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Ein Mann von Welt

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Als ich Klaus Nüchtern das erste Mal in voller Lebensgröße sah, saß er in einem Café in der Meidlinger Hauptstraße und schrieb etwas in ein kleines schwarzes Buch. Ich hatte mich mit ehemaligen Kolleginnen getroffen, wir kreischten und lachten am Nebentisch und benahmen uns ganz allgemein so unwürdig, wie es nur Frauen über vierzig können. Gelegentlich warf ich einen Blick hinüber zum Poeten; der schrieb ungerührt weiter in sein Büchlein und verzog keine Miene. Nur gelegentlich ein leichtes, schmerzliches Zucken um die Mundwinkel …

Nicht ohne Bangen schlug ich einige Tage später den Falter auf. Doch kein Wort über johlende Weiber, die sich nicht altersgemäß verhalten und besser die Enkel hüten sollten. Stattdessen eine kleine, feine Betrachtung über die beschauliche Ruhe in der Prater-Hauptallee …

Da wusste ich: Der Mann ist Pädagoge, und zwar einer von der ganz ausgefuchsten Sorte. Keine Watschen, sondern Umarmungen. Wo der Wald-und-Wiesen-Kolumnist ätzt, gurrt Nüchtern. Wo andere Stilblüten sammeln, produziert er Metaphern wie der Stör den Kaviar. Wo geringere Talente höhnen, ist er Rhapsode.

Kriegt einer Kiefersperre angesichts Schlankheitswahn, Sushipest, Gourmetgesäusel, 3-Sterne-Inflation? Klaus Nüchtern brät Wurstschüsserl und lässt Schmalz aus.

Stößt es jemandem sauer auf ob peinlicher Weinkennerprosa? Klaus Nüchtern trinkt Bier.

Fühlt sich ein anderer von Maßschuhgeknatter, Tommy-Hilfiger-Anoraks, diagonal gestreiften Hemden, Frauen im Powerdress optisch belästigt? Klaus Nüchtern trägt Puma-Sneakers, schräge T-Shirts. Und Hosen, du glaubst es kaum.

Seufzen mindere Geister nach der Sonne? Klaus Nüchtern greift in die Saiten und preist Regen und Nebel. Kriegen Kulturmenschen Bauchgrimmen bei Beachvolleyballturnieren am Wörthersee? Klaus Nüchtern zeltet im Mühlviertel. Und zwar bei Wind und Kälte. Steigt manchem der Blutdruck bei Autolärm, Staus und Abgasen? Klaus Nüchtern fährt mit der Bundesbahn. Oder geht gleich zu Fuß.

So entsteht durch Extrapolation allgemach der Umriss eines Mannes von Welt: ein Gegenbild zu den schleimig-windigen (falls diese taktil gewagte Doppelung erlaubt ist) New-Economy-Fuzzis, denen man gern ein Downgrading in die Holzklasse verpassen würde. Ein Mann, der die Segnungen der Provinz in der Stadt zu finden weiß und das urbane Getue als das eigentlich Provinzielle entlarvt.

Zwar hetzt der Kolumnist im Rösselsprung zu Lesungen in halb Europa, zwar japst er im Stadtmarathon mit (hier, ich gesteh’s, kamen mir Bedenken), zwar schätzt er Burt Bacharach (!), doch was sollen diese Ausrutscher neben solch zivilisatorischer Leistung. Ein Nüchternologe der Zukunft sollte sie neben seinen Verdiensten als Literaturkritiker und neben dem 2006 erschienenen, weitum gepriesenen Roman nicht vergessen.

Für mich jedenfalls hat das schaurige Kürzel KHG eine neue, schönere Bedeutung erhalten. Es lebe das Dreigestirn wunderbarer Kolumnisten deutscher Zunge: K(laus Nüchtern), H(arald Martenstein), Max G(oldt).

Brigitte Hilzensauer

Kleine Quittenkantate für Kastratensopran und Querflötenquintett

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