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3.6Integratives Modell

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Das integrative Modell versucht zu zeigen, wie die vorangegangen Modelle zu unterschiedlichen Zeitpunkten während des Verlaufs einer Krankheit angewendet werden können und welche Wechselwirkungen bestehen. Einzelne Modelle haben für sich allein zu wenig Erklärungspotenz bzw. können zu wenig die Varianz der jeweiligen Phänotypen (d. h. der Symptome, Syndrome, Krankheiten) aufklären.

Nach Tyrer und Steinberg ist ein möglicher integrativer Ansatz das „hierarchische Modell“. Die hierarchischen Stufen entsprechen dabei den Störungsstufen:

1.Auf der ersten Krankheitsstufe, bei der geringe Symptome vorliegen, sei das sozialpsychiatrische Modell ausreichend.

2.Bei spezifischen ausgeprägteren Symptomen könne das psychodynamische Modell herangezogen werden.

3.Bei dysfunktionalen Verhaltensweisen empfiehlt sich das Verhaltensmodell.

4.Bei dysfunktionalen Kognitionen ist das kognitive Modell anzuwenden.

5.Das medizinische Krankheitsmodell sollte für schwere Manifestationen von psychischen Störungen vorbehalten bleiben.

Die Modelle sind nicht eigentlich störungsspezifisch, sondern unterschiedliche Betrachtungsebenen können – je nach Schweregrad – im Verlauf der Krankheit sinnvoll zum Verstehen und Behandeln beitragen, obwohl meist dennoch ein Modell überwiegen wird. Die Auslöser von psychischen Störungen sind meist im sozialen Bereich (also auf Ebene 1) zu finden. Die Prädisposition bestimmt aber über das Wesen der Störung. Verschiedene Menschen werden unterschiedliche Reaktionen auf ein und dasselbe Ereignis zeigen, je nach vorliegender Prädisposition.

Weitere integrative Modelle:

Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell (ursprünglich von Joseph Zubin für das Verständnis von Schizophrenie entwickelt) hat große Bedeutung und kann als Leitmodell für die gesamte Psychiatrie angesehen werden. Vulnerabilität (Krankheitsdisposition oder Neigung) entsteht durch multifaktorielle Risikoprozesse. Sie allein genügt nicht, damit ein Mensch psychisch erkrankt. Ein (oder mehrere) zusätzliche(r) Stressor(en) ist/sind für die Auslösung der Krankheit notwendig. Vulnerabilität wird auch familiär weitergegeben, was im Englischen „liability“ genannt wird. Erstgradig Verwandte von Menschen mit psychischen Störungen haben ein deutlich erhöhtes Risiko, ebenfalls zu erkranken. Protektive Faktoren spielen in diesem Modell ebenfalls eine Rolle. Sie beschützen vulnerable Personen trotz auslösender Stressoren, zu erkranken.

Chaostheoretische Konzepte – basierend auf der Komplexitätsforschung – beachten besonders die Prozesse der Selbstorganisation von Systemen und machen diesen Fokus fruchtbar für ein Verständnis von Gesundheit und Krankheit. Sie sind bio-psycho-sozial und integrieren sowohl (neuro)-biologische als auch psychodynamische und systemische Aspekte (Toifl, 2004), um Selbstorganisation zu fördern.

Gen-Umwelt-Interaktionsmodell (G xE-Modell):

Krankheiten entstehen durch Interaktion von genetischer Ausstattung mit der Umwelt. Die Persönlichkeit oder manche Charakterzüge sind zum Teil genetisch, zum Teil umweltbedingt. Besonders wichtig ist es, darauf hinzuweisen, wie neueste Forschungen zeigen konnten, dass beide Bereiche eine wesentliche Rolle in der Entstehung psychischer Störungen spielen. Dabei ist entscheidend, dass Umweltfaktoren, die etwa Geschwister in Familien gemeinsam erleben (Erkrankung oder Tod eines Elternteiles), keine Rolle für die Erkrankung einer der beiden Geschwister spielen. Was krank macht, sind lediglich solche Faktoren, die Geschwister nicht miteinander teilen (das sind hauptsächlich Peergroup-Unterschiede und subjektiv wahrgenommene Unterschiede im Stresslevel; im Umgang mit familiären Stressoren wie z. B. der Erkrankung oder dem Tod eines Elternteils).

Avshalom Caspi et al. (2003) konnten zeigen, dass die Schwere einer Depression nicht von der Häufigkeit der life events abhängt, denen jemand ausgesetzt ist, sondern nur diejenigen Patienten mit Depression schwer erkrankten, welche eine Risikokonstellation in der genetischen Struktur des Serotonin-Transporter-Genes aufwiesen.

Ursachenorientierte Klassifikation:

Die Klassifikationen psychischer Störungen der gegenwärtigen Klassifikationssysteme wie ICD-10 und DSM-5 sind der Versuch, phänomenologisch und empirisch gestützte Schematisierungen der beobachteten Symptome und Syndrome zu systematisieren. Dabei spielt die Ätiologie von Krankheiten eine untergeordnete Rolle. Obwohl die Ursachen der meisten psychischen Störungen unbekannt sind, sind in ihrer Erforschung (im biologischen Bereich) zuletzt große Fortschritte erzielt worden. Eine ursachenorientierte Klassifikation aller psychischen Störungen ist aus heutiger Sicht allerdings noch undenkbar und ein Projekt für die nächsten Jahrzehnte. Da „Utopien“ und Zukunftsprojekte das Nachdenken über und die Forschung für zukünftige Therapien stimulieren, soll das von Dennis Charney et al. (2002) vorgeschlagene Schema hier angeführt werden. Es ist integrativ, indem es sowohl ursächlich wirksame biologische als auch psychologische Parameter sowie psychosoziale Stressoren und Verlaufsparameter in die Klassifikation einbezieht.

Tab. 1: Zukünftiges mögliches ursachenorientiertes multiaxiales Klassifikationssystem (Charney et al., 2002, 72)

Achse 1: Genotyp •Identifikation von Krankheits- bzw. symptomrelevanten Genen •Identifikation von protektiven bzw. Resilienzgenen •Identifikation von Genen, die mit bestimmten Nebenwirkungen und therapeutischer Wirksamkeit etwas zu tun haben
Achse 2: Neurobiologischer Phenotyp •Identifikation eines intermediären Phenotyps (Neuroimaging, kognitive Funktion, Emotionsregulation) mit Bezug zum Genotyp •Pharmakotherapie
Achse 3: Verhaltens-Phenotyp •Häufigkeit und Spannbreite ausgedrückten Verhaltens in Bezug auf den Genotyp, den neurobiologischen Phenotyp und die Umwelt •Pharmkotherapie
Achse 4: Umweltmodifikatoren oder Auslöser •Umweltfaktoren, die den Verhaltens- und den neurobiologischen Phenotyp verändern
Achse 5: Therapeutische Ziele und Reaktionen
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