Читать книгу Kleine Quittenkantate für Kastratensopran und Querflötenquintett - Klaus Nüchtern - Страница 8
Mama, Papa, Gaugau
ОглавлениеDen Geistesmenschen kennzeichnet in aller Regel eine depressive Grundpersönlichkeit, das heißt, das in tiefen Schichten fundamentierte Wissen um die Tatsache, dass das Leben trotz intensivster intellektueller Tätigkeit erstens endlich und zweitens scheiße ist. Vor dem sofortigen Suizid bewahrt den melancholisch Kundigen vor allem ein Mechanismus, den die psychoanalytische Terminologie „Regression im Dienste des Ich“ nennt, was nichts anderes bedeutet als den Rückgriff auf Verhaltensweisen einer Entwicklungsphase, in der noch Unendlichkeit und Wonne vorherrschten: Man frisst bis zum Aufstoßen, säuft bis zum Wegdämmern, spielt mit dem Geschlechtsorgan und brabbelt immer das Gleiche. Als Leser der Betrachtungen des Geistesmenschen Nüchtern weiß man um seine Neigung zu Bigos, Haggis, piemontesischem Schweinebauch und allen anderen Speisen, die apokalyptische Ausschüttungen von Gallenflüssigkeit zur Folge haben; man weiß um seine mit Sicherheit rein psychogene Fischallergie (von Fisch wird man halt im Allgemeinen nicht satt, und dass er fetten Karpfen und Räucheraal in Wahrheit tadellos verträgt, gibt er nicht zu) und darum, dass er naturtrübes Bier vor allem deswegen mag, weil es annähernd den gleichen Eiweißgehalt besitzt wie Muttermilch (Schnaps liefert die notwendige finale Sedierung. Über Nüchterns kindische Oenophobie wollen wir jetzt nicht reden); man weiß schließlich, dass er gelegentlich Masturbationsfreiräume für Büroangestellte fordert, und ist zugleich ein wenig froh darüber, dass einem der Grad seiner kulturellen Anpassung eine eingehendere Auseinandersetzung mit der Frage nach den Spielarten der Genitalmanipulation bis dato erspart hat.
Aus abwehrtheoretischer Sicht schwer zu toppen wird Nüchtern freilich erst dort, wo er sich in jene Gefilde begibt, in denen Geistesmenschenexistenzen ihre eigentliche Grundlegung erfahren – an die Wurzeln der Sprache. Weitaus kühner als jene Schreibenden, die in ihrem Regredieren weitestenfalls in die Phase der Zwei- oder Dreiwortsätze, der interpunktionslosen Wortkaskade oder der paralogischen Assoziation gelangen, hechtet er zurück an den Anfang des zweiten Lebensjahres, dorthin, wo das Kind stabend beginnt, die Welt begrifflich zu fassen: „Mama“, „Papa“, „Gaugau“. Und wie eben ein sprachspielendes Kind Lust an seinen Hervorbringungen hat, so hat sie Nüchtern sichtlich auch: Unter „Konzentration kontemplativer Kräfte“ und „Schärfung sämtlicher Sinneswahrnehmungen“ trotzt er mit „Schmiss und Schwung“ sowohl „Mixmoguln“ als auch „Mineralmemmen“, sowohl „Zimtzicken“ als auch „akademisch ausgeschlafenen Auskennern“. Lust gibt Kraft, das kennt man, und für ein den Suizid aus Seinsverdruss abwehrendes Kulturwesen bedeutet das, aus der Regression durchzustarten und in die schiere Sublimierung abzuheben. Das führt dann dazu, dass wir den Autor dabei antreffen, wie er unter „kontrollierendem Kellnerauge“ „der Lektüre feministischer Romane durch den Verzehr von Rohscheiben und Rettich einen würdigen Rahmen verpasst“, bevor er „im Stadtpark Schnee auf schmusenden Schnurrbärten schmelzen“ sieht. Gelegentlich brechen noch archaische, körperbezogene Ängste durch, verursachen „Pinkelpanik“ oder eine „intestinale Insubordination“, lassen ab und zu ein „Darmdrangdrama“, wenn nicht sogar eine „Adventappendizitis“ befürchten. Letztlich ist jedoch das alles auf den „Fettfaschismus“ der „Brunello-Bagage“ zurückzuführen, einer „immer illuminierten illustren Interessengemeinschaft idiosynkratischer ibishotelinkarzerierter Intelligenzbestien“ – und wie man sieht, schwebt er schon wieder weit über dem Weh der Welt dahin, in den höchsten Sphären alliterativer Artefakte, und ganz gehörig „rauscht es durch seine Rübe“. Man selbst fühlt sich im Vergleich dazu zwar ein wenig wie ein „dröger Downtempo-Dachs“, aber ich denke, das macht nichts.
Paulus Hochgatterer