Читать книгу ... und hinter uns die Heimat - Klaus-Peter Enghardt - Страница 6

ALS JUNGLEHRERIN NACH OSTPREUSSEN

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Unruhig flackernd spendete die blau geblümte Deckenlampe in der kleinen Küche fahles Licht, das Schatten auf die mit Leimfarbe gewalzten Muster an den Wänden warf und eine bedrückende Atmosphäre bereitete.

Seit bei einem Fliegerangriff auf die Stadt Köln auch das Elektrizitätswerk in Mitleidenschaft gezogen wurde, kam es immer wieder zu Schwankungen im Stromnetz und stundenlangen Stromabschaltungen, doch Paul und Elfriede Knieschitz waren froh, überhaupt bei Licht in ihrer Küche in der Rothehausstraße in Köln-Ehrenfeld sitzen zu können. Viele ihrer Bekannten hatten bei den vergangenen Bombenangriffen sogar ihre Wohnungen verloren.

Nachdem Köln in den letzten Monaten bereits einhundert Bombenangriffe überstanden hatte, bildeten der dreißigste und einunddreißigste Mai 1942 den bisher unbestrittenen Höhepunkt der Bombardements. Über 1000 englische Bomber hatten an jenem Tag bei der »Operation Millennium« große Teile der Stadt in Schutt und Asche gelegt und viele Tote und Verletzte gefordert. Spätestens seit diesem Tag, der als »Der Tag der tausend Bomber« in die Geschichte Kölns einging, lebten die Menschen in ständiger Angst.

Die sonst so fröhlichen und aufgeschlossenen Kölner wurden apathisch und waren tief über den Verlust nahestehender Menschen und ihrer geliebten Stadt in ihrer menschlichen Seele getroffen.

Viele Einwohner verließen sogar die Stadt und zogen zu Verwandte in weniger gefährdete Gebiete.

Im Raum war es ziemlich warm, denn die Julisonne meinte es seit Tagen fast zu gut, doch den Bewohnern war es verboten, nachts bei elektrischem Licht die Fenster zu öffnen, um die kühle Luft in die Zimmer zu lassen. Seit den schweren Fliegerangriffen herrschte strengster Verdunkelungsbefehl.

Elfriede Knieschitz saß ihrem Mann am Küchentisch gegenüber und drehte wohl zum hundertsten Mal einen Brief. der bereits ziemlich zerknittert war, zwischen ihren Händen.

Adressiert war dieser Brief an ihre Tochter Katharina, der Absender war das Schulamt in Königsberg.

Auf diesen Brief wartete ihre Tochter bereits seit Wochen, denn sie hatte sich gleich nach ihrem bestandenen Examen zum Einsatz als Lehrerin beworben.

In einem Antwortschreiben der Schulbehörde Köln hatte man ihr damals Hoffnung gemacht, eine Stelle in einer Schule in Ostpreußen besetzen zu können.

Der »Kölner Anzeiger« hatte berichtete, dass in jenem Landesteil Deutschlands pädagogische Unterstützungsarbeit geleistet werden musste und deshalb zahlreiche Lehrerstellen zu besetzen waren.

Die männlichen Lehrkräfte waren zur Wehrmacht eingezogen worden, um den Bolschewismus vor den Toren des Landes abwehren zu helfen. Das sollte Katharinas Chance als Unterstufenlehrerin sein. In jenem Brief würde sie nun die Antwort auf ihre Bewerbung lesen können.

Elfriede schaute ihren Mann bange an und fragte: »Paul, sage du mir doch eins. Soll ich unserer Tochter den Brief geben? Es könnte bedeuten, dass uns Katharina dann bald verlässt und vielleicht über 1.000 Kilometer weit von uns fort zieht.«

Paul Knieschitz schaute seine Frau lange still an und sagte dann: »Wir haben unsere Tochter zur Ehrlichkeit erzogen. Wie können wir da einen Brief unterschlagen, der vielleicht entscheidend für ihr Leben sein könnte? Sie hat ihr Examen mit Bravour bestanden und fiebert nun darauf, Kinder unterrichten zu dürfen. Es steht uns nicht zu, eine Entscheidung zu treffen, die nur unsere Tochter selbst treffen kann. Außerdem ist in Ostpreußen tiefster Frieden und wie man hört, hat der Russe wohl nicht die Absicht seine Hände nach Ostpreußen auszustrecken. Also ist sie dort sicherer als hier in Köln. Hast du etwa den einunddreißigsten Mai bereits vergessen? Es ist doch gerade erst acht Wochen her. Wir können froh sein, dass unser Haus noch steht, anderen erging es schlechter. Denke einmal an die Menschen in Deutz oder in der Altstadt.«

Elfriede Knieschitz seufzte und sagt dann: »Sicher hast du recht, aber ich kann mich nicht an den Gedanken gewöhnen, unser Kind so bald zu verlieren.«

Sie musste allerdings ihrem Mann, der Probleme immer analytisch anging und in seinem Leben stets aufrichtig und geradlinig handelte, beipflichten. Den Schluderjan gab es bei ihm nicht, schließlich war er Beamter der Kölner Stadtverwaltung, und darauf war er sehr stolz.

Kurz nach diesem Gespräch, kam ihre Tochter Katharina vom Besuch bei Tante Ida heim, die ein paar Straßen weiter, in der Lessingstraße in einem sogenannten Dreifensterhaus wohnte. Das Haus war bei dem verheerenden Bombenangriff Ende Mai, wie durch ein Wunder, ebenfalls unbeschädigt geblieben.

Dieses Haus besaß tatsächlich in jeder Etage nur drei Fenster. Im Erdgeschoss waren es neben der Eingangstür sogar nur zwei. Das war der altpreußischen Bauordnung geschuldet, die besagte, dass Bewohner, deren Häuser maximal zwanzig Fuß, also sechs Meter und achtundzwanzig Zentimeter breit waren, keine Steuern entrichten mussten.

Nach hinten wurden die Häuser dann allerdings, je nach Grundstücksgröße, erheblich ausgebaut. Da entstanden Läden, Werkstätten oder mancherlei Lagermöglichkeiten, sogar kleine Gastwirtschaften etablierten sich in den hinteren Räumen.

Das Mädchen sah ihre Eltern recht bedrückt am Küchentisch sitzen und ahnte instinktiv, dass es eine entscheidende Neuigkeit gegeben hatte. Auf dem Tisch sah sie den Brief liegen. Sie schaute ihre Eltern abwechselnd fragend an.

Ihre Mutter schob ihr daraufhin den Brief entgegen und sagte mit brüchiger Stimme: »Hier, mein Kind! Das ist der Brief, auf den du so sehnsüchtig gewartet hast.«

Die Tochter nahm den Brief an sich und öffnete ihn sofort, im Beisein ihrer Eltern, denn die waren doch genauso gespannt auf die Entscheidung des Schulamtes. Hastig entnahm sie dem Couvert das für sie so wichtige Schriftstück, las die wenigen Zeilen und über ihr Gesicht huschte ein glückliches Lächeln: »Sie wollen mich einstellen!«, triumphierte sie. »Schon in zwei Wochen soll ich mich im Kirchen- und Schulamt in Königsberg melden, um alle Formalitäten zu erledigen. Meinen Dienst werde ich dann in Loditten antreten!«, zitierte sie aus dem Brief.

»Wo liegt denn dieses Loditten?«, wollte die Mutter nun neugierig wissen und Vater holte eine Landkarte aus dem Schubfach der Anrichte, um selbst nachzuschauen.

»Frau, gib mir doch mal meine Lesebrille«, bat er.

Elfriede Knieschitz drehte sich auf ihrem Stuhl herum und angelte die Brille von der Kopfstütze des Sofas, wo sie auf der Zeitung lag, die ihr Mann vor ein paar Minuten noch gelesen hatte.

Inzwischen hatte er sich mit einem Lineal ausgerüstet, das er als Orientierungshilfe auf die Karte legte. Mit dem Zeigefinger fuhr er von links nach rechts am Lineal entlang und las leise vor sich her murmelnd die jeweiligen Orte vor.

»Hast du es gefunden?«, fragte seine Frau nach geraumer Zeit ungeduldig und ihr Mann brummte: »Dann hätte ich es doch gesagt!«, und suchte emsig weiter.

Katharina las die wenigen Zeilen bereits zum siebenten oder achten Mal, doch es gab da keinen genauen Anhaltspunkt, wo sich dieser Ort befand.

Plötzlich hatte sie eine Idee. Sie schaute noch einmal in den Briefumschlag und entdeckte tatsächlich einen Zettel, auf dem die nähere Beschreibung der Ortschaft »Loditten« notiert war.

»Hier, Papa. Da steht die Bahnstation drauf und auch eine Wegeskizze ist dabei!«, triumphierte Katharina.

Paul Knieschitz nahm die Wegbeschreibung in die Hand und las darauf den Namen der Bahnstation »Zinten«.

Anhand der Wegbeschreibung erfuhr die Familie nun, dass Katharinas Reise von Köln aus über Dortmund und Hannover nach Berlin-Charlottenburg führen wird. Dort muss sie für eine Nacht Quartier nehmen, um am darauffolgenden Tag vom Stettiner Bahnhof in Berlin-Charlottenburg über Dirschau und Elbing zunächst nach Königsberg zu fahren.

In Königsberg muss sie das zweite Mal Quartier nehmen, weil sie sich dort bei dem zuständigen Kirchen- und Schulamt zu melden hatte. Sind dann die Formalitäten erledigt, kann sie endlich den Zug Königsberg – Allenstein besteigen, der auch in Zinten hält.

Von Zinten ist es dann nur noch eine kurze Wegstrecke bis nach Loditten.

Das las sich auf dem Zettel eigentlich recht unkompliziert, für Katharina bedeutete es jedoch, drei Tage unterwegs zu sein.

Elfriede Knieschitz nahm ihre Tochter schluchzend in ihre Arme, doch Vater Paul hatte sich bereits wieder über die Karte gebeugt und fuhr mit seinem Finger die Strecke ab.

Noch während Elfriede ihre Tochter umarmt hielt, hatte sich Vater Paul einen Bleistift und ein leeres Schreibblatt geholt, um seiner Tochter jede wichtige Station ihrer Reise aufzuschreiben und aufzuzeichnen.

Nachdem Frau Knieschitz ihre Tochter wieder aus ihren Armen entlassen und sich ihre Tränen getrocknet hatte, fragte sie mit mühsam fester Stimme: »Wo liegt denn nun dieses Loditten, und wie weit ist es von Köln entfernt?«

Paul Knieschitz legte seiner Frau einen Arm um die Schulter und sagte versöhnlich: »Na, nun komm mal her, ich zeige es dir.«

Auch Katharina beugte sich über die Karte und verglich die Stationen mit den Aufzeichnungen ihres Vaters, die noch genauer waren, als die auf dem Zettel im Briefumschlag. Lediglich nach dem Dorf Loditten müsste sie sich beim Bahnhofsvorsteher in Zinten erkundigen, denn dieses Dorf war zu klein, um auf der Landkarte von Paul Knieschitz Berücksichtigung zu finden. Allerdings erschrak Katharina selbst ein wenig, als der Vater ihnen verriet, dass Loditten 1200 Kilometer von Köln entfernt ist. Doch da Katharina sehr selbständig und vor allem sehr selbstbewusst war, hatte sie vor der Reise keine Bange. Nur vor der Trennung von ihren Eltern hatte sie ein wenig Angst, aber es gab ja Ferien und da wollte sie ihre Eltern recht oft besuchen. Und wer weiß, wenn sie alles für sich gerichtet hatte, könnten die Eltern sie ja auch einmal in Loditten besuchen.

Mutter Knieschitz murmelte nach Katharinas Vorschlag:

»Na, mal sehen, ob ich mir so eine weite Reise zutraue, Kind. 1200 Kilometer, davor graust es mir doch ein wenig.«

Niemand wollte zu jenem Zeitpunkt daran denken, dass der Krieg ihre Pläne durchkreuzen könnte.

Die folgenden Tage rückte die kleine Familie noch enger zusammen. Obwohl der Vater wusste, dass seine Tochter in Ostpreußen sicherer aufgehoben war, als in Köln, fiel ihm die Trennung schwerer, als die beiden Frauen ahnten.

Für ihn war seine Tochter noch immer das kleine Mädchen, das er ihr Leben lang vor allem Bösen beschützt hatte, doch in diesem menschenverachtendem Krieg, bei dem in den Städten maßgeblich Zivilisten betroffen waren, konnte er seine Tochter nicht mehr beschützen. Seine Frau weinte oft still und dachte, dass es unbemerkt bleiben würde, doch sowohl ihr Mann, als auch ihre Tochter bemerkten es sehr wohl.

Katharina hatte noch einige organisatorische Dinge zu klären. Das Wichtigste war die polizeiliche Abmeldung in ihrem Stadtbezirk Köln-Ehrenfeld.

Beim evangelischen Kirchenamt holte sie sich die Kopien ihres Taufscheins und ihrer Konfirmationsurkunde ein. Danach ging es an’s Koffer packen.

Obwohl sie bemerkte, wie schwer den Eltern die Trennung fiel, wünschte sie sich den Tag ihrer Abreise herbei, um dieser bedrückenden Atmosphäre entfliehen zu können.

Wenn sie erst einmal ein paar Wochen weg war, würden sich ihre Eltern sicher an das Leben auf Distanz gewöhnt haben.

Von Tante Ida hatte sie sich bereits verabschiedet.

Auch sie hatte beim Abschied geweint. Niemand konnte wissen, wie sich die Situation in Köln in den nächsten Monaten entwickelte und ob es ein Wiedersehen geben würde.

