Читать книгу ... und hinter uns die Heimat - Klaus-Peter Enghardt - Страница 8

DAS LEBEN IN LODITTEN

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Als sie die Haustür öffnete, hörte sie ihre Wirtin mit einem Mann sprechen. Das erstaunte Katharina, denn es war das erste Mal, seit sie in dem Haus wohnte, dass Frau Schimkus Männerbesuch hatte.

Die Lehrerin stellte ihr Gepäck im Hausflur ab, um ihre Wirtin und deren Gast erst einmal zu begrüßen, ehe sie ihr Gepäck auf ihr Zimmer brachte. Sie klopfte aus Höflichkeit an der Küchentür an und betrat dann den Raum. Ihre Wirtin saß am Tisch und lächelte Katharina mit einer glücklichen Ausstrahlung entgegen.

Mit dem Rücken zum Küchenausgang saß ein Mann in Uniform, der sich beim »Guten Abend« der jungen Frau umdrehte und Katharina mit tiefgründigen blauen Augen anlächelte.

Die junge Lehrerin musterte den Fremden mit versteckter Neugier und als der Mann ihr in die Augen schaute, durchflutete die junge Frau ein nicht gekanntes Gefühl.

Ein wohliger Schauer rieselte von ihrem Nacken aus ihren Rücken hinab und setzte sich dort fest. Das offene Lächeln des jungen Mannes und seine Ausstrahlung erreichten Katharinas Herz. Das war ihr vorher so noch nie geschehen.

Mühsam beherrscht, begrüßte sie zuerst Marie Schimkus und nahm danach die ausgestreckte Hand des jungen Unterfeldwebels entgegen, der unverkennbar der Sohn ihrer Wirtin war. Sein Händedruck war fest, doch nicht hart und seine Stimme klang wohltuend warm. Wieder lief Katharina ein angenehmer Schauer über den Rücken, während der Mann ihre Hand hielt. Er lud sie ein, am Tisch Platz zu nehmen, doch Katharina bat erst einmal darum ihren Mantel ablegen zu dürfen, um sich nach der langen Reise den Staub abzuwaschen.

Ehe sie ihren Koffer in die Hand nehmen konnte, stand bereits der Sohn ihrer Wirtin neben ihr. Keinen Widerspruch duldend sagte er: »Warten Sie, ich helfe Ihnen«, und trug ihr Gepäck nach oben bis zu ihrer Zimmertür. Mit einem Lächeln sagte er: »Wir sehen uns später«, und ging wieder zu seiner Mutter in die Küche.

Bevor Katharina ebenfalls nach unten ging, machte sie sich erst einmal frisch, legte ein dezentes Parfüm auf, schaute schließlich in ihren Wandspiegel, ob ihr Äußeres auch wirklich vorzeigbar war und sie sah im Spiegel eine hübsche junge Frau mit geröteten Wangen. Sie fühlte sich wie ein Backfisch vor dem ersten Rendezvous, dabei kannte sie den jungen Unterfeldwebel doch überhaupt noch nicht.

Etwas unsicher setzte sie sich ein wenig später an den Küchentisch. Auf Bitten von Frau Schimkus erzählte sie, wie sie die zwei Wochen in Köln verlebt hatte, berichtete auch von den grauenvollen Zerstörungen in ihrer Stadt und über die Sorgen um ihre Eltern, die sich weigerten, auf das weniger bombardierte Umland auszuweichen und zu Verwandten zu ziehen. Doch sie erzählte natürlich auch von den schönen Erlebnissen im Kölner Zoo, dem Kinobesuch mit ihrer Mutter oder den Beisammensein mit ihren Freundinnen.

Immer wenn ihr Blick den des jungen Mannes traf, schaute sie schnell weg, um nicht verräterisch zu erröten.

Frau Schimkus schaute unauffällig abwechselnd von ihrer Mieterin auf ihren Sohn und um ihren Mund legte sich ein feines Lächeln.

