann den Geist des deutschen Klassizismus und den der Weimarer Klassik entscheidend beeinflußt und geformt. Goethe bereiste Italien 1786 und 1788 unter diesem Aspekt.
Der sächsische Kurprinz Friedrich Christian erkannte Winckelmanns Bedeutung. Er war 1738 auf seiner Italienreise sowohl in Pompeji als auch in Herculaneum gewesen und wünschte von einem Fachmann auf dem laufenden gehalten zu werden. Der Prinz erwirkte bei seinem Vater König August III. ein Stipendium in Höhe von 200 Talern jährlich für Winckelmanns Kunststudien. Schließlich hatte der Kunstwissenschaftler bereits in Dresden geäußert: Ich werde aber den Schluß nicht machen können, ehe ich nicht Neapel gesehen; denn die Zeit, in welcher diese Statuen gearbeitet sind, muß durch Vergleichung der Herculaneischen wo möglich bestimmt werden.
So ist es gekommen, daß die Wettiner auch einen wesentlichen Beitrag für die Herausbildung der deutschen Literatur der Klassik leisteten.
Der Aufseher über die Altertümer des Vatikan
Doch zu der Zeit war der Autor bereits in Rom. Er wohnte zunächst bei Kardinalstaatsekretär Archinto und nach dessen Tod bei Kardinal Albani in enger Nachbarschaft zu dem Maler G. B. Casanova und dem Antikenrestaurator Piranesi Cavaceppi. Sein Freund war der Maler Anton Raphael Mengs, der ihn auf Grabungsstätten, Gemälde und Plastiken in den vatikanischen Sammlungen aufmerksam machte.
Durch den Katalog zur Gemmensammlung (1760 ) des Barons Stosch wird er in mehrere wissenschaftliche Akademien aufgenommen.
1762 besuchte er in Begleitung des Grafen Brühl mehrmals Neapel und seine Ausgrabungsstätten und erläuterte dem sächsisch – polnischen Staatsminister schwierige Punkte der Altertümer und deren Mythologie.
Papst Benedikt XIV. empfängt ihn danach in einer Privataudienz bereits als angesehenen Gelehrten von europäischen Rang. 1763 ernennt ihn Papst Clemens XIII. zum Oberaufseher aller vatikanischen Altertümer. Das war genau die Stellung, die Winckelmann brauchte, um seine Geschichte der Kunst des Altertums ( 2 Bände, Dresden 1764) zu beenden. Er hatte zwei gebildete Mönche als Assistenten und brauchte keine 10 Stunden im ganzen Jahr arbeiten.
1768 auf der Rückreise von Augsburg nach Rom wurde er in Triest von dem vorbestraften Francesco Arcangeli ermordet. Allerdings die Hintergründe dieser Tat sind bis heute ungeklärt. Man vermutet einen Auftragsmord.
Als Seume 1802 zu Fuß nach Syracus wanderte und in Triest im gleichen Hotel Station machte, kannte man nicht einmal Winckelmanns Grab mehr.
Der Schöpfer unserer modernen Kunstwissenschaft
Angefangen hat alles wie bereits gesagt in Dresden mit dem Anblick der beiden Herkulanerinnen. Winckelmanns unbestrittenes Verdienst ist es bis heute, die geistige Aneignung der griechischen Antike aus dem Raum der antiquarischen Buchstabengelehrtheit zur sinnlich – erotischen Wahrnehmung geführt zu haben.
Auf ihn geht letztlich unsere Bevorzugung des hellenistischen Erbes gegenüber der römischen Antike zurück, was genau genommen wieder mit Sachsen zu tun hat. Der Aufklärer Winckelmann stellt dem römischen Cäsarendespotisnus bewußt die griechische Demokratie gegenüber, schließlich hatte er in Dresden so etwas wie funktionierende demokratische Strukturen erlebt. Goethe überwand Winckelmanns Forderung nach Kopie des Griechengeistes trotzdem. Für ihn war das eine nicht zu vertretende Einengung seines Schöpfertums. Das Nachahmungsprinzip erstickt schließlich die lebendige Kraft der Entwicklung. Die Formel Antike – Schönheit – Lebenssteigerung haben auch wir noch immer in einer versteckten Ecke unseres Gehirn gespeichert. Das geht auf Winckelmann zurück.
Zu dem herausragenden Ereignis Klassik haben dies erst die Germanisten und Kunstwissenschaftler gemacht. Es war Hofrat Karl August Böttiger der u.a. 1805 forderte die antiken Kostbarkeiten wie die Herkulanerinnen durch Abgüsse in Ton oder Porzellan, durch Nachbildungen der verschiedensten Art zu verbreiten, um so geschmacksbildend auf weite Kreise der Bevölkerung Einflusse zu nehmen. Seine und anderer Worte wurden gehört, damit war Geld zu verdienen. Die Herkulanerinnen fanden ihren Platz in Galerien, in Parks, Schlössern. 1788 ließ Detlev Graf von Einsiedel ( 1737 – 1810) die Große Herkulanerin als Eisenguß in Lauchhammer herstellen und vor seinem Schloß Mückenberg aufstellen. Die Kleine Herkulanerin bekam einen viel exklusiveren Platz. Sie wurde 1791 in Eisen gegossen und auf dem Ofen in der Bibliothek des Berliner Stadtschlosses durch König Wilhelm II. aufgestellt.
Nietzsche meinte dazu lakonisch: Winckelmanns und Goethes Griechen – irgendwann wird man die ganze Komödie entdecken: Es war alles über alle Maßen historisch falsch, aber modern!
Heute sind vielleicht auch deshalb die beiden antiken Statuen weg vom Fenster. Sie haben in unserer Gesellschaft kaum noch eine Chance auf einen Vorderplatz in der Dresdner Kunstszene, nicht einmal vor Canaletto können sie in den Hitlisten landen. Ihr Zeitalter und das der klassischen deutschen Literatur ist in den Literaturlehrplänen der Gymnasien weitgehend verabschiedet worden. Trotzdem Der Sumpf zieht weiterhin am Gebirge hin, den faulen Pfuhl auch abzuziehn, das ist aber heute nicht das Letzterrungene.