Am letzten Tag vor ihrer Abreise saß die kleine Familie noch einmal am Küchentisch zusammen und Katharina musste zahlreiche gut gemeinte Verhaltensregeln über sich ergehen lassen, die ihr die Mutter und auch der Vater in den vergangenen zwei Wochen bereits mehrfach erteilt hatten.

Es war natürlich verständlich, schließlich tobte ein schrecklicher Krieg, dessen Verlauf niemand vorhersagen konnte.

Obwohl sie am Abend mit den Gedanken an ihre große Reise ins Bett gegangen war, hatte sie ruhig geschlafen und war sehr früh am Morgen von ihrer Mutter geweckt worden. Auch der Vater war bereits aufgestanden, obwohl er eigentlich noch schlafen könnte, doch er wollte sich natürlich ebenfalls von seiner Tochter verabschieden, und noch mehr, er bestand darauf, sie zum Bahnhof zu begleiten.

Katharina schaute auf die Schatten an der Wand, die durch die flackernde Küchenlampe erzeugt wurden, blickte noch einmal auf die mit Leimfarbe gewalzten Wände und auf das Sofa, auf dem der Vater nach dem Sonntagsessen gern sein Schläfchen machte. Und obwohl auf dem weißen Wandschoner mit blauem Garn »nur ein Viertelstündchen« aufgestickt war, schlief Vater Paul meist eine ganze Stunde.

Das Frühstück wollte nicht so recht schmecken. Zwar hatte sich die Mutter besondere Mühe gegeben, aber irgendwie saß allen dreien einen Kloß im Hals. Da konnte auch das bunte Blumensträußchen in der Vase die Stimmung nicht besonders auflockern.

Katharinas Blick fiel auf die vertraute Küchenuhr über dem Herd, die der Vater vor vielen Jahren kunstvoll mit Blumen bemalt hatte und sie stellte fest, dass die Zeiger unerbittlich weiter rückten. Nach einer Weile sagte sie schließlich:

»Nun muss ich aber los!«

Paul Knieschitz stand wortlos auf und nahm seine Jacke vom Haken, denn so früh am Morgen war es noch ziemlich kühl, griff Katharinas schwere Koffer und ging in den Flur.

Er wollte nicht zusehen, wie seine Frau tränenreich Abschied von ihrer Tochter nahm, es bräche ihm das Herz.

Jedoch entging ihm natürlich auch im Korridor nicht, dass sich Mutter und Tochter weinend in den Armen lagen.

Trotzdem vergaß Elfriede Knieschitz nicht, ihrer Tochter noch das Proviantpäckchen in die Hand zu drücken, das Katharina in ihrer Umhängetasche verstaute.

Auf dem Kölner Hauptbahnhof herrschte Hochbetrieb und Katharina war froh, mit ihrem Gepäck endlich am richtigen Bahnsteig angekommen zu sein. Unter die vielen Soldaten mischten sich immer noch zahlreiche Zivilpersonen.

Aus den Lautsprechern ertönten unablässig wichtige Durchsagen und hallten laut über die Bahnsteige.

Menschen hasteten von einem Bahnsteig auf den anderen, weil ein militärischer Sonderzug plötzlich von dort abfahren sollte.

In einer dieser Durchsagen wurde den Reisenden mitgeteilt, dass der Zug nach Berlin planmäßig um sechs Uhr dreißig abfahren wird, jedoch ebenfalls von einem Nachbarbahnsteig. Katharina musste also eilig den Bahnsteig wechseln.

Vater Paul suchte zum Abschied nach passenden Worten, ohne noch einmal die guten Ratschläge zu wiederholen, die seine Tochter zur Genüge kannte. Die Verlegenheit ihres Vaters rührte sie zutiefst, und plötzlich ergriff sie ein wenig Angst und auch Mitleid. Angst, um ihre geliebten Eltern, die nun im leidgeprüften Köln zurückblieben. Wie würden sie wohl künftige Bombenangriffe überstehen, mit denen sicher zu rechnen war? Und Mitleid, weil sie ahnte, wie schwer es ihren Eltern fallen musste, ihre einzige Tochter in die unbekannte Fremde ziehen zu lassen, ihr Mädchen, das sie noch immer behütet hatten, wie man eben ein geliebtes Kind behütet. Schließlich war sie der Lebensmittelpunkt ihrer Eltern, der nun aus ihrem Gesichtskreis verschwand.

Katharina schaute auf die Bahnhofsuhr. In wenigen Minuten musste sie ihr Zugabteil besteigen. Vorsorglich hatte sie sich beim Kauf der Fahrkarte in der vergangenen Woche zugleich auch einen Sitzplatz reservieren lassen, deshalb konnte sie bis unmittelbar vor der Abfahrt bei ihrem Vater sein.

Als der Schaffner mit lauter Stimme die Reisenden aufforderte, ihre Abteile aufzusuchen, nahm Paul Knieschitz seine Tochter in die Arme und sagte liebevoll:

»Auf Wiedersehen, Kind. Pass’ auf dich auf und komme uns recht oft besuchen. Schreibe so oft es geht, das wird Mutter helfen und ich würde mich auch sehr freuen. Wir haben dich lieb, Kind.« Es war das erste Mal, dass der Vater diesen Satz zu ihr sagte. Er war kein Mann, der seine Gefühle so offen zeigte, und es bewies Katharina, dass auch der Vater schwer an diesem Abschied zu tragen hatte.

Er half ihr die hohen Stufen in den Waggon hinauf, schloss nach dem Abfahrtsignal die schwere Tür und lief ein Stück neben dem Zug her, als der langsam fahrend den Bahnhof verließ und allmählich Fahrt aufnahm. Schon hatte er die Hohenzollernbrücke erreicht, die die Altstadt Kölns mit dem Stadtteil Deutz verband.

Paul Knieschitz winkte noch, als der Zug bereits kaum noch zu sehen war. Er wusste zwar, dass seine Tochter ihn nicht mehr sehen konnte, doch er war sich sicher, dass sie es zumindest ahnen würde, dass er ihr hinterher winkte. Dann verließ er mit schweren Schritten und gebeugtem Rücken den Bahnhof und wischte sich mit seinem Jackenärmel die Tränen aus den Augen.

Katharina hatte es sich in ihrem Abteil, das sie sich mit einem älteren Ehepaar teilte, bequem gemacht. Die Eheleute musterten das Mädchen verstohlen und fragten sich sicher, wohin so eine junge Frau in diesen unruhigen Zeiten wohl fahren mochte, doch Katharina wollte von sich aus kein Gespräch beginnen. Stattdessen holte sie ein Buch hervor und schlug es auf, doch ihr Blick war getrübt. Sie musste sich große Mühe geben, nicht doch noch zu weinen, denn nun erst, nachdem der Zug seine volle Fahrt aufgenommen hatte, war ihr mit einem Mal bewusst, dass sie ihre Eltern für Monate nicht sehen würde. Außerdem hatte sie ein wenig Angst vor dem, was sie in der Fremde erwartete.

Doch mit dem Optimismus ihrer zweiundzwanzig Jahre wollte sie all die Schwierigkeiten meistern.

Der Zug hatte zwar einen Speisewagen angekoppelt, aber Katharina würde ihn nicht aufsuchen, denn ihre Mutter hatte sie ja mit ein paar Broten, zwei hartgekochten Eiern und ein paar Äpfeln versorgt. Das sollte bis Berlin reichen.

In Berlin musste sie dann allerdings für eine Nacht eine Pension aufsuchen. Dort würde sie sich für die Weiterfahrt nach Königsberg sicher mit etwas Proviant versorgen können.

Sie schaute aus dem Fenster und sah Felder und Wälder vorüberhuschen. Bald schon erreichte der Zug das Ruhrgebiet und auch in jenen Städten waren die schweren Schäden der Bombenabwürfe erkennbar.

Schließlich wurde sie von dem älteren Ehepaar doch noch in ein Gespräch verwickelt und verriet ihnen dabei den Grund ihrer Reise. Es war ihr inzwischen gar nicht unrecht, dass die beiden Herrschaften so lebhaft mit ihr plauderten, vertrieb es doch für ein paar Stunden die bangen Gedanken.

Am Nachmittag, um sechzehn Uhr fünfundzwanzig, hatte sie Berlin-Spandau erreicht. Etwas hilflos stand sie auf dem Bahnsteig und hielt Ausschau nach einem Kofferwagen.

Ein Bahnmitarbeiter war auf das Mädchen aufmerksam geworden und fragte nach ihrem Reiseziel. Schließlich gab er der jungen Lehrerin den Rat, mit ihrem vielen Gepäck ein Taxi zu nehmen. Er half ihr mit dem Gepäck bis auf den Bahnhofsvorplatz, winkte einem Taxi und verabschiedete sich dann.

Der Taxifahrer chauffierte die junge Frau schließlich zu der besagten Unterkunft. Sie befand sich in einer Seitenstraße, die von Linden flankiert wurde.

In der Pension wurde Katharina von einer älteren Frau mit rundem Gesicht und ebensolchen Hüften empfangen.

Die Wirtin rief freundlich, mit Berliner Dialekt: »Aha, da kommt ja meen Pangsionsjast! Komm rin in die jute Stube, meene Kleene! Na, wie war die Reise? Siehst ja aus wie Braunbier mit Spucke. Ach wat, ick quatsche dir voll und du hast bestimmt Hunger und Durst. Stell die Koffa uff’n Boden, setz dir erstmal off die Bank und ruh dir aus. Ick bring dir jleich ma eene Erfrischung und dann traach ick dir die schweren Brocken von Koffa die Stieje ruff, die is nämlich janz schön steil. Die Tasche kannste alleene trajen.«

Katharina war erstaunt, so überschwänglich empfangen zu werden, obwohl sie nur eine Nacht bleiben würde. Sicher war die Witwe Kleinschmidt froh, etwas Abwechslung zu bekommen.

Sie brachte Katharina eine Zitronenlimonade und wartete, bis ihr Gast das Glas geleert hatte.

Daraufhin sagte sie im Berliner Kommandoton: »So, und nun legste ab, Mädel! Dein Zimmer is eene Treppe höher. Kannst schon nach oben jehen, ick bring dir jleich deine Koffa hinterher.«

Kurz nachdem Katharina ihr Zimmer betreten hatte, kam auch schon die Wirtin mit den schweren Koffern die Treppen herauf gestapft.

Dem Mädchen war es peinlich, dass eine Frau, die wohl dreißig Jahre älter als sie selbst war, ihr das Gepäck nachtrug, doch die Wirtin hatte ihren vorsichtigen Einwand mit einer resoluten Handbewegung weggewischt.

»Mach dir een wenig frisch Mädchen, ick brüh uns inzwischen eenen ordentlichen Kaffe, natürlich Bohne und keen Muckefuck. Ja, für jute Jäste hat die Witwe Kleinschmidt immer een bisschen wat Ordentlichet. Beim Kaffe erzählste mir een bischen wat von deine Reise. Ick quassel nämlich nich nur jerne, ick bin ooch schrecklich neujierig und ick habe in der schweren Zeit nich mehr so viele Jäste. Die Front schluckt die jungen Männer, die sonst bei mir jewohnt haben und Dauerjäste jibt et schon lange nich mehr.«

Nachdem sich Katharina erfrischt hatte, ging sie, wie gewünscht zur Wirtin in die gute Stube hinunter.

Kaffeeduft begleitete ihre Schritte auf der steilen Treppe abwärts und wies ihr den richtigen Weg.

Frau Kleinschmidt hatte den Kaffee bereits eingegossen und sogar ein paar Plätzchen in einer Glasschale bereitgestellt.

Sie lächelte Katharina entgegen und forderte sie auf, sich zu setzen. Als Katharina der Forderung nachgekommen war, sagte die Wirtin: »So, und nun erzähle mir ma, wohin deine Reise jehen soll.«

Katharina nippte an ihrem heißen Kaffee und erzählte der Witwe, dass sie nach Königsberg reist, um sich bei ihrem neuen Arbeitgeber, dem Kreisschulrat, vorzustellen.

Außerdem vergaß sie auch nicht zu berichten, dass sie in Loditten unterrichten wird.

Frau Kleinschmidt hörte der Erzählung aufmerksam zu und sagte dann: »Da fährste morjen früh in Charlottenburg vom Stettiner Bahnhof ab. Den Zug nehm’ ick ooch imma, wenn ick meene Schwester in Elbing besuche. Die is dort mit een Apotheker verheiratet, aba jetz war ick schon eene Weile nich mehr dort. Ick trau dem Frieden da nich so recht. Morjen früh fährste mit der Benzindroschke zum Bahnhof, det is jar nich so weit.«

Im Verlauf des Gespräches fand Katharina heraus, wieso die Frau so überaus freundlich zu ihr war. Frau Kleinschmidt hatte nämlich eine Tochter, die vor einigen Jahren nach Stuttgart gezogen war. Sie arbeitet dort als Ärztin an einem Krankenhaus und kam nur noch selten zu Besuch. Briefe und Telefonate hielten die Verbindung zwischen den beiden Frauen seitdem aufrecht.

Als sie das erzählte schlichen sich Tränen in die Augen der sonst so resoluten Frau und sie wurde sogar für Augenblicke still.

Katharina empfand für diese nette Frau ein starkes Mitgefühl und konnte nun den Trennungsschmerz ihrer Eltern noch besser verstehen. Zum Trost nahm sie eine Hand der Witwe in ihre Hände und hielt sie fest umschlossen. In ihr war kein Gefühl der Fremde, sondern es war, als würde sie diese Frau schon lange kennen.