Katharina fühlte sich wohl in der Gesellschaft der beiden und bedauerte es, als sie sich zurückziehen musste, sie hatte noch einige Vorbereitungen für den ersten Schultag nach den Herbstferien zu treffen.

Wie sie an jenem Abend jedoch erfahren hatte, dauerte der Urlaub des jungen Mannes noch knapp zwei Wochen.

Die Lehrerin freute sich auf den ersten Schultag nach den Ferien, ihre Freude wurde allerdings durch die Streiche einiger Lümmel in ihrer Klasse getrübt, doch Katharina verzieh die Ungezogenheiten mit dem Argument, dass die Ferien die Jungs wieder ein wenig übermütiger gemacht hatten.

Sie wollte in den kommenden Tagen versuchen, die Rüpel wieder ins ruhigere Fahrwasser zu bringen.

In der ersten großen Hofpause berichtete sie Herrn Graudenz von den Missetaten ihrer Lorbasse und ihr Kollege wiederholte seinen Rat, den ärgsten Störenfrieden als Bestrafung ein paar Hiebe mit dem Rohrstock überzuziehen. »Sie werden sehen, das hilft eine Weile«, wusste er aus eigener Erfahrung zu berichten. Die Lehrerin konnte sich trotzdem nicht zu so einem Penter entschließen.

An jenem Tag verließ sie das Schulhaus pünktlicher als sonst und eilte nach Hause. Sie musste sich eingestehen, dass sie sich darauf freute, den Sohn ihrer Vermieterin zu sehen.

Als Katharina durch das Hoftor trat, hackte er im Hof Holz. Anerkennend konnte sie dabei seine Oberarmmuskeln bewundern, da er die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt hatte.

»Na, haben Sie Ihre Schäfchen wieder ein wenig klüger gemacht?«, spöttelte Wolfgang übermütig.

»Ach, manchmal denke ich, dass bei einigen Lausern Hopfen und Malz verloren ist«, antwortete die Lehrerin ebenso launig. »Man hat mir zu einem Rohrstock geraten, doch ich bezweifele, ob ich den kleinen Deibeln damit den Satz des Pythagoras einbläuen kann.«

»Na, ein paar hinten drauf schadet bei den frechsten auf keinen Fall und schreckt die noch zögernden ab«, weissagte der junge Mann. »Zumindest war das während meiner Schulzeit so. Und die ist ja auch noch nicht so lange vorbei. Trinken Sie mit uns einen Kaffee? Da können wir weiter plaudern«, schlug der Hofsohn vor.

»Sehr gern, ich bringe nur meine Tasche und den Mantel weg«, erwiderte Katharina erfreut.

Wenig später saßen sie gemeinsam mit Wolfgangs Mutter am Küchentisch, doch mitten in der Unterhaltung fiel Marie Schimkus plötzlich ein, dass sie noch etwas zu erledigen hätte, und sie ließ die jungen Leute unter einem fadenscheinigen Vorwand allein.

Die Beiden waren gar nicht böse darüber und Wolfgang machte Katharina den Vorschlag, eine kleine Radpartie in die Umgebung zu machen. Die junge Frau hatte nichts dagegen einzuwenden. Wolfgang holte die Räder aus dem Schuppen hervor, befreite sie vom Staub und pumpte Luft in die vom langen Stehen müden Schläuche. Dann stiegen sie auf und radelten durch das Hoftor auf die Dorfstraße.

Gleich hinter der Kirche zweigte ein schmaler Weg ab, der aus dem Dorf hinaus führte. Büsche flankierten den Weg bis zum Ortsrand. Wolfgang fuhr vorne weg und Katharina folgte ihm.