Beim Abendessen waren die trüben Gedanken jedoch verflogen und die beiden Frauen machten sich noch ein paar gemütliche Stunden, ehe Katharina in ihr Zimmer ging.

In ihrem Kopf kreisten die Gedanken und ließen sie lange nicht einschlafen.

Vorsichtiges Klopfen weckte sie am nächsten Morgen.

Frau Kleinschmidt hatte bereits das Frühstück bereitet und wartete, bis Katharina ihre Morgentoilette verrichtet hatte.

Das Morgengespräch war nicht so unbeschwert, wie das am Abend zuvor, der Abschied trübte ein wenig die Stimmung. Kurz nach sieben Uhr rief die Wirtin ein Taxi, denn die Abfahrtszeit des Zuges war um sieben Uhr dreiundfünfzig. Um achtzehn Uhr sollte er dann planmäßig in Königsberg ankommen.

Beim Abschied drückte Frau Kleinschmidt Katharina fest an sich, gab ihr neben einem Frühstücksbeutel noch einen Zettel in die Hand und sagte: »Hier haste noch mal meine Adresse. Ick würd’ mir freuen, wenn du mir mal schreibst, wie et dir so jeht. Pass’ of dir uff, meene Kleene, so janz alleene in die Fremde is et nich leicht.«

Katharina versprach ihr das gern und sie wollte diesen Brief auch tatsächlich schreiben.

Wie wichtig der kurze Kontakt mit der älteren Dame für Katharina einmal sein würde, konnte sie in jenem Augenblick nicht ahnen.

Bahnhöfen wohnten meist ein und dieselben Gemeinsamkeiten inne. Meist herrschte in ihnen laute Betriebsamkeit. Menschen hasteten über Treppen, um zu ihren Bahnsteigen zu gelangen, und Nachzügler versuchten, ihren Zug zu erreichen. Gespräche verstummten für Augenblicke, wenn Durchsagen aus den Lautsprechern hallten, um unmittelbar darauf wieder aufgenommen zu werden. Menschen lachten zur Begrüßung und weinten zum Abschied, vor allem, wenn die Reise der Männer an die Front ging.

Inmitten jener Betriebsamkeit befand sich auch Katharina mit ihren zwei Koffern und der schweren Reisetasche.

Ihre Handtasche, mit dem langen Riemen, hatte sie sich vorsichtshalber umgehängt. In ihr befanden sich ihre Dokumente und die Papiere für das Kirchen- und Schulamt in Königsberg, natürlich auch ihr Portemonnaie und die Fahrkarten. Das alles durfte keinesfalls verloren gehen.

Endlich wurde der Zug vor den Bahnsteig geschoben, von dem Katharina abfahren musste.

Zwei Soldaten halfen ihr mit den schweren Koffern und bereits wenige Minuten später fuhr der Zug durch das morgendliche Berlin seinem Bestimmungsort entgegen.

Auch für diese Reise galt Katharinas Platzreservierung und so hatte sie beruhigt ihr Abteil aufsuchen können.

Zu ihrem Glück war sie die Erste im Abteil und konnte ihre Koffer in die Ablage hieven, bevor die übrigen Reisenden ihre Plätze einnehmen würden. Die Tasche stellte Katharina hinter ihre Beine.

Allmählich hatten sich noch fünf weitere Reisende dazugesellt, so dass es recht eng wurde.

Katharina hatte sogar einen Fensterplatz, so konnte sie die Fahrt einigermaßen entspannt genießen. Meist schaute sie aus dem Fenster oder las in ihrem Buch, doch je näher sie ihrem Ziel kam, umso mehr kreisten ihre Gedanken darum, was sie in der Fremde erwarten würde.

Fast fahrplantreu traf der Zug kurz nach achtzehn Uhr auf dem Hauptbahnhof in Königsberg ein und zum Glück konnte Katharina einen Kofferwagen ergattern, mit dem sie ihr Gepäck nach draußen bugsierte. Kurz darauf stand sie etwas verloren auf dem Bahnhofsvorplatz.

Jetzt musste sie ihre Unterkunft finden, die sich in der Nicolaistraße in einem kleinen Hotel für alleinreisende Mädchen befand.

Sie schaute auf ihren »Streckenplan« und las darauf, dass sie ihren Weg nun mit der Straßenbahn fortsetzen musste. Wahlweise konnte sie mit den Bahnen der Linien drei oder vier fahren, die direkt gegenüber dem Hauptbahnhof auf dem Reichsplatz hielten. Ihr Fahrziel war der Steindamm. Dort an der Steindammer Kirche musste sie die Tram verlassen.

Gleich gegenüber der Haltestelle befand sich die Nicolaistraße.

Die Straßenbahn der Linie vier wartete bereits auf Fahrgäste, so dass Katharina keine weitere Zeit verstreichen ließ und einstieg. Auf ihrer Fahrt bewunderte das Mädchen die alte Pregelstadt Königsberg mit ihren prächtigen Bauwerken. Obwohl die Fahrt nicht sehr lange dauerte, war sie auf Anhieb von dieser Stadt begeistert, und sie nahm sich vor, sobald es möglich war, die Altstadt genauer zu erkunden.

Vom Reichsplatz aus fuhr die Tram auf die Vorstädtische Langgasse, vorbei am imposanten Gebäude der Börse, dann über die Kneiphofsche Langgasse und die Kantstraße über den Kaiser Wilhelm Platz, mit dem historischen Schloss und der Schlosskirche. Vom Platz vor der Hauptpost war es dann bis zur Steindammer Kirche nicht mehr sehr weit.

Bereits am nächsten Morgen würde sie diese Strecke wieder zurück fahren.

Das kleine Hotel in der Nicolaistraße war leicht zu finden und nach der freundlichen Aufnahme fand sich Katharina bald auf ihrem Zimmer wieder. Viel auszupacken hatte sie nicht, nur ein paar Dinge für die Abend- und Morgentoilette, frische Wäsche für den nächsten Tag und Schlafzeug für die Nacht.

Nachdem sie an der Reception die Adresse des Schulamtes, das sich im Stadthaus befand, in Erfahrung gebracht hatte, verließ sie am Morgen, gut ausgeschlafen und frisch gestärkt, das Hotel. Ihr Gepäck hatte sie zurückgelassen, das wollte sie auf der Rückfahrt abholen. Sie fuhr nun von der Haltestelle am Steindamm die wenigen Haltestellen in Richtung des Nordbahnhofes und stieg dort am Hansaplatz aus.

Das Stadthaus beherbergte die meisten öffentlichen Ämter der Stadt und es dauerte eine Weile, bis sich Katharina zum Schulamt durchgefragt hatte. Nach einer kurzen Wartezeit wurde sie von einem freundlichen älteren Herren begrüßt, der, wie er ihr erzählte, bereits seine Pension genoss, doch wegen der vielen Einberufungen der jüngeren Beamten wieder im Dienst war. Sie erfuhr auch, dass sie eigentlich dem Schulamt in der Kreisstadt Heiligenbeil unterstellt war, doch auch dort litt das Amt auf Grund der vielen Einberufungen an Personalmangel, deshalb musste Katharina sich nun in Königsberg melden.

Nachdem der freundliche Herr Katharinas Papiere in Augenschein genommen und besonders ihr Examenszeugnis wohlwollend studiert hatte, wies er sie in ihren neuen Aufgabenbereich ein.

Momentan unterrichtete in der Schule in Loditten nur noch ein Lehrer die einhundertzweiunddreißig Schüler der sechsjährigen Mittelschule und wartete sehnsüchtig auf Entlastung. Auf Katharina würde also in Zukunft eine Menge Arbeit zukommen.

Zum Ende des Gespräches verwies er die junge Frau an den Bürgermeister von Loditten, der mit ihr die Unterkunftsfrage klären würde. Mit ein paar guten Wünschen entließ der freundliche Mann die neue Lehrerin.

Als Katharina auf der Straße stand, war ihr leicht ums Herz. Sie freute sich auf die Arbeit mit den Kindern und war gespannt auf alles Weitere.

Nachdem sie ihr Gepäck abgeholt hatte, saß sie nun wieder in der Straßenbahn, die sie zum Hauptbahnhof brachte. Dort musste sie in den Zug nach Allenstein steigen und sieben Stationen bis nach Zinten fahren.

Der letzte Zug war vor einer Stunde abgefahren und auf den nächsten musste sie zwei Stunden warten.

Katharina suchte sich zuerst eine Kofferkarre, danach eine freie Bank in der großen Wartehalle und beobachtete die Menschen, das vertrieb ihr die Zeit.

Irgendwann wurde durch die Lautsprecher bekanntgegeben, dass der Zug nach Allenstein einfährt. Auf der letzten Etappe ihrer Reise fuhr Katharina nun zugleich einem neuen Lebensabschnitt entgegen.

In Zinten angekommen, erkundigte sie sich beim Bahnhofspersonal nach einer Reisegelegenheit nach Loditten, doch der Mann hinter dem Schalter machte ihr lächelnd begreiflich, dass es nach Loditten nur zu Fuß ging, seit die Busverbindung eingestellt wurde, es sei denn, jemand würde sie abholen.

Da war guter Rat teuer, doch plötzlich fiel ihr der Bürgermeister von Loditten ein, den sie vom Bahnhof aus anrief. Er versprach der neuen Lehrerin, dass er sich sofort um ihre Abholung bemühen würde.

Geduldig wartete Katharina auf das Fahrzeug.

Von einer Bank des kleinen Parks, visasvis des Bahnhofs, schaute sie sich die nähere Umgebung an und war versucht, bei jedem Auto, das sie von weitem sah, aufzustehen, doch keines der Fahrzeuge hielt an, um sie abzuholen.

Das Klappern von Pferdehufen lenkte ihre Aufmerksamkeit auf ein Pferdegespann in der Bahnhofstraße.

Ein Bauer fuhr mit seinem Pferdefuhrwerk direkt auf den Bahnhofsvorplatz, hielt an und stopfte sich auf dem Kutschbock eine Tabakspfeife, lehnte sich zurück und stieß dicke Qualmwolken aus. Er schaute in die Runde und erblickte das fremde junge Mädchen auf der Bank, deren Kleidung sich doch ein wenig von der Kleidung, der jungen Mädchen in Loditten und den umliegenden Dörfern unterschied.

»Tachche, sind sie amend das Madamche, das unse Kinder unterrichten soll?«

Als Katharina das nickend bestätigte, stieg der Bauer vom Kutschbock, ging zu ihr hin, nahm kurzerhand beide Koffer in die Hände, die am Boden standen und wuchtete sie auf die Ladefläche des Pferdewagens.

Den Protest Katharinas wehrte er mit den Worten ab:

»Na, dann hocken se sich mal auf den Bock, die Pferdchen wollen wieder nach Hause und das junge Frollejn will doch bestimmt nich auf de Bank iebernachten?«, nahm ihre Reistasche und stellte sie ebenfalls auf die Ladefläche.

Katharina begriff, dass der Bauer mit dem Pferdefuhrwerk ihr Chauffeur war. Sie hatte als Fahrgelegenheit zwar ein Auto erwartet, doch mit welch einem Transportmittel sie nach Loditten fuhr, war ihr schließlich egal, Hauptsache, sie musste die Strecke mit ihrem Gepäck nicht laufen.

Ihr Weg führte sie auf der Straße südöstlich von Zinten aus in Richtung Preußisch Eylau einer hügeligen Landschaft entgegen, die »Der Stablack« genannt wurde, einer im Tertiär von Moränen geprägten Landschaft.

Nach einigen Kilometern bog der Bauer mit seinem Fuhrwerk allerdings auf eine mit Feldsteinen gepflasterte schmale Straße ab, wie sie überall in der Gegend zu finden war. Der Randbereich der Straße war sandig und für Fahrradfahrer ungeeignet.

Während der Fahrt paffte der Bauer, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen, und fragte mit zusammengebissenen Zähnen, wo das Marjellchen denn eigentlich zu Hause ist.

Katharina antwortete ihm wahrheitsgemäß, dass ihre Heimat Köln ist und fragte, wohin er sie denn bringen würde.

»Nach Loditten«, war die kurze Antwort.

»Nein, ich meine, wo ich untergebracht werde.«

»Davon wejß eck nuscht nich, eck soll das Frollejn erst mal zum Birjermejster bringen«

Nun war Katharina auch nicht viel schlauer als vorher.

Sie nahm sich vor, sich einfach überraschen zu lassen.

Der Bauer paffte und plauderte mit rollendem »R« und obwohl Katharina nicht alles verstand, konnte sie sich doch bereits ein gewisses Bild von Land und Leuten machen.

Die Pferde zogen den Wagen munter eine längere Steigung empor. Links und rechts säumten nun Linden die Straße und bildeten eine lange Allee.

Ab und zu konnte sie die Entfernung zurück nach Zinten auf einem der Begrenzungssteine am Straßenrand ablesen.

Von der Kuppe der Steigung erkannte Katharina inmitten von Bäumen die Kirche eines Dorfes und auch die Hausdächer mit roten Ziegeln. Das musste Loditten sein. Ihre Anspannung wuchs, doch auch ihre Erwartung an die kommende Zeit.

Ihr gefiel die sanft hügelige Landschaft auf Anhieb und wenn alle Menschen so zugänglich waren wie der Kutscher, dann würde es ihr in Loditten sicher gefallen.

Sie passierten die ersten Häuser, die mit roten gebrannten Ziegeln gemauert waren. Neben den Haustüren stand meist eine Holzbank, auf der zum Feierabend die älteren Hausbewohner saßen und mit ihren Nachbarn plachanderten. Zuweilen waren Holzpantinen an die Wände gelehnt, um die guten Schuhe nicht unnötig abzunutzen oder sie im Stall zu beschmutzen.

Kinder trieben schreiend mit ihren Peitschen kleine Holzkreisel vor sich her, Katzen rekelten sich im Schein der Nachmittagssonne auf Fenstersimsen und Hunde stromerten neugierig durch das Dorf. Es war eine friedliche Idylle an jenem Sommertag im August 1942.

Laut klappernd zogen die beiden Pferdchen den Wagen über das Feldsteinpflaster. Die Räder verursachten mahlende Geräusche auf den Steinen und dem losen Sand im Randbereich der Straße und hinterließen in ihm eine tiefe Rinne.

Hinter der ersten Biegung stand die Kirche erhaben zwischen hohen Bäumen. Ihr gegenüber befand sich das Wirtshaus »Zum roten Krug«, dem sich ein großer Saal anschloss. Katharina fragte den Kutscher, ob dort auch manchmal getanzt wird. »Ei, ja. Ab und zu spielt schon die Musik zum Schwoofen.«

Obwohl Katharina gern tanzte, ahnte sie, in den nächsten Wochen gar keine Zeit für Vergnügungen zu haben.

Links neben der Kirche befand sich das Pfarrhaus, in dem auch die Pfarrersfamilie wohnte. Um die Kirche herum gruppierten sich kleinere Bauernhöfe, dessen Ackerflächen meist zwanzig bis dreißig Morgen betrugen. Die größeren Anwesen mit über einhundert Morgen befanden sich an den Dorfrändern. Das größte Gut jedoch gehörte dem Baron von Lübzow, der neben der Viehzucht und dem Ackerbau eine erfolgreiche Trakehnerzucht betrieb, wie ihr der Bauer erklärt hatte. Sogar wichtige Preise hatten die Pferde des Barons bereits gewonnen.

Zum Besitz des Gutsherren gehörten außerdem die Vorwerke Buchwäldchen, Eichgraben und Karlshof.

Mit Stolz, als wäre er selbst dabei gewesen, hatte der Kutscher der jungen Frau unterwegs erzählt, dass der Baron im ersten Weltkrieg als Oberst unter Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg gedient hatte, der als pensionierter Offizier überraschend noch einmal aktiv in das Kriegsgeschehen eingegriffen hatte.

Paul von Hindenburg hatte damals den Generalmajor Erich Ludendorff als Stabschef eingesetzt und einer der Stabsoffiziere war eben der Baron von Lübzow, der 1914 sogar an der Schlacht bei Tannenberg teilgenommen hatte, als die deutsche Armee die russischen Truppen nach einem Einfall in die deutsche Provinz zurückschlug.

Der Baron hatte sich damals während der Schlacht mit taktischem Geschick hervor getan.

Später besuchte Kaiser Wilhelm der II. die Familie auf ihrem Gut, zeichnete den Baron mit einem Orden aus und nahm vom Herrn Baron einen stattlichen Trakehner als Geschenk entgegen.

Der Bauer lenkte sein Fuhrwerk auf ein Gebäude zu, dass sich von den übrigen Häusern in der Straße unterschied. Es sah vornehmer aus und war hell geputzt. Unterhalb der Dachkante verzierte eine aus roten Backsteinen gemauerte Kante das Haus. Ebenso waren die Fenster eingerahmt.

Vor diesem Haus hielt der Bauer sein Gefährt und verkündete: »So, da weern wa. Kannst jlejch rejn zum Birjermejster jehen. Ich warte bei mejnen Pferdchen.«

Der Bauer war inzwischen zum allgemein gebräuchlicheren »Du« übergegangen und Katharina hatte nichts dagegen.

Die junge Frau stieg von ihrem Sitz auf dem Kutschbock, richtete ihre Kleidung und ging mit festem Schritt die Treppe zum Eingang des Hauses empor.

Der Bürgermeister erwartete die junge Frau bereits und begrüßte sie sehr freundlich. Das Büro war ohne Pomp eingerichtet, nur der Schreibtisch war aus Eiche und mit Schnitzereien verziert.

Das Gespräch mit dem Mann war für Katharina sehr angenehm und die Formalitäten unkompliziert.

Der Bürgermeister freute sich, eine zusätzliche Lehrkraft im Dorf begrüßen zu können, denn der einzige verbliebene Lehrer war mit den vielen Schülern schlichtweg überfordert.

Die Sekretärin des Bürgermeisters schien über den hübschen Neuzuzug nicht sonderlich erfreut zu sein, dafür aber umso mehr der verlängerte Arm des Ortsbauernführers, ehemaliger Gutsknecht und jetziger SA-Mann Anton Jakubasch, der sich von der SA anwerben ließ und nun deren braune Uniform trug. Er »residierte« visasvis des Bürgermeisterbüros, verfolgte bei geöffneter Tür alle Gespräche mit und taxierte nun die neue Lehrkraft mit lüsternen Augen.

Bis vor zwei Jahren war er noch Knecht beim Baron von Lützow gewesen, doch seit seinem Beitritt zur NSDAP hatte er rasch Karriere gemacht. Nun übte er eine Kontrollfunktion im Dorf aus, doch die Bauern sagten von ihm, dass er nur ein Zuträger für den Ortsbauernführer sei.

Katharinas Unterkunft hatte der Bürgermeister bei der Witwe Schimkus vorgesehen, der ein wenig Zerstreuung gut tun würde. Ihr Mann war vor einem Jahr an der Ostfront gefallen und Wolfgang, der älteste Sohn kämpfte seit Ende 1941 in einer Einheit der 1. Infanteriedivision, die bei Oranienbaum am Finnischen Meerbusen, Teile der sowjetischen Front von ihrer Hauptmacht um Leningrad abschnitt, um in die Leningrader Blockade eingreifen zu können.

Er schrieb leider recht selten, aber Marie Schimkus ahnte, dass ihr Sohn nicht oft die Gelegenheit zum Schreiben haben würde und zu viele Gedanken an die Heimat würden ihn wohl traurig stimmen.

Georg, der jüngere Sohn der Witwe, bestritt derzeit seine Kampfjägerausbildung beim Kampfgeschwader 54 auf Sardinien auf einer Ju 88. Auch er schrieb nicht sehr oft, aber er war ein rechter Hallodri und nutzte seine freie Zeit wohl besser, als Briefe zu schreiben.

Seine Einheit wurde im Kampf gegen die britische 8. Armee bei El-Alamein eingesetzt und hatte außerdem den Auftrag, eine eventuelle Landung der Briten auf italienischem Festland zu verhindern.

Obwohl Katharina sehr erschöpft war, wollte sie gern noch die Schule sehen. Dieser Eifer gefiel dem Bürgermeister und er verwies sie an ihren Kollegen, Herrn Graudenz, der zwei Häuser neben der Schule wohnte.

Bauer Roschkat würde sie dort hinfahren und anschließend auch zu ihrer neuen Zimmerwirtin. Nun wusste Katharina also auch den Namen ihres Chauffeurs.

Ihr Kollege erwies sich als ein gut aussehender Mann von etwa vierzig Jahren, den die Wehrmacht vor zwei Jahren außer Dienst gestellt hatte, weil er einen Lungenschuss abbekam, und seit dieser Zeit Probleme mit der Atmung hatte.

Er war sehr erfreut, durch die neue Kollegin Entlastung zu bekommen, denn einhundertzweiunddreißig Schüler zu unterrichten, erforderte viel »Puste« und die fehlte ihm leider seit seiner Verletzung. Nachdem er den Schlüssel vom Haken im Korridor genommen hatte, liefen die Beiden das kurze Stück zur Schule.

Bald hatten sie ein größeres Gebäude aus roten Klinkern erreicht. Herr Graudenz öffnete die Schultür und führte Katharina durch die Räume des Hauses. Dabei erklärte er ihr, dass es sich bei diesem Haus um eine Sechs-Klassen-Schule mit berufsvorbereitendem Charakter handelte, in der Schüler aus mehreren Dörfern unterrichtet wurden.

Das siebente und achte Schuljahr mussten die Kinder dann in der Fritz-Schlemm-Schule in Zinten absolvieren.

Je nach Lehrplan sollten jetzt die Schüler auf beide Lehrer aufgeteilt werden, so dass die Klassenstärke für jeden Lehrer etwa bei fünfundsechzig Schülern lag. Herr Graudenz wollte dabei dem praktischen Unterricht den Vorzug geben.

Das war der jungen Frau sehr recht, denn sie kannte sich in diesem Fachgebiet kaum aus und wusste nicht, wie sie als Stadtpflanze den Bauernkindern den praktischen Unterricht im Stall und auf dem Feld vermitteln sollte.

Die neue Lehrerin hatte noch drei Wochen Zeit, sich auf den Unterricht vorzubereiten. Auf sie kam auch gleich die Einschulung der Erstklässler zu, denn seit dem vergangenen Jahr begann das Schuljahr nicht mehr nach den Osterferien, sondern am ersten September. Die junge Frau war froh, dass man ihr diese Vorbereitungszeit zugestanden hatte, denn sie hatte noch nie vier Klassenstufen auf einmal unterrichtet.

Der Präzenter, wie in Ostpreußen der Dorfschullehrer genannt wurde, geleitete die junge Frau nach der kurzen Einführung und einiger Hinweise und Ratschläge aus dem Schulgebäude. Dort verabschiedete er sich von ihr, jedoch nicht, ohne ihr seine Hilfe zuzusichern, die sie in den wenigen Tagen bis zum Schulbeginn sicher noch benötigen würde.

Draußen wartete noch immer Bauer Roschkat, der die Lehrerin nun mit ihrem Gepäck zur Witwe Schimkus kutschierte.

Katharina hatte sich eine alte faltige Frau vorgestellt, denn das Wort »Witwe« assoziierte sie bisher immer mit einer alten Dame. Sie war deshalb erstaunt, dass die Witwe höchstens fünfundvierzig Jahre alt war und trotz ihres Kummers noch immer eine bestechend schöne Frau.

Nach der Begrüßung, die auf beiden Seiten eine gewisse Befangenheit verriet, trug Bauer Roschkat dem Lehrerfräulein das Gepäck in ihr Zimmer und verabschiedete sich mit qualmender Tabakspfeife.

Die Witwe reichte Katharina ihre Hand, die der jungen Frau kalt erschien. Nicht jedoch die Witwe selbst. Sie hatte eine warme Stimme und ein freundliches Wesen.

Katharina hatte den Eindruck, dass sich diese Frau über den neuen Hausgast freute. Frau Schimkus bot Katharina nach der Begrüßung auch sofort einen Kaffee an und verriet ihr, dass sie zum Empfang der Lehrerin einen Pflaumenkuchen gebacken hatte. Erfreut nahm Katharina die Einladung an und ihr Gefühl sagte ihr, dass mit Frau Schimkus sicher gut auszukommen sein wird.

Die nächsten zwei Stunden widmete sie sich ihrem Gepäck. Als sie ihre Koffer und die Reisetasche ausgepackt hatte, wurde ihr zum ersten Mal deutlich bewusst, dass sie nun für eine lange Zeit von ihren Eltern getrennt sein würde. Dabei vermisste sie ihre Eltern bereits schon jetzt, doch sie hoffte, sie während den Weihnachtsferien besuchen zu können.

Zunächst überwog aber die Vorfreude auf ihre neue Aufgabe, die Arbeit mit den Kindern.

Plötzlich unterbrach ihre Gedanken ein Rufen nach ihrem Namen. Frau Schimkus stand unten an der Treppe und lud Katharina zum Abendbrot ein.

Überrascht, aber hoch erfreut, kam das Mädchen der Einladung nach, denn obwohl sie am Nachmittag zum Kaffee zwei Stücke Pflaumenkuchen gegessen hatte, verspürte sie doch ein Hungergefühl. Dabei fiel ihr ein, dass sie mit der Hausherrin noch nicht einmal über die Miete und eine eventuelle Pension gesprochen hatte, denn sie wusste im Moment nicht, wie sie sich sonst beköstigen sollte. Sie hatte in ihrem Zimmer zwar einen Kachelofen mit einer »Röhre« zum Äpfel braten oder Essen warmstellen, nicht jedoch zum Kochen. Außerdem wusste sie auch nicht, wo sie das Heizmaterial für den Winter herbekommen sollte, das musste sie unbedingt mit ihrer Vermieterin besprechen.

Ein Novum für sie war allerdings die Toilette.

Bisher war Katharina es gewohnt, dass sich die Toilette im Haus befand, wenn auch eine Treppe unter der elterlichen Wohnung, aber im Winter war es wenigstens warm darin.

Bei ihrer Vermieterin befand sich das »stille Örtchen« jedoch auf dem Hof und die junge Frau mochte sich gar nicht vorstellen, wie kalt es im Winter darin sein würde.

Auf jeden Fall würden ihre Toilettengänge zumindest in der kalten Jahreszeit sehr zeitbegrenzt ausfallen. Doch wie pflegte ihre Mutter in solcher Situation zu sagen? »Der Mensch gewöhnt sich an alles« und genau diese Einstellung hatte sie ihrer Tochter mitgegeben.

Als die Lehrerin die Stufen zur Küche hinabging, strömten ihr verführerische Düfte entgegen. Es roch nach Bratkartoffeln mit Speck, das Leibgericht der jungen Frau.

Ihre Wirtin hatte im Wohnzimmer gedeckt, obwohl Katharina lieber in der Küche gegessen hätte. Sie war es von zu Hause so gewohnt, doch sie hütete sich, das zu verraten.

Zu den Bratkartoffeln gab es zu ihrer Freude sogar Spiegeleier, ein richtiges Festessen, und sie ließ sich nicht lange bitten und langte tüchtig zu.