Ihr war der Weg noch gar nicht aufgefallen, aber sie hatte in den vergangenen Wochen auch noch keine Zeit gefunden, das Dorf zu durchstreifen. Der Weg führte zwischen den Feldern sanft einen Hügel hinauf, doch er war länger, als Katharina das vom Fuße des Hügels eingeschätzt hatte. Ab und zu ragten am Wegesrand größere Steine aus dem Boden und an der höchsten Stelle des Hügels begann der Wald. Dort am Waldrand stand neben einem riesigen Findling eine Bank, von der aus man auf das Dorf schauen konnte. Dankbar sank Katharina darauf nieder, denn sie war das Fahrradfahren nicht gewohnt. Wolfgang setzte sich neben die Lehrerin und erklärte ihr die Landschaft. Im Vordergrund lag Loditten zu ihren Füßen, linker Hand erstreckte sich der Waldsee zwischen den Bäumen, im Hintergrund war das Gutshaus der Familie von Lübzow zu erkennen und wenn man den Kopf nach rechts drehte, sah man die Dächer und den Kirchturm von Pellen. Katharina schaute sich alles interessiert an und folgte den Ausführungen des Unterfeldwebels.

Bevor sie wieder aufbrachen, streckte der junge Mann Katharina die Hand entgegen und sagte: »Ich wäre für das »Du«, es klingt nicht so steif und schließlich wohnen wir ja unter einem Dach.«

Katharina wurde ganz seltsam zumute. Und weil sie annahm, dass sie errötete, drehte sie sich zur Seite und sagte betont burschikos: »Warum nicht, ich habe nichts dagegen.«

Auf der weiteren Fahrt führte der Weg in sanften Bögen und im leichten auf und ab durch den Wald bis an den See und verlief von dort aus dicht am Ufer um den See herum. Auch die Landschaft im weiteren Umkreis war eine typische Moränenlandschaft mit Hügeln und kleinen Seen.

Erneut legten die beiden eine Pause ein und Wolfgang erklärte, dass die Kinder der umliegenden Dörfer seit Generationen im Sommer in diesem See badeten.

Er hatte wie selbstverständlich seinen Arm um Katharinas Schulter gelegt und beide genossen die Stille des Sees und das leise Rauschen des Waldes. Dieser Moment hatte einen besonderen Zauber und Katharina hätte sich in jenem Augenblick nicht einmal gewehrt, wenn der junge Mann sie geküsst hätte, obwohl sie sonst nicht leichtsinnig war.

Es gab in ihrem Leben noch nicht viele Männer, denen sie einen Kuss erlaubt hatte, und »der Eine«, dem sie gar mehr gewährt hätte, war ihr bisher noch nicht begegnet.

Der Ausflug hätte noch Stunden dauern können, doch die Lehrerin hatte noch Vorbereitungen für den nächsten Schultag zu treffen.

Auf dem Nachhauseweg beschlossen die Ausflügler, weitere Fahrradtouren zu unternehmen. Gleich für den nächsten Samstag war sogar ein Kinobesuch im »Alhambra« in Königsberg geplant. Darauf freute sich Katharina ganz besonders, denn sie ging gern ins Kino und dem Alhambra ging ein legendärer Ruf als modernes Lichtspielhaus voraus.

Die nun folgenden Schultage verliefen für Katharina unspektakulär. Die größten Laukse schwänzten die Schule oder halfen zu Hause auf dem Feld. Die junge Lehrerin nahm sich vor, in den kommenden Tagen deren Eltern aufzusuchen.

Als sie das Arbeitsmaterial für die Mathematikstunde aus dem Lehrerschrank nehmen wollte, stand in der Schrankecke ein Rohrstock. Den hatte sicher ihr Kollege für sie hineingestellt und sie musste augenblicklich lächeln. »Na ja, ich kann ihn ja als Zeigestock benutzen«, dachte sie amüsiert.

Am Samstag fuhr sie mit Wolfgang nach Königsberg.

Der Soldat war ein unterhaltsamer Begleiter, der sich noch dazu gut in Königsberg auskannte.

Das »Alhambra« erreichten sie vom Bahnhof aus mit der Straßenbahnlinie vier, es befand sich am Steindamm, Ecke Wagnerstraße.

Das Gebäude, in dem sich das Kino befand, war ein riesiges Büro- und Geschäftshaus, in dem sich auf mehreren Etagen verschiedene Gastronomiebetriebe befanden und natürlich dieses Kino, das dem Gebäude seinen Namen verlieh, der weithin bekannt war. Bis zum Film blieb ihnen noch ein wenig Zeit und so suchten sie eines der Lokale im Haus auf und tranken Kaffee.

Katharina hatte sich den Film »Wiener Blut« ausgesucht, eine Operettenverfilmung nach Johann Strauß. Es lief zwar auch der Film »Der große König«, ein Monumentalfilm über die Schlachten »Friedrichs des Großen« im Siebenjährigen Krieg um 1760, der allerdings ein von Joseph Goebbels in Auftrag gegebener Propagandafilm war, in dem der Heldentod glorifiziert wurde.

Katharina hielt es für unangebracht sich mit Wolfgang so einen Film anzuschauen. Er hatte an der Front täglich den Tod vor Augen und außerdem wollte sie die Zweisamkeit im Kino nicht mit einem Film über Tod und Leid zerstören.

Wolfgang hatte zwei Plätze in einer der hintersten Reihen gekauft. Da die Sitzreihen anstiegen, konnte Katharina jedoch sehr gut sehen.

Während des Films nahm er, wie selbstverständlich, ihre Hand und ließ sie bis zum Ende der Vorstellung nicht mehr los. Auch als die beiden das Kino verließen und zur Straßenbahnhaltestelle gingen, hielten sie sich an den Händen. Katharina war sehr glücklich, denn sie musste sich eingestehen, dass sie sich in Wolfgang verliebt hatte und auch er schien sie zu mögen.

Als sie in Zinten aus dem Zug stiegen, riefen sie sich kein Taxi, sondern liefen die Strecke bis nach Loditten zu Fuß. Wolfgang hatte den Arm um Katharina gelegt und sie schmiegte sich beim Gehen an ihn.

Ein Stück hinter der Stadt verließ das Pärchen die Straße und Wolfgang führte Katharina einen Waldweg entlang dem Dorf zu. Dieser Weg war eine Abkürzung, er war aber so schmal, dass man auf ihm nicht mit einem Auto oder einem Pferdefuhrwerk fahren konnte und auch eng nebeneinander gehen musste.

Beide genossen den lauen Abend und der Mond beleuchtete mit fahlem Licht den Weg der Spaziergänger.

An einer Schneise wurden Wolfgangs Schritte langsamer, schließlich blieb er stehen. Er zog Katharina zu sich heran, ohne von ihr Widerstand zu spüren, beugte sich zu ihr hinab und küsste sanft ihre Lippen. Katharina hatte ihre Augen geschlossen und wünschte sich, dass dieser Augenblick ewig dauern möge. Nach einer Weile setzten sie ihren Weg fort, der nun allerdings immer wieder von weiteren Küssen unterbrochen wurde.

Als das Pärchen zu Hause ankam war es bereits nach dreiundzwanzig Uhr, aber Mutter Schimkus saß noch immer am Küchentisch und stickte an einer Tischdecke.

Als die jungen Leute eintraten, sah sie ihnen an, dass sie einen schönen Abend verbracht hatten.

Mit einem Blick auf die Küchenuhr sagte sie erschrocken: »Erbarmung, nun ist es schon so spät geworden. Ich hatte ganz und gar die Zeit vergessen. Nun huckt euch mal noch ein bisschen her, ich räume das Feld.«

Den höflichen Einwand des Pärchens, doch zu bleiben, lehnte sie diskret ab und ging in ihr Zimmer. Sie konnte sich gut vorstellen, dass die Zwei noch ein bisschen allein sein wollten.

Obwohl sie nicht übermäßig neugierig war, konnte sie doch lange nicht einschlafen und hörte Wolfgang und Katharina in der Küche leise sprechen. Nur manchmal wurde das Gespräch für einige Zeit unterbrochen, dann lächelte Marie Schimkus, denn sie ahnte warum. Ach, wenn doch dieser Krieg nur schon vorbei wäre. So eine Frau, wie Katharina hätte sie ihrem Sohn sehr gegönnt.

Die kurze Zeit des Urlaubs war vergangen und Wolfgang hatte sein Gepäck bereits neben seinem Bett stehen. Nur noch eine Nacht und dann musste er sich von seiner Mutter und von Katharina verabschieden.

Am Morgen saßen alle drei ziemlich schweigsam am Frühstückstisch, nur ab und zu flogen ein paar Worte hin und her. »Pass’ auf dich auf, sei nicht leichtsinnig, rauche nicht so viel, schreibe mal öfter!« Alles Ermahnungen, die er nach jedem Urlaub hörte. Katharina schaute auf die Küchenuhr. Sie musste in die Schule.

»Ich werde mal ein bisschen Holz für den Küchenofen aus dem Stall holen«, sagte Marie Schimkus plötzlich und stand auf, um eilig die Küche zu verlassen. Sofort flog Katharina in Wolfgangs Arme und küsste ihn stürmisch. »Bleib gesund«, flüsterte sie, »und schreibe mir so oft es geht. Wann wirst du denn wieder auf Urlaub kommen?«, wollte sie wissen.

»Wenn ich Glück habe, bekomme ich vielleicht Weihnachtsurlaub. Es sei denn, dass ich versetzt werde, dann werden die Neuen natürlich nicht berücksichtigt. Aber ich denke, dass ich bei meiner Einheit bleibe«, sagte Wolfgang und küsste Katharina auf die Augen, aus denen nun doch ein paar Tränen kullerten.

Während der zwei Wochen hatte sich das Mädchen unsterblich in den jungen Mann verliebt und nun kam zur Angst um ihre Eltern auch noch die Angst um ihren Liebsten.

Katharina wäre gern noch geblieben, aber ihr Pflichtbewusstsein gebot ihr, pünktlich zum Unterricht zu erscheinen. »Auf Wiedersehen Wolfgang!« Es klang so unpersönlich, da setzte sie noch ein zärtliches: »Ich hab’ dich lieb« dazu. Ein letzter Kuss, und die Lehrerin floh mehr aus dem Haus, als dass sie lief. Vor der Schule wischte sie sich mit dem Taschentuch die Tränen ab und putzte sich ihr rotes Näschen.

Als sie nach der Schule nach Hause kam, war Wolfgang fort und Frau Schimkus sehr still. Beide umarmten sich, weinten leise, und hofften, Wolfgang gesund wiederzusehen.

Am Abend sprachen die Frauen über Wolfgang und Frau Schimkus fragte Katharina, ob sie sich vorstellen könnte, eines Tages in Ostpreußen zu leben.

Obwohl die junge Lehrerin ihre Eltern über 1000 Kilometer entfernt wusste, wäre sie für ihre Liebe tatsächlich nach Ostpreußen gezogen, verriet sie ihrer Wirtin. Die Frau war so gerührt, dass sie Katharina erneut umarmte und ihr das »Du« anbot.

Ab sofort sagte Katharina zu ihr »Marie«.

Am nächsten Tag machte die Lehrerin mit den Jüngsten in ihrer Klasse Schreibübungen. Die Kinder mussten einfache Worte von der Tafel in ihre Hefte übertragen, die älteren Schüler eine Geschichte in ihren Büchern lesen, die sie danach in Kurzform selbst wiedergeben sollten. Inzwischen wollte sich Katharina den Pflanzen auf den Fensterbrettern widmen. Ihr Blick ging über die Köpfe ihrer Schüler hinweg.

Die Erstklässler schrieben mit konzentrierten Minen die Buchstaben von der Tafel ab, Wort für Wort.

Die älteren Schüler lasen in ihren Büchern. Beruhigt widmete sich die Lehrerin ihren Pflanzen. Zuerst wollte sie dem Gummibaum ein wenig Wasser geben, der nur ab und zu gegossen werden brauchte.

Als sie ihn jedoch mit der kleinen Gießkanne benetzte, war da nicht etwa nur Wasser in der Kanne, sondern das Wasser war mit blauer Tinte vermischt. Ehe die Lehrerin das Unfassbare bemerkt hatte, war ein Teil der Tinte bereits über die Blätter in den Topf gelaufen. Vor Schreck und Fassungslosigkeit über so eine Frechheit, konnte sie ein paar Sekunden keinen klaren Gedanken fassen. Mühsam beherrscht nahm sie dann aber den Blumentopf und verließ den Klassenraum, um die Pflanze an der Pumpe im Hof zu wässern und eventuell den Schaden zu verringern.

Beim Verlassen der Klasse huschte ihr Blick über die Köpfe der älteren Schüler und sie konnte in einigen Gesichtern ein schadenfrohes Grinsen erkennen. Die Lehrerin nahm sich vor, dass sie sich diese Burschen bis zu ihrer Rückkehr gut merken würde. Noch an der Pumpe konnte sie diese Ungeheuerlichkeit nicht begreifen. Was hatten die Pflanzen denn den Schülern getan? Diesmal würde sie durchgreifen müssen, sonst tanzten ihr die Rabauken bald gänzlich auf dem Kopf herum und lieferten den Mitschülern ein schlechtes Beispiel. Sie würde jedoch dem Missetäter und eventuellen Helfershelfern die Möglichkeit geben, sich selbst zu stellen.

Betont beherrscht kehrte sie mit der Grünpflanze in den Klassenraum zurück. Als sie über die Köpfe der Kinder schaute, sah sie nur hochkonzentrierte Schüler, die ihre Nasen tief über Bücher oder Hefte hielten und sich nicht trauten, aufzublicken. In diese Konzentration hinein fragte sie mit nicht allzu lauter, aber umso strengerer Stimme: »Wer war das?«, und zeigte dabei demonstrativ auf die Grünpflanze.

Sie ließ diese Frage einige Sekunden im Raum stehen und fragte dann schärfer: »Wer war das? Jetzt kann der Unhold Mut beweisen. Wehrlose Pflanzen zu ruinieren bedarf es keinen Mut. Also, wer war der Übeltäter?«

Die Nasen senkten sich noch tiefer über die Lehrmittel.

»Also gut, wenn sich der Lauks nicht selbst meldet, werde ich es herausfinden, das wird gar nicht so schwer werden. Ich denke, dass es niemand aus der unteren Klasse war. Diese Schüler können an die Wand treten. Den Mädchen traue ich so eine Tat auch nicht zu, die können auch zur Seite gehen.« Nach einem abschätzenden Blick auf den Rest der Klasse zählte die Lehrerin die Anzahl der verbliebenen Schüler.

»Nun haben wir also noch achtzehn Verdächtige. Merkt ihr etwas? Der Ring zieht sich immer enger zu«, sagte die Lehrerin streng. »Also, letzte Chance. Wer war es?«

Kein Schüler meldete sich, aber einige rutschten nervös auf ihren Bänken hin und her. Katharina schaute jeden einzelnen Jungen durchdringend an und pokerte: »Hans, du kannst zur Wand gehen, Robert auch. Martin und Friedrich können auch mitgehen.«

Ihre Blicke schienen die Schüler zu durchbohren und erzeugten immer größere Nervosität unter ihnen.

Sie wandte sich an den Klassensprecher: »Ulrich, weißt du wer es war?« Der Schüler schüttelte wenig glaubhaft den Kopf.

»Das glaube ich dir zwar nicht und es ist schlimm genug, dass du als Klassensprecher mich anschwindelst, aber dir traue ich die Tat ebenfalls nicht zu, gehe also mit zur Wand. Und darüber, ob ich dich noch als Klassensprecher akzeptieren werde, werden wir später reden.«

Mit hängendem Kopf trat Ulrich zur Seite, er schämte sich, seine Lehrerin angelogen zu haben, die immer fair zu den Kindern war.

Schüler für Schüler wurde von der Lehrerin aussortiert, bis nur noch ein Kern von sieben Jungs übrig geblieben war.

Die Spannung war deutlich zu spüren. Keiner der Übriggebliebenen wagte, der Lehrerin ins Gesicht zu schauen, also folgerte Katharina, dass alle sieben zumindest Mitwisser waren und dass sich unter ihnen der Täter befand.

Die Lehrerin ließ die Schüler nach vorn kommen und sagte: »Ich möchte eure Hände sehen.« Vier Schüler zeigten ihre Hände sofort, die restlichen drei zögerten. Als sie ihre Hände ausgestreckt hatten, sah die Lehrerin, dass die Finger der drei Schüler mit Tinte beschmiert waren. An der Hand des einen Schülers waren Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger mit Tinte beschmiert, das hatte sie bei ihm schon öfter gesehen, es lag an seinem klecksenden Füller. Auch dieser Schüler durfte gehen. Nun blieben noch zwei Schüler übrig.

»Wer von euch beiden Laukse war es?«, fragte sie mit strenger Stimme. Betreten schauten beide zu Boden.

»Na gut, ich bekomme das heraus, verlasst euch drauf, aber dann werde ich keine Gnade mehr walten lassen!«

Plötzlich kam ihr eine Idee. »Edeltraud, bringe mir doch bitte aus dem Klassenschrank ein Fässchen Tinte.«

Die Schülerin kam dem Wunsch der Lehrerin nach. Inzwischen nahm Katharina ein paar lose Blätter aus dem Schubfach des Lehrertisches und legte sie auf die Tischplatte.

Dann sagte sie zu den beiden Verdächtigen: »So, nun taucht ihr eure Fingerspitzen in das Tintenfass und macht auf dem Blatt Papier von jeder Fingerspitze einen Abdruck. Die Fingerabdrücke und die Gießkanne übergebe ich morgen dem Dorfpolizisten, der bringt sie nach Zinten zur Kriminalpolizei und die finden dann den Übeltäter.«

Das war natürlich nur ein Trick, doch sie hatte damit Erfolg.

Plötzlich schrie nämlich Kurt Perkuhn, und er unterzog mit seiner Aussage der Kinderfreundschaft zu Albert Schugat einer großen Belastungsprobe: »Ich brauche überhauptkeine Fingerabdrücke abgeben, ich war es ja gar nicht. Der Albert hat die Tinte in die Gießkanne geschüttet.«

Der so schmählich verschuftete Rabauke wurde kalkweiß. Nun war er überführt. Überführt? Nein, verraten vom eigenen Freund! Das zählte doppelt.

Mühsam beherrscht sagte die Lehrerin: »Alle Kinder setzen sich wieder auf ihre Plätze.«

An Albert Schugat gewandt sagte sie jedoch streng:

»Du, nicht. Du bleibst hier vorn.«

Die Lehrerin im Rücken, griente Albert Schugat seinen Mitschülern im festen Glauben entgegen, dass er einer strengen Bestrafung entgehen würde, denn Frau Knieschitz hatte bisher immer nur geschimpft. Bei Herrn Graudenz wäre das allerdings etwas anderes. Der zog ungezogenen Schülern ab und zu mal eins mit dem Rohrstock hinten drauf.

Frau Knieschitz noch nie, die hatte ja nicht mal einen Penter, so die Meinung des Schülers.

Katharina wusste, dass sie nun ein Exempel statuieren musste, wollte sie nicht ihre Autorität verspielen. Trotzdem war ihr nicht wohl beim Gedanken, einen Schüler mit dem Rohrstock zu disziplinieren. Sie gab sich schließlich einen Ruck und lief zum Klassenschrank, drehte ihren Schlüssel im Türschloss und öffnete die Schranktür. In der rechten Ecke stand der Rohrstock. Die Schüler klebten mit ihren Augen förmlich an ihrer Lehrerin und sahen natürlich, wie sie den Rohrstock aus dem Schrank nahm. Augenblicklich konnte man die kollektive Atmung der Schüler vernehmen, die ihre Luft vor Schreck hörbar einzogen. Auch Albert war erschrocken und er ahnte, dass er den Bogen überspannt hatte und der Prügel wohl diesmal nicht ausweichen konnte.

Die Lehrerin ging nach vorn und forderte den Schüler auf, sich mit dem Oberkörper über die Schulbank in der ersten Reihe zu legen. Langsam kam Albert der Aufforderung nach und erwartete das Unausweichliche. Frau Knieschitz hatte noch niemals einen Schüler geschlagen und kam sich elend vor.

Sie wusste aber, dass es diesmal unausweichlich war und hoffte, dass dieses Exempel eine so abschreckende Wirkung zeigen würde, dass sie diesen unseligen Rohrstock kein zweites Mal benutzen musste.

Dann hieb sie tatsächlich den Stock auf das Hinterteil des Schülers. Sie versuchte, ihre Schläge so zu dosieren, dass sie den Schüler nicht zu sehr schmerzten und trotzdem eine erzieherische Wirkung hinterlassen würden. »Wie oft soll ich denn nun zuschlagen«, dachte sie, »genügten fünf Schläge, sind zehn bereits zu viel?« Katharina zählte bis acht und ließ es genug sein.

»So, ich hoffe, dass es dir und den anderen Schülern, die in der Schule Blödsinn machen wollen, eine Warnung war. Ab heute werde ich den Stock gut sichtbar auf dem Lehrertisch liegen haben, als Warnung an jeden der den Unterricht stört oder eine ähnliche Schufterei macht, wie heute.«

Innerlich hoffte sie, diesen Stock nie mehr zum Schlagen eines Kindes in die Hand nehmen zu müssen.

Albert hatte bei der Bestrafung sein Gesicht vor Schmerz verzogen, aber er hatte keine Träne vergossen.

»Du kannst nach Hause gehen, ich möchte dich heute nicht mehr sehen«, sagte die Lehrerin streng, doch sie wollte dem Schüler nur das Sitzen auf der Holzbank ersparen.

So gesehen hatte die Züchtigung für Albert, trotz der Schmerzen, einen versöhnlichen Ausgang genommen. Er war hart im Nehmen und mit der Rute hatte er von der Mutter auch schon oft etwas hintendrauf gekriegt.

An den folgenden Tagen fehlte der Junge in der Schule und Katharina überlegte, ob sie sich nicht einmal bei seinen Eltern nach ihm erkundigen sollte.

Doch als die Lehrerin an jenem Nachmittag, als sie diesen Elternbesuch vornehmen wollte, nach Hause kam, war Besuch im Haus. Am Küchentisch saß eine Frau aus dem Dorf, die Katharina nicht bekannt war, und die doch auf die Lehrerin wartete. Katharina ahnte plötzlich, wer da am Küchentisch saß.

Vor sich hatte die Frau einen Korb stehen, in dem sich Schinken, Eier, Honig und ein Brot befanden. Die Frau schien mit ihrem Einkauf, vom Krämer direkt zu ihr gekommen zu sein.

Nachdem Katharina die Mutter ihres Schülers begrüßt hatte, überlegte sie kurz, wie sie das Gespräch beginnen sollte, da sprudelte die Frau plötzlich im Jargon der Königsberger Marktfrauen mit rollendem »R« und merkwürdigem »ei«, das mehr wie ein »ej« klang, heraus: »Also Frollejn, ich bin ja nu mal die Mutter vom