»Frau Schimkus, Sie verwöhnen mich aber. Am Nachmittag bereits der vortreffliche Pflaumenkuchen und nun auch noch mein Leibgericht!«, schwärmte das Mädchen.

»Sie waren doch lange genug unterwegs und werden sicher Hunger bekommen haben«, erwiderte ihre Wirtin:

»Wie haben Sie sich denn ihren Aufenthalt vorgestellt? Möchten Sie sich selbst beköstigen? Dann könnten Sie meinen Herd benutzen, oder soll ich lieber für sie kochen?«

»Ich weiß ja hier noch gar nicht Bescheid. Gibt es denn im Dorf einen Krämerladen, in dem ich einkaufen könnte? Dann brauchte ich ja auch Kartoffeln und Milch und Butter und Öl, und all die Dinge, die man zum Kochen eben braucht. Also wenn es möglich wäre, dann würde ich Ihr Angebot gerne annehmen und mich von Ihnen beköstigen lassen, wenn ich es mir leisten kann.«

Die Witwe antwortete: »Ach, da machen Sie sich mal keine Sorgen, ich komme Ihnen da entgegen. Ich bin ja froh, wenn ich wieder ein wenig Gesellschaft bekomme. Seit dem Tod meines Mannes und der Einberufung meiner Söhne ist es so ruhig im Haus. Aber wenn Sie wirklich einmal eine Kleinigkeit benötigen, da gibt es im Dorf tatsächlich einen Gewürzer, bei dem bekommen sie allerlei Lebensmittel, meist allerdings nur auf Marken. Aber meine Hühner versorgen mich gut mit Eiern, außerdem habe ich ein paar Kaninchen, ein paar Enten und Gänse. Sie müssen also nicht befürchten, bei mir zu verhungern.«

Plötzlich sagte sie resolut: »Nun aber los, sonst werden die Kartoffeln noch kalt.«

Katharina langte ordentlich zu. Sogar einen Nachschlag, den ihr Frau Schimkus unaufgefordert auftat, aß sie restlos auf.

Nach dem Abendbrot fragte Katharina: »Frau Schimkus, ich habe Ihre Back- und Kochkunst ja nun kennengelernt. Was hatten Sie sich denn für Miete und Pension vorgestellt, ich könnte dann meine monatlichen Ausgaben planen.«

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dann würde ich für die Miete sieben Reichsmark bekommen und wenn Sie Kost und Logie haben möchten, dann hielte ich fünfundvierzig Reichsmark für angemessen. Das Holz zum Heizen bekommen sie vom Bürgermeister zugewiesen, das stellt die Gemeinde kostenlos zur Verfügung. Nur wenn Sie im Winter wirklich mit Kohle heizen wollen, dann müssten Sie die in Zinten beim Brennstoffhändler bestellen. Letzten Winter hat der Zentner allerdings bereits zwei Reichsmark gekostet.

Sie dürfen sich aber auch im herrschaftlichen Wald trockene Knüppel auflesen, oder einen Antrag auf kostenloses Windbruchholz stellen. Die Zwangsarbeiter bringen es Ihnen dann gern und freuen sich immer über ein paar Dittchen.«

»Vielen Dank, da nehme ich Ihr Angebot natürlich gern an. Das ist ja nicht einmal ein Drittel meines Gehalts und das Holz habe ich noch kostenlos dazu, na ja, fast«, lachte Katharina erfreut. »Mit der Kohle überlege ich es mir noch«, fügte sie hinzu.

Nachdem diese Fragen geklärt waren, unterhielten sich die beiden Frauen noch eine halbe Stunde, dann wussten beide die wichtigsten Dinge voneinander.

Frau Schimkus hatte der jungen Frau vom Tod ihres Mannes erzählt und wie schwer es ihr ums Herz war, dass beide Söhne an der Front kämpften. Jeden Tag bangte sie um ihr Leben. Dann gestand sie der Lehrerin, dass sie sehr froh war, sie bei sich zu haben.

Katharina wünschte der Witwe eine gute Nacht und ging nachdenklich, doch auch mit einem Gefühl der Freude und der Geborgenheit, auf ihr Zimmer.

Bequem in den Kissen liegend, dachte sie daran, dass sie gleich am nächsten Tag ihren Eltern einen Brief schreiben muss und auch Frau Kleinschmidt in Berlin Bericht erstatten wollte, und schlief kurz darauf ein.

Obwohl sie noch ein paar freie Tage vor sich hatte, wollte sie bereits am nächsten Morgen in die Schule gehen und überprüfen, wie es mit dem Schulmaterial aussah.

Fehlende Dinge durfte sie in einem gewissen Umfang in Absprache mit ihrem Lehrerkollegen bestellen. Das hatte ihr der Schulrat zugestanden.

Das Frühstück nahm sie gemeinsam mit Frau Schimkus bei nettem Geplauder ein, doch sofort danach ging sie zum Bürgermeister und bat um einen Schlüssel für das Schulgebäude, da sie sich mit den Lehrmitteln vertraut machen wollte.

Der Mann drückte der neuen Lehrerin ein kleines Schlüsselbund in die Hand und sagte: »Hier, das sind die Schlüssel für den Haupteingang und die Klassenräume. Sie können das Schlüsselbund behalten.«

Als sich Katharina wenig später verabschiedet hatte, sagte der Bürgermeister zu seiner Sekretärin: »Ei, das Marjellchen ist sehr eifrig. Hoffentlich bleibt das auch so.«

Schon nach kurzer Inspektion hatte Katharina festgestellt, dass es an vielen Dingen fehlte. Einiges würde sie beim Schulamt bestellen müssen, einiges selbst besorgen und einige Dinge würde sie mit den Kindern gemeinsam basteln.

Basteln sollte überhaupt einen festen Bestandteil in ihrem Unterricht einnehmen, denn wie ihr Herr Graudenz verriet, gab es in dieser Schule keinen Lehrplan. Katharina musste den Unterricht für die über sechzig Schüler selbst gestalten.

Nun freute sie sich noch mehr, dass ihr bis zum Schulbeginn noch drei Wochen Vorbereitungszeit blieben.

Ihr fiel besonders auf, dass viel zu wenige Schulbücher vorhanden waren. Da musste sie unbedingt Abhilfe schaffen. Zumindest auf jeder Schulbank sollte je ein Buch für Deutsch und Rechnen vorhanden sein. Und auf jede Schulbank gehörte auch ein Abakus, war ihre Meinung.

Zwar befand sich auf dem Lehrertisch eine große Rechenhilfe mit farbigen Holzkugeln, doch die war ja das Demonstrationsgerät für den Lehrer.

Gewissenhaft erstellte sie eine Liste aller Bücher und Materialien, die sie benötigte, und verließ die Schule, um sich mit ihrem Kollegen zu besprechen.

Dieses Gespräch verlief nicht gerade ermutigend, denn der Lehrer hatte die Schüler bisher mit den vorhandenen Schulmitteln unterrichtet und bezweifelte, dass das Schulamt alle ihre Wünsche erfüllen würde, doch Katharina wollte sich nicht entmutigen lassen.

Am Nachmittag besuchte sie den »Gewürzer«, den Krämerladen des Dorfes. Im Laden empfing sie zunächst ein Duftgemisch aus Zwiebeln, Kräutern, Dillgurken, Obst, Bier, Brot und Bohnerwachs und es roch nach Lederfett für das Gespannzeug der Pferde. Aber ihr feiner Geruchssinn erschnupperte auch den Geruch von Bohnenkaffee.

Ihre Ankunft hatte sich längst herum gesprochen, trotzdem stellte sie sich dem Krämerehepaar und einigen Kundinnen im Laden vor. Sie wurde freundlich begrüßt und gleich in ein kurzes Gespräch gezogen.

Die Frauen im Laden waren froh, dass die Schule bald wieder losgehen würde, denn ihre Lorbasse machten zu Hause inzwischen schon zu viele Fiesematenten und benötigten wieder mehr Strenge. Es genügte wohl nicht, dass die Mutter ihren Bowkes ein paar Mutzköppe verabreichte, oder ihren Dups versohlte, da sollte ruhig mal wieder eine Tracht mit dem Penter des Lehrers Ordnung schaffen. Die junge Lehrerin konnte ihr Entsetzen nur mit Mühe verbergen, denn von solchen Erziehungsmethoden distanzierte sie sich entschieden. Doch auch sie sollte schon bald merken, dass sie sich vor den größten Rabauken ohne einen Rohrstock tatsächlich keinen rechten Respekt verschaffen konnte.

Der Gewürzer fragte die Lehrerin nach ihren Wünschen und die junge Frau hatte Glück, denn sie bekam tatsächlich eine Dose Bohnenkaffee zu kaufen, außerdem zweihundert Gramm Plätzchen und ein paar Pralinen. Katharina war sehr zufrieden mit ihrem Einkauf. Und obwohl die Delikatessen ein riesiges Loch in ihre Lebensmittelkarte rissen, wollte sie doch gern ihre Wirtin überraschen.

Frau Schimkus freute sich sehr über die Aufmerksamkeiten, bestand aber darauf, dass die beiden Frauen die Kostbarkeiten gemeinsam verzehren. Erfreut stimmte Katharina zu, bat aber noch um etwas Zeit, damit sie ihren Eltern einen Brief schreiben konnte, denn die warteten doch auf Neuigkeiten von ihrer Tochter.

Als Katharina etwa zwanzig Minuten später die Treppe herab kam, öffnete ihre Wirtin sofort die Kaffeedose, um die Kaffeebohnen mit Hilfe einer alten Kaffeemühle zu zerkleinern. Schon beim Öffnen der Dose entwich ein herrlicher Duft, der sich noch steigerte, als Frau Schimkus sich die Kaffeemühle zwischen ihre Knie klemmte und die Leier drehte. Knirschend verwandelten sich die brauen Bohnen in feines Kaffeepulver. Mit heißem Wasser aus der Pfanne ihres Kochherds brühte sie es nun auf, was den Duft noch einmal verstärkte. Genüsslich tranken die Frauen den Kaffee und aßen den Pflaumenkuchen, den Frau Schimkus aus dem Keller geholt hatte. Zwischen den beiden Frauen entspann sich eine heitere Plauderei und sie beschlossen, die Kaffeestunde ab diesem Tag zu einem festen Ritual werden zu lassen.

Nach dem Abendessen lud die Wirtin ihre Mieterin ein, mit ihr den Abend zu verbringen, doch Katharina erzählte ihr von der Witwe Kleinschmidt aus Berlin und dass sie ihr ebenfalls versprochen hatte, regelmäßig Bericht zu erstatten.

Das verstand die Frau und vertröstete sich auf den nächsten Abend. Obwohl die junge Lehrerin erst zwei Tage bei ihr wohnte, hatte sie das Mädchen mit ihrer freundlichen und bescheidenen Art bereits in ihr Herz geschlossen.

Eines Nachmittags erzählte Katharina ihrer Wirtin, dass sie ein paar Bücher benötigte, die sie sich gern in einer Buchhandlung in Zinten besorgen wollte.

Frau Schimkus hatte eine bessere Idee und sagte: »Ich kenne in Königsberg eine sehr gute Buchhandlung. Was halten Sie davon, wenn ich Sie nach Königsberg begleite, Ihnen dort die Buchhandlung zeige und wir uns anschließend einen netten Nachmittag machen? Ich war selbst schon lange nicht mehr in der Stadt, würde sie Ihnen aber gern zeigen.«

»Au, fein! Ich habe gar nicht gewagt, danach zu fragen. Das ist mir nämlich viel lieber, als nach Zinten zu fahren. Ich hatte ohnehin vor, in den nächsten Tagen Königsberg zu besuchen. Außerdem kann ich meine Bestellung für das Schulamt gleich persönlich abgeben.«

Bereits am nächsten Morgen saßen die beiden Frauen im Zug nach Königsberg.

Frau Schimkus nannte der jungen Frau die Namen der Dörfer, an denen sie vorüberfuhren, die Katharina ungewohnt klangen. Lemkühnen, Kuhkehmen, Tykrigehnen, Wangnicken oder Godrienen hießen die Dörfer zwischen Zinten und Königsberg.

Vom Hauptbahnhof aus fuhren sie dann mit der Straßenbahn zuerst zum Schulamt im Stadthaus.

Eine freundliche Dame nahm Katharinas Unterlagen entgegen, überflog die Bestellung und bemerkte: »Erbarmen, da werden wir sicher noch ein wenig streichen müssen.«

Nachdem sie Katharinas enttäuschtes Gesicht sah, versprach sie lächelnd: »Na, ich werde mal sehen, was ich da tun kann«, und stimmte Katharina damit zuversichtlicher.

Nach einer freundlichen Verabschiedung standen die junge Lehrerin und ihre Begleiterin wenige Minuten später an der Tramhaltestelle vor dem Schulamt.

Bereits wenige Minuten darauf führte sie ihre Fahrt zur Buchhandlung »Gräfe und Unzer« am Paradeplatz sechs. Es war die bekannteste und renommierteste Buchhandlung in Königsberg und die größte in Europa.

Die Albertus-Universität im Rücken, blickten die Frauen mit Bewunderung von der gegenüberliegenden Lindenallee des Paradeplatzes auf das riesige Buchhaus, das eher einem Stadtschloss ähnelte.

Selbst Markgraf Herzog Albrecht, der Gründer der Albertus Universität, schien, wenige Meter entfernt, vom Podest seines Reiterstandbildes, mit Wohlwollen auf das Gebäude zu schauen.

Als Katharina und ihre Begleiterin die Buchhandlung betraten, war die junge Frau sprachlos. Auf vier Etagen befanden sich riesige Regale voller Bücher. Massive Eichentreppen mit verzierten Holzgeländern beeindruckten die Besucher. Einzelne Räume waren mit schweren Möbeln sehr gemütlich ausgestattet, diverse Sitzgelegenheiten luden zum Verweilen und Lesen ein. Diese Buchhandlung war ein Mekka für jeden Buchfreund und Katharina war ihrer Wirtin dankbar, sie dorthin geführt zu haben.

Ein älterer Herr mit gepflegtem Spitzbart, fragte die Frauen nach ihren Wünschen und führte sie in die entsprechende Abteilung. Seine Kleidung und sein Auftreten waren korrekt und erinnerten an einen höher stehenden Beamten.

Nachdem Katharina die gewünschten Bücher gefunden hatte, schlenderten die beiden Frauen bei schönstem Sonnenschein gemütlich zur Schlossteich-Promenade und kehrten dort in das Café »Schwermer« ein, das weithin für seine Spezialität, dem Baumkuchen, bekannt war. Für diesen Baumkuchen bekam die Familie Schwermer im Jahr 1900 auf der Pariser Weltausstellung sogar eine Goldmedaille.

Aber auch ihre erlesenen Pralinen und das raffinierte Marzipan lockten die Gäste aus nah und fern an und kein Gast musste befürchten, keinen freien Platz zu finden, denn im Café und auf der einhundert Meter langen Terrasse konnten bis zu eintausend Gäste bewirtet werden.

Die beiden Frauen saßen ganz gemütlich unter einer Sonnenmarkise und ließen sich mit Bohnenkaffee und natürlich dem Baumkuchen verwöhnen. Ausnahmsweise ließ sich Katharina nach dem Kuchen noch einen Eisbecher reichen. So verschwenderisch war sie sonst nicht, doch dieser schöne Ausflug war ja auch etwas ganz Besonderes.

Ihre Wirtin konnte genausowenig widerstehen und gönnte sich ebenfalls einen Eisbecher.

Der Blick von der Terrasse war einmalig. Vor den Frauen lag der langgezogene Schlossteich mit seinen sich anschließenden Parkanlagen. Es war ein Genuss für Auge und Gaumen, den sich die Frauen an diesem Nachmittag gönnten.

Beschwingt verließen sie das Café und traten die Heimfahrt an. Und dieser Besuch sollte nicht der letzte gewesen sein, denn die Frauen wollten bald einmal einen Bummel durch den Schlosspark machen. Natürlich würden sie dem Café auch wieder einen Besuch abstatten.

Doch der Tag hielt noch zwei Überraschungen bereit. Als sie von ihrem Ausflug heimgekehrt waren, lagen im Briefkasten zwei Briefe für Katharina. Ein Brief war von ihren Eltern, der andere von Frau Kleinschmidt aus Berlin. Nun hatte es die junge Frau eilig und sie hastete die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Sie legte ihre Einkäufe ab und widmete sich ihrer Post. Da konnte sie es auch nicht verhindern, dass ein paar Tränen kullerten, denn im Brief ihrer Eltern stand, dass sie ihre Tochter furchtbar vermissten und sich um sie ängstigten, weil sie doch so weit entfernt von ihnen war.

Aus jeder Zeile konnte sie die Liebe ihrer Eltern heraus lesen. Beim zweiten Brief musste sie oft lächeln.

Frau Kleinschmidt schrieb so, wie sie sprach, mit starkem Berliner Dialekt, aber der Brief war lustig und machte ihr Mut. Die Frau hatte sich sehr über Katharinas Brief gefreut und der jungen Lehrerin alles Gute für ihre Arbeit gewünscht.

Einige Tage vor der Einschulung erhielt Katharina die Mitteilung, dass im Bürgermeisteramt ein Paket von der Schulbehörde für sie abgegeben worden war. Aufgeregt lief sie sofort hin, um das Paket in Empfang zu nehmen. Überrascht stellte sie fest, dass dieses Paket wohl eine Nummer zu groß war, um getragen zu werden. Rasch erbat sie sich einen Handwagen, wuchtete das Paket mit Hilfe des Bürgermeisters in den Wagen und versprach, den Handwagen am nächsten Tag zurückzubringen.

Inzwischen war sie mit ihrem Gefährt an der Schule angekommen. Dort traf sie auf Herrn Graudenz, der ihr, ziemlich erstaunt über die Größe des Pakets, bei dessen Entladung half. »Frau Kollegin, wie haben Sie das denn angestellt? Ich hatte bereits mehrere Anträge gestellt, doch leider immer umsonst.«

»Ach, vielleicht war das einfach nur das Glück einer Anfängerin. Wenn ich schon so viele Schüler unterrichte, dann soll ich vielleicht wenigstens genug Schulmaterial zur Verfügung haben. Doch nun will ich gleich die Sachen kontrollieren. Wenn Sie Lust haben, dann können Sie mir helfen. Gemeinsam geht es schneller.«

»Ich helfe Ihnen sehr gern, vielleicht bleibt uns dann noch Zeit für einen Tee, bevor wir zum Mittagessen gehen.«

»Das ist eine sehr gute Idee«, freute sich Katharina.

Bei der Kontrolle der Schulmaterialien stellte die Lehrerin fest, dass fast alle bestellten Dinge geliefert worden waren, aber die Abakusse fehlten leider, doch da hatte ihr Kollege eine Idee. Gleich in der ersten Unterrichtswoche wollte er beginnen, im Werkunterricht mit seinen Schülern diese Rechenhilfen zu bauen. Statt der Kugeln wollte er andere Materialien benutzen und er hatte bereits eine Idee. Wenn man Besenstiele in Scheiben sägt, in die Mitte ein Loch bohrt und diese Scheiben dann bunt anmalt, würde das sehr schön aussehen und den gleichen Zweck erfüllen. Er wollte mit seinem Nachbarn reden, der besaß eine kleine Stellmacherei und würde sicher helfen. Warum nur, war er nicht schon eher darauf gekommen? Da musste erst ein kleines Lehrerfräulein aus Köln kommen, um ihn auf diese Idee zu bringen.

Er meinte das natürlich nicht despektierlich.

Wie versprochen, tranken die beiden Lehrer nach erledigter Arbeit gemeinsam Tee und verabschiedeten sich bis zum nächsten Tag.

Als Katharina im Haus ihrer Wirtin ankam, roch es bereits im Hausflur nach frischen Flinsen.

In Köln sagten die Menschen »Rievkooche« oder auf Hochdeutsch Reibekuchen oder Kartoffelpuffer zu diesem Gericht, dass besonders auf dem Weihnachtsmarkt vor dem Dom zahlreiche Liebhaber fand.

Diese Reibekuchen, in Butterschmalz knusprig ausgebacken, mit Zucker bestreut und dazu ein Schälchen Apfelmus war für Katharina nicht nur zur Weihnachtszeit eines ihrer Leibgerichte. Sie beeilte sich, ihre Sachen abzulegen und in die Küche zu huschen. Am Rande des Herdes stand ein Teller, auf dem bereits vier Flinsen lagen. Noch einmal vier schwammen im Öl in einer großen Stielpfanne in der Ofenmitte.

»Es ist gleich soweit. Seien Sie doch so nett und holen uns aus dem Keller ein Glas Apfelmus«, bat Frau Schimkus, »ich hole inzwischen den Farin für die Flinsen.«

Als die junge Frau mit dem Glas Kompott in die Küche kam, standen sowohl der Streuzucker, als auch die Flinsen auf dem Tisch. Frau Schimkus nahm ihrer Mieterin das Einmachglas aus den Händen, zog an der Lasche des Einweckgummis, und nach hörbarem Zischen ließ sich der Deckel des Glases öffnen.

Oh, wie herrlich schmeckten Katharina die Flinsen, die sie sich dick mit dem Farin eingestreut hatte. »Ich werde bei Ihrer Kochkunst noch auseinandergehen, wie ein Hefekloß«, sagte sie kauend und mit geröteten Wangen, obwohl ihre Mutter ihr schon als kleines Mädchen beigebracht hatte, dass man mit vollem Mund nicht spricht. »Sie verwöhnen mich jeden Tag«, lobte sie kauend.

»Ach, ich freue mich, wenn es Ihnen schmeckt«, entgegnete ihre Wirtin und stiller fügte sie hinzu, »früher hat meine Familie um diesen Tisch gesessen. Es ist mir ein kleiner Trost, wenn ich nun für uns beide koche.«

Obwohl Katharina ihren Bissen gerade heruntergeschluckt hatte, war ihr, als säße ihr noch ein dicker Brocken im Hals. »Frau Schimkus, Sie dürfen nicht immer so trübe Gedanken haben. Vielleicht kommen Ihre Söhne Sie bald besuchen!«

Trotz des Trostes lag nun eine bedrückte Stimmung im Raum.

Katharina zog sich bald nach dem Essen zurück und schrieb ihre Gedanken in einem Brief an ihre Eltern nieder, und auch an Frau Kleinschmidt schrieb sie einen Brief.

Beim Abendbrot war ihre Wirtin dann wieder ganz die alte. Sie lächelte ihrer Mieterin entgegen und fragte: »Na, schon Hunger? Ich habe uns ganz frischen Matjes beim Gewürzer besorgt. Dazu essen wir Schwarzbrot. Das ist eine Delikatesse, Sie werden es sehen.«

Fisch stand für die junge Frau bisher nicht unbedingt an oberer Stelle ihres Speisezettels, doch ihre Mutter sagt immer, probieren muss man alles.

Als das Essen auf dem Tisch stand, hatte Katharina zuerst sehr vorsichtig zugelangt, dann aber war sie sehr überrascht, wie gut ihr der Matjes schmeckte und sie aß sich richtig satt.

Allmählich lernte sie die Speisen Ostpreußens kennen und da gab es sicher noch eine Menge Gerichte, die ihre Wirtin ihr in der kommenden Zeit vorsetzen würde.

In den folgenden Tagen widmete sich Katharina intensiv der Vorbereitung auf die Einschulung und den Unterricht, doch am Freitag machte Frau Schimkus den Vorschlag, einen Ausflug an das kurische Haff zu machen. Es wäre doch schade, wenn man die herrlichen Sommertage einfach so verfliegen lassen würde. Nach kurzem Zögern stimmte Katharina zu, denn sie wollte natürlich gern etwas von der näheren Umgebung kennen lernen.

Die Nacht war für die beiden Frauen sehr kurz, denn der Zug nach Labiau fuhr bereits um vier Uhr fünfzig von Zinten ab. Im Gepäck hatten sie zwei Thermoskannen Kaffee, belegte Brote und Obst für ein Picknick am Strand.

Die Laune der Frauen war bestens, denn sie freuten sich auf einen erlebnisreichen Tag.

Vom Bahnhof gingen sie zur Schiffsanlagestelle und fuhren schon bald gemeinsam mit zahlreichen anderen Sommerfrischlern mit einem Dampfer die Deime entlang in das kurische Haff ein, dessen Nehrung das Haff von der Ostsee trennte. Möwen umkreisten das Schiff, in der Hoffnung ein paar der leckeren Brocken zu erhaschen, die von den Reisenden in die Luft geworfen wurden.

Es war ein wunderschöner Morgen, doch eine kühle Brise bestätigte den Frauen, dass es richtig war, sich eine Strickjacke übergezogen zu haben.

Der Dampfer hielt auf Sarkau zu und machte dort kurz Halt, jedoch stiegen kaum Reisende aus. Das war beim nächsten Aufenthalt in Rossitten anders. Dort verließen zahlreiche Reisende den Dampfer und auch die beiden Frauen hatten überlegt, der Vogelwarte in Rossitten einen Besuch abzustatten, doch dann hatte Frau Schimkus ihrer Mieterin von der Schönheit des Künstlerortes Nidden und seinen hohen Dünen erzählt, von denen man weit auf die Ostsee schauen konnte und da war die Entscheidung für das malerische Fischerdorf gefallen.

Der nächste Hafen war Pillkallen, doch der überwiegende Teil der Reisenden stieg in Nidden aus.

Das Fischerdörfchen war sehr malerisch und es war kein Wunder, dass sich in jenem Ort eine regelrechte Künstlerkolonie angesiedelt hatte. Über dem Ort lag eben der Nimbus des Besonderen.

Den Frauen wehte der Geruch von Fisch und Brackwasser entgegen, aber das tat ihrer Unternehmungslust keinen Abbruch. In Nidden herrschte die typische Betriebsamkeit eines Kurendorfes.

Auf einer sandigen Anhöhe, inmitten zahlreicher Kiefern, stand eine trutzige Kirche aus roten Backsteinziegeln.

Auf dem Dach hatte es sich ein Storchenpaar mit ihren Jungen in einem großen Nest gemütlich gemacht. Ihr stets hungriger Nachwuchs klapperte laut mit den Schnäbeln und forderte gierig das Futter für sich ein. In wenigen Wochen müssten die Jungvögel kräftig genug sein, um den weiten Weg nach Süden antreten zu können.

Die Fischerhäuser, meist aus Holz gebaut und farbig angestrichen, waren mit Schilfdächern gedeckt.

Ihre leuchtenden himmelblauen Türen und Fensterläden waren weithin zu sehen. Über den Holzzäunen vor den Häusern hingen an eisernen Gestellen rostige Anker und warteten darauf bearbeitet zu werden.

Bärenstarke, wetterharte Männer hatten ihre Kurenkähne an Land gezogen.

Ein paar der Männer hatten außerdem auf der gegenüberliegenden Nehrungsseite Kielboote liegen, mit denen sie als »Ganzfischer« die Ostsee befuhren.

Die »Halbfischer« durften mit ihren flachkieligen Booten nur im Haff fischen.

Auf den Trockenplätzen spannten sie ihre Fischernetze auf und flickten sie an Ort und Stelle. Bei manchen alten Netzen lohnte sich allerdings das Flicken nicht mehr, sie mussten durch neue ersetzt werden. Diese wurden jedoch vor ihrem ersten Einsatz in einem Trog in Salzlake eingeweicht, damit sie den Geruch des Meeres annahmen.

Im Sommer wurde mit dem Keitelnetz gefischt, das ein einzelnes Boot zog, im Frühjahr und im Herbst schleppten zwei Kähne das große Netz, die sogenannte »Kurre«.

Im Hochsommer ruhte die Fischerei, denn dann war Schonzeit und die Fischer erledigten all die Arbeiten, die während der letzten Monate liegen geblieben waren, zum Beispiel das Heumachen oder Holzschlagen.

Das war eine umfangreiche Arbeit, denn das Holz für den Hausbau musste auf dem gegenüberliegenden Festland geschlagen werden. Dort wurde es mit dem Pferdewagen zum Wasser transportiert, über das Haff geschifft, am Ufer wiederum auf Pferdewagen umgeladen und schließlich an Ort und Stelle transportiert.

Alte Frauen trugen Wasser vom Ziehbrunnen in Holzeimern, an der Peede, dem Tragejoch, zu ihren Häusern.

Frauen mit fein geschnittenen Gesichtern und tiefgründigen blauen oder grünen Augen, deren Blicke die Seele zu durchdringen schienen, saßen auf Holzbänken vor ihren Häusern und säuberten die Fische, die ihre Männer in der Nacht gefangen und mit ihren Kähnen heimgebracht hatten. Anschließend verarbeiteten die Frauen die Fische weiter, um sie auf dem Markt meist an die Fremden zu verkaufen, die den Ort besuchten.

Semmelblonde Kinder mit Rotznasen lugten durch die Lattenzäune, und bestaunten die Gäste in ihrer, für die Nehrungsbewohner eigenwilligen Kleidung oder sie waren in den nahen Kiefernwäldern unterwegs, um »Kienäppel« zu sammeln, die im Sommer zum Räuchern verwendet und im Winter im Ofen verheizt wurden und dann lustig knisterten.

Neugierige Augen begegneten sich zu beiden Seiten der Zäune, doch ein freundlicher Gruß der Gäste wurde von den Nehrungsbewohnern ebenso freundlich erwidert.

Auch Viehzucht wurde auf dem Haff betrieben. Meist war es Kleinvieh, wie Hühner, Enten, Gänse und Kaninchen, aber mitunter standen im Stall hinter dem Haus auch Schweine, Pferde oder sogar Kühe. Das Gras zum Verfüttern wurde auf der gegenüber liegenden Haffseite gemäht.

Oft übernachteten die Fischer ein oder zwei Nächte auf der Wiese, luden dann den Kahn voll und segelten mit ihrer Fracht nach Hause. Ebenso aufwändig wurde mit dem Heu für den Winter verfahren. Fuder für Fuder wurde zunächst auf Pferdewagen geladen und am Ufer auf die Kähne umgeladen. An der Nehrung angekommen wurde das Heu wieder auf bereitstehende Pferdewagen geschichtet.

Im Herbst gingen die Fischer allerdings einer ganz besonderen Tätigkeit nach, die ihnen auch ihren Spitznamen einbrachte. Man nannte die Männer der Nehrung »Krajebieter«- Krähenbeißer. Wenn die Vogelzüge im Herbst über die kurische Nehrung zum Haff flogen, dann zogen auch riesige Schwärme Krähen mit, die von den Fischern mit Schlagnetzen gefangen wurden. Diese Netze wurden aus einer getarnten Hütte bedient. Sechzig bis achtzig Vögel fing ein Fischer an einem guten Tag und tötete sie mit einem Biss in die Schädeldecke. Dann wurden die Vögel gerupft und eingepökelt und dienten als Winternahrung. Für die Bewohner der kurischen Nehrung war das Fleisch der Vögel eine Delikatesse. Sogar in guten Gaststätten und in Hotels wurde diese Spezialität angeboten.

Der jungen Lehrerin wurde allerdings allein bei der Vorstellung übel, so ein Tier essen zu müssen.

Beim Spaziergang durch den Ort erzählte Frau Schimkus auch, dass sie gemeinsam mit ihrem Ehemann bis zu seiner Einberufung ebenfalls eine Landwirtschaft betrieben hatte. Doch nach dem Tod ihres Mannes hatte sie knapp sechzig Morgen ihres Landes an den Herrn Baron verpachtet und mit ihm eine für sie zufriedenstellende Vereinbarung getroffen, die ihr, neben der Witwenrente ein bescheidenes Auskommen ermöglichte.

Kleine Lokale im Ort luden zum Verweilen ein und auch Frau Schimkus und Katharina suchten eines dieser Lokale auf, um sich zu stärken.

Die freundliche Wirtin riet ihnen zu einem Nationalgericht der Kuren, dass es so frisch nur in den Dörfern des kurischen Haffs gab.

Katharina gab sich vergebliche Mühe die Wirtin zu verstehen, denn die kurische Sprache, die in den Dörfern des Haffs noch immer gesprochen wurde, war für sie fremd. Sie war also gespannt, was die Wirtin ihnen auftischen würde, Krähen konnten es ja nicht sein, die gab es nur im Winter.

Nach wenigen Minuten erschien die Wirtin mit einer Schüssel voll gebratener kleiner Fische, so würde es Katharina bezeichnen. Es handelte sich bei diesem Gericht um eines der beliebtesten Gerichte der einfachen Menschen am Haff, es hieß »Stintenflinsen«.

Das waren kleine, etwa sechs bis acht Zentimeter lange Fische, in Mehl gewälzt und in Butterschmalz goldbraun ausgebacken, die mit Kopf und Schwanz verzehrt wurden. Die Fische dufteten köstlich und Katharina lief das Wasser im Mund zusammen.

Sie aß mehr als ein Dutzend dieser Fischchen und trank eine große Tasse Buttermilch dazu. Auch Frau Schimkus war begeistert, doch sie kannte dieses Gericht und diesen Genuss. Nach dem Essen unternahmen die Frauen einen Spaziergang über die Nehrung, durchstreiften dichte Wälder und gelangten schließlich südlich von Nidden auf sanft ansteigendem Weg auf die »Hohe Düne«, die mit über siebzig Metern höchste Erhebung der kurischen Nehrung. Von dieser Düne konnten die Frauen weit hinaus auf die Ostsee schauen und quer über das gesamte kurische Haff.

Feiner pulverartiger Sand wehte ihnen in ihre Gesichter und versetzte den Frauen tausende winzige Nadelstiche.

Wenige Meter unter ihnen fuhr ein Kurenkahn vorüber.

Zum Fischen würde er wohl nicht unterwegs sein, dafür war es bereits zu spät am Tag. Wahrscheinlich machte einer der Fischer mit einigen Sommerfrischlern eine kleine Rundfahrt. Das Großsegel blähte sich am Vordersteven und auch die Gaff am kleinen Mast war voll entfaltet. An der Spitze des Vorderstevens verriet der sogenannte »Kurenwimpel« schon von weitem die Herkunft des Bootes. Ein liebevoll aus Holz hergestelltes Banner mit farbigen Stoffwimpeln an den Seiten und die ersten drei Buchstaben des Ortsnamens am Bug verrieten den Heimathafen, die verschiedenen Motive ließen auf die einzelnen Fischer schließen.

Der Kurenwimpel diente zugleich auch als Wetterfahne.

Kleine silberne Wellen umspülten das Boot. Es sah fast wie auf einem Ölgemälde aus. Katharina wäre auch gern in so einem Boot gefahren, aber vielleicht könnte man das bei einem zweiten Besuch nachholen.

Schließlich entflohen die beiden Frauen dem Wind mit seinen Nadelstichen, stiegen von der Erhebung hinab zum Strand und spazierten mit nackten Füßen, die Schuhe in der Hand, im Wasser Richtung Nidden.

Frau Schimkus riet Katharina die Augen offen zu halten, die Strände an der Nehrung waren voll von Bernsteinen, wenn man genau hinschaute und sie erkannte. Und tatsächlich fand Katharina schon bald ein etwa vier Zentimeter großes Stück.

»Sehen Sie nur, so ein schöner Bernstein. Wenn ich noch mehr finde, lasse ich meiner Mutter eine Kette davon machen«, freute sich Katharina und zeigte ihrer Wirtin den Stein.

Die Frau betrachtete das Stück und sagte anerkennend:

»Da haben sie aber Glück gehabt. Das ist ein wunderschöner klarer Succinit. Oft ist der Bernstein roh und als solcher nicht leicht zu erkennen.«

Sie lächelte über die fast kindliche Gemütsbewegung ihrer Mieterin und sagte: »Trotzdem müssen wir leider zurückgehen. Zum Bernsteinsammeln haben wir heute keine Zeit mehr. Unser Dampfer fährt bald wieder ab. Wir könnten noch einen Kaffee trinken und ein Stück Kuchen essen, bevor wir nach Hause fahren. Bernsteine sammeln wir das nächste Mal.«

Katharina schaute auf ihre Armbanduhr und erschrak, wie schnell die Zeit vergangen war. Sie putzte ihren Bernstein trocken, hielt ihn in die Sonne und schaute durch ihn hindurch, wie es ein Kind machen würde. »Es sieht aus, als hätte er die Sonnenstrahlen eingefangen«, sagte sie.

»Ja, heben Sie den Stein gut auf, da haben Sie in dunklen Stunden immer etwas Sonne bei sich«, erwiderte Frau Schimkus weissagend.

Katharina lächelte, dachte aber über diese zweideutigen Worte nicht weiter nach. Sie bemerkte jedoch, dass ihre Wirtin traurig war.

»Habe ich etwas falsch gemacht?«, fragte sie.

»Nein, nein«, beeilte sich Frau Schimkus zu entgegnen, »ich dachte nur gerade daran, wie wir als junges Paar mit meinem Mann hier ebenfalls Bernsteine gesammelt hatten. Mir haben sie leider kein Glück gebracht.«

Katharina schaute auf den Boden und schwieg. Ihr tat es so unsagbar leid, dass die Frau in so jungen Jahren bereits ihren Mann verloren hatte, auch wenn tausende Frauen ihr Schicksal teilten. Tröstend schob sie ihre Hand beim Spaziergang in die Hand ihrer Wirtin.

Dankbar für diesen Trost, drückte Frau Schimkus die Hand der jungen Frau, hakte sich bei Katharina unter, und so, Arm in Arm, liefen sie bis ins Dorf.

Ganz in der Nähe der Dampferanlegestelle gingen die beiden Frauen in ein Lokal, tranken Tee und aßen jeder ein Stück saftigen Kirschkuchen mit Pudding. Danach liefen sie mit weit ausholenden Schritten zur Anlegestelle.

Es war an diesem Tag der letzte Dampfer und entsprechend viele Gäste fuhren nach diesem Tagesausflug zurück.

Es war zugleich der letzte Ausflug für Katharina, bevor ihre Zeit als Lehrerin anbrach.

Sie hatte nun noch drei Tage Zeit die letzten Arbeiten zu Ende zu bringen, bevor am Dienstag die Einschulung stattfinden würde und gleichzeitig für alle Schüler wieder der Schulbetrieb begann.

Am Morgen der Einschulung war Katharina genauso aufgeregt wie ihre Schüler. Zum wievielten Mal stand sie nun wohl schon vor dem Spiegel, um festzustellen, dass ihre Frisur sitzt und dass ihre Kleidung in Ordnung ist. Trotzdem zupfte sie hier noch eine vermeintliche Falte glatt und ordnete dort noch eine Haarsträhne.

Noch hatte sie bis zur Einschulung eine Stunde Zeit. Ihr Kollege war noch nicht angekommen und eigentlich ließ nichts darauf schließen, dass an diesem Tag nach den Sommerferien der Unterricht wieder aufgenommen wird. Einige Frauen des Dorfes hatten eine Girlande aus grünen Zweigen am Türrahmen befestigt und der Schreiner hatte darunter ein Schild angebracht, auf dem »Herzlich Willkommen« stand.

Über beides hat sich Katharina sehr gefreut, zumal das für sie selbst eine Überraschung war.

Eine Viertelstunde vor Schulbeginn trafen nach und nach die ersten Schüler ein. Keines der Kinder hatte es sonderlich eilig, denn Ferien sind doch für die meisten das Schönste an der Schulzeit und da musste sogar die allerletzte Minute ausgekostet werden.

Die siebzehn Erstklässler wurden zum Teil von ihren Müttern begleitet, doch einige Kinder kamen allein, obwohl es ihr erster Schultag war. Offensichtlich gab es dafür triftige Gründe, denn die meisten Mütter mussten wohl ihrem Broterwerb nachgehen.

Als der Herr Bürgermeister seine Rede hielt, konnte die neue Lehrerin ihre Schüler heimlich mustern.

Manche kamen in Lederschuhen in die Schule, das waren die Kinder der Großbauern, andere kamen in zum Teil abgeschabten oder ausgetretenen Schuhen, das waren die Kinder der einfachen Bauern, die dritte Gruppe jedoch, die mit »Klompen« an den Füßen erschienen, waren sicher Kinder von Knechten und Mägden, die sich selbst nichts anderes als Holzschuhe leisten konnten. Auch an der Kleidung konnte man die Standesunterschiede ablesen, doch eines war allen gleich. Sie waren sauber und ihr Haar war gekämmt, zumindest am ersten Schultag.

Als nächster Redner übte sich ihr Kollege, Herr Graudenz, der den Schülernin kurzen Worten erklärte, wie wichtig die Schule für sie war. Dann übergab er das Wort an die neue Kollegin. Katharina hatte sich in den letzten Tagen eine kleine Rede zurechtgelegt, doch das meiste war nun bereits gesagt, so beschränkte sie sich darauf, die Anwesenden zu begrüßen, sich selbst vorzustellen und allen Kindern eine schöne Schulzeit zu wünschen.

Zur Einschulung gehörten natürlich auch Schultüten, doch nicht für alle Kinder waren von den Eltern Schultüten abgegeben worden. Die Kinder des Gutsgesindes standen meist mit leeren Händen da, ihre Väter waren im Krieg und die Mütter trugen die Last auf ihren Schultern, die Familie zu ernähren, da reichte es eben nicht für Bonbons.

Ganz ohne Süßigkeiten sollten aber auch die armen Kinder nicht bleiben, denn zu ihrer Überraschung hatte der Kutscher der Familie des Baron von Lübzow am Vortag einen ganzen Karton voller Süßigkeiten und Schokolade in der Schule abgegeben, damit alle Kinderaugen glänzen konnten.

Seit Jahren hatte das Gutsehepaar eine Art Patenschaft über die Schule übernommen und die ärgsten Engpässe lindern geholfen. Zusätzlich hatten Katharina und Frau Schimkus bis in die tiefe Nacht hinein kleine Schultüten gebastelt, damit jedes neue Schulkind eine kleine Aufmerksamkeit bekam.

Die Augen der Schüler leuchteten, als sie ihre Schultüten in Empfang nahmen und da war es gar nicht so wichtig, ob eine Schultüte groß oder klein war. Die Kinder der armen Leute waren Bescheidenheit seit ihrer Geburt gewohnt.

Nachdem die Kinder den Klassenraum betreten hatten, wollten die älteren Kinder ihre alten Plätze einnehmen, doch die neue Lehrerin hatte ihre eigene Sitzordnung aufgestellt.

An der Türseite saßen die Mädchen, damit sie leichter aus dem Klassenraum huschen konnten, falls sie mal dringend auf die Toilette mussten, an der Fensterseite saßen die Jungs.

Der Blick nach draußen wurde ihnen allerdings durch die hohen Fenstersimse erschwert.

In den vorderen Reihen saßen die Schulanfänger, die so ihre ungeteilte Aufmerksamkeit auf die Lehrerin richten konnten. Katharina war mit dieser Lösung zufrieden.

Nachdem der erste Schultag mit Vorlesen und Spielen zu Ende gegangen war, strömten die Kinder lautstark aus der Schule ins Freie. Und mindestens nach dem ersten Schultag waren sich alle Kinder noch einig, dass Schule eine tolle Sache ist.

Zufrieden verließ auch Katharina das Schulgebäude und freute sich auf das Mittagessen.

Frau Schimkus hatte ihr bereits am Morgen verraten, dass es zur Feier des ersten Schultages Königsberger Klopse geben würde, eines der bekanntesten Gerichte Ostpreußens mit zahlreichen Zutaten.

Der jungen Frau wurde gar nicht bewusst, dass sie, angetrieben von ihrem Appetit, auf den letzten Metern ihre Schritte immer mehr beschleunigte. Als sie die Küche betrat, duftete es bereits süß-sauer nach der herrlichen Speise.

Ein Sud aus Gemüsebrühe war mit Zwiebeln, Lorbeerblättern, Gewürznelken, ein paar Pfefferkörnern und Piment aufgekocht worden. Darin zogen für zwanzig Minuten aus Hackfleisch, Ei, Weißbrotteig, Petersilie, Salz, Pfeffer und etwas Senf vermengte Klopse gar, deren Königsberger Geheimnis gehackte Sardellen sind. Die durch ein Sieb geseihte Brühe wurde mit einer Mehlschwitze abgebunden. Dann wurde die Soße mit Senf, Sahne, Zitronensaft und Zucker verfeinert, dazu kamen noch Kapern, ein paar Butterflocken, zwei verquirlte Eigelb, die tropfenweise in die leicht köchelnde Soße gegeben wurden und zum Schluss, gehackte Petersilie. Anschließend zogen die Klopse noch ein paar Minuten in dieser Soße. Als Beilage wurden Salzkartoffeln gereicht.

Das Ergebnis war unvergleichlich.

Katharina beeilte sich, ihre Hände zu waschen und am Tisch Platz zu nehmen.

Die junge Lehrerin hatte sich den Unterricht nicht so schwierig vorgestellt. Die Kinder in der Stadt waren aufmerksamer, weil die Klassenstärken niedriger waren. Außerdem unterschied sich der Lehrstoff auf dem Land von dem in der Stadt und da hatte wiederum Katharina noch einiges dazu zu lernen.

Sie kannte viele Begriffe aus der Landwirtschaft nicht, oder wusste für verschiedene Dinge nicht die ostpreußischen Bezeichnungen. Außerdem verstand sie nichts von Viehzucht und als »Städterin« hatte sie natürlich keine Ahnung von Pferden, wo doch in Ostpreußen fast jedes Kind zugleich bereits ein Pferdenarr war. Die Trakehner waren in der ganzen Welt berühmt.

Trotzdem hatte sie schon nach wenigen Schultagen ihre ersten Pappenheimer erkannt, die entweder den Unterricht störten, in den Pausen Blödsinn machten oder ihre Hausaufgaben nicht erledigten. Es waren ausnahmslos Schüler der höheren Klassenstufe. Zudem hatte die junge Lehrerin das Gefühl, als wollten einige Schüler sie mit ihren Fragen auf die Probe stellen, doch Katharina wollte sich nicht so leicht geschlagen geben und paukte zu Hause in zahlreichen Fachbüchern.

Eines bereitete ihr aber doch ernste Sorgen. Täglich fehlten einige Schüler unentschuldigt. Es lag einfach daran, dass die Kinder ihren Müttern und Großeltern bei der Landwirtschaft oder im Haushalt helfen mussten, weil die Väter an der Front waren. Katharina nahm sich vor, mit den Müttern zu sprechen, bei deren Kindern dies besonders häufig vorkam.

Zunehmend richteten sich die Streiche einiger Laukse direkt gegen die neue Lehrerin, die abends sogar manchmal ein paar Tränen vergoss. Marie Schimkus bemerkte die Veränderung der jungen Frau und bot ihr an, sich bei ihr auszusprechen. Katharina wollte ihre Sorgen eigentlich für sich behalten, doch nach dem Angebot ihrer Wirtin war sie froh, ihr Herz ausschütten zu dürfen.

Die Witwe riet ihr, erst einmal die nahen Herbstferien abzuwarten und dann ihre Vorgehensweise zu entscheiden und sollte sich bis dahin kein Ergebnis einstellen, würde sie dann nach dem Sonntagsgottesdienst einmal mit dem Pfarrer sprechen. Er hatte auf die Frauen im Dorf einen gewissen Einfluss und würde ihnen dann schon eine »Predigt« halten. Außerdem könnte sie selbst ebenfalls mit den Müttern der größten Lorbasse reden, doch Katharina entschied sich, das Problem allein zu lösen.

Auch ihr Lehrerkollege nahm die mentalen Veränderungen seiner jungen Kollegin war und sprach sie eines Tages darauf an. Zunächst zögerte Katharina, ihrem Kollegen von ihren Sorgen zu berichten, doch schließlich fasste sie sich ein Herz.

Herr Graudenz fragte Katharina, wie denn die Bestrafungen der Übeltäter aussahen, die seine junge Kollegin durchführte.

»Na ja, so die allgemeinen Strafen halt«, antwortete Katharina zögernd, »Sonderaufgaben oder Nachsitzen. Aber die Strafaufgaben werden von den Schwerenötern so gut wie nie erledigt, und dem Nachsitzen entzogen sie sich oftmals durch Flucht.«

»Wissen Sie, liebe Kollegin, die Kinder haben einfach nicht genügend Respekt vor Ihnen. So lange Sie keinen Rohrstock auf ihren Hosenböden tanzen lassen, werden Sie die Rabauken nicht in den Griff bekommen. Ich sage es nicht gern, aber bei manchen Burschen hilft wirklich nur der Penter, das schreckt auch andere potentielle Missetäter ab, glauben sie es mir!«

Katharina konnte sich trotz dieses Ratschlages nicht dazu entschließen, sich so einen Rohrstock zu besorgen.

Ihr widerstrebte es, ihre Autorität mit Prügel durchzusetzen, doch nach immer derberen Streichen einiger besonders wilder Schüler war sie froh, als die Herbstferien begannen und ihr ein wenig Ruhe brachten.

Kurzfristig entschloss sie sich, ihre Eltern in Köln zu besuchen, und sie lud ihre Wirtin ein, sie zu begleiten. Nach kurzer Überlegung stimmte Frau Schimkus tatsächlich zu.

Ein paar Tage vor der geplanten Reise erreichte Katharina ein Brief vom Schulamt in Königsberg. Darin wurde ihr mitgeteilt, dass sie zu einem Lehrerkongress in Heiligenbeil eingeladen war. Bei jener Lehrerkonferenz sollten die Lehrer aus den anderen Landesteilen Deutschlands die Gelegenheit bekommen, sich gegenseitig kennenzulernen und mit der Unterrichtsweise in den ostpreußischen Schulen vertraut zu machen. Außerdem sollte der Arbeitsplan für die einzelnen Klassenstufen besprochen werden. Die Lehrerin freute sich auf diese Tagung, denn sie versprach sich von ihr Anregungen für ihre Arbeit.

Tatsächlich schloss sie einige interessante Bekanntschaften, tauschte Adressen mit Kolleginnen aus und war mit dem Ausgang dieser Tagung recht zufrieden. Katharina war erstaunt, wie viele Lehrer aus dem westlichen Teil Deutschlands dem Aufruf gefolgt waren, die Lücke der fehlenden Lehrkräfte in Ostpreußen zu schließen.

Bereits am ersten Tag versuchte ein junger Mann, mit Katharina anzubändeln, doch sie verstand es geschickt, den plumpen Annäherungsversuchen auszuweichen.

Da freundete sie sich lieber mit anderen Leuten an.

Da war zum Beispiel der schlaksige jungen Mann aus Westfalen, der einen viel zu weiten Anzug trug, aber unentwegt Witze erzählen konnte. Oder die kleine kesse Blondine aus Berlin, die heimlich auf der Toilette rauchte, oder der Hamburger, der abends beim Bier in dem kleinen Lokal am Markt am Klavier Seemannslieder sang, aber am nächsten Tag während des Kongresses immerzu einnickte. Oder aber auch die beiden Freundinnen aus München, die mit ihrem lustigen Dialekt die ganze Runde unterhielten und die Katharina im Flur der Gaststätte überraschte, als sie sich innig küssten, doch von ihr hatte niemand etwas darüber erfahren. Warum sollte eine Frau nicht eine andere Frau lieben, nur öffentlich zeigen durften sie es nicht, sonst drohte eine Anklage wegen Rassenschande.

Eines missfiel ihr allerdings und das war die Aufforderung, dass sich jeder Lehrer außerhalb seiner Dienstpflicht zusätzlich gesellschaftlich betätigen sollte.

Den jungen Lehrerinnen hatte man eine Mitgliedschaft beim BDM an das Herz gelegt, dort würden immer Führungskräfte in den Ortsgruppen gesucht. Nun musste sie versuchen, diese Klippe irgendwie zu umschiffen, denn politisch wollte sie sich auf keinen Fall betätigen. Wenn auch die Aktivitäten und Veranstaltungen im BDM vordergründig keine politischen Absichten erkennen ließen, Wandern, Handarbeit, Liederabende, Gymnastik zur Körperertüchtigung oder kleine Theateraufführungen waren ja sinnvolle Beschäftigungen, lief die Mitgliedschaft letztendlich darauf hinaus, die Mädchen in dieser Gemeinschaft ideologisch zu beeinflussen.

Wochenendschulungen und Heimabende mussten von den Gruppenleiterinnen organisiert beziehungsweise selbstständig durchgeführt werden, doch gerade die Wochenenden benötigte die Lehrerin für Vorbereitungsarbeiten auf den Lehrstoff der Schule und nicht zuletzt natürlich, um sich ein wenig zu erholen. Katharina hoffte auf den Wahrheitsgehalt des Sprichwortes, dass nichts so heiß gegessen wird, wie es gekocht wurde.

Ein paar Tage vor der Abreise der beiden Frauen nach Köln erreichte Frau Schimkus ein Brief, der verhinderte, dass sie Katharina nach Köln begleiten konnte.

Doch der Hinderungsgrund war für die Frau zugleich eine Riesenfreude. Endlich, nach unsäglichen Wochen des Zweifelns, Bangens und Hoffens, erhielt sie einen Brief von ihrem Sohn Wolfgang, der nach einer überstandenen Ruhr auf Genesungsurlaub kommen würde. Die Freude der Frau war grenzenlos und Katharina freute sich ebenfalls. Noch nie hatte sie ihre Wirtin so unbeschwert erlebt, nicht einmal bei ihren gemeinsamen Ausflügen. Da Frau Schimkus zu Hause blieb, bat Katharina sie, sich um ihren Gummibaum zu kümmern. Die Pflege der Pflanze hatte sie für die Zeit der Ferien eigentlich Herrn Graudenz zugedacht, doch der würde sicher nicht böse sein, wenn seine Kollegin ihn von dieser Bürde befreite. Kurzerhand eilte die Lehrerin in die Schule und holte dort ihren Gummibaum ab.

... und hinter uns die Heimat

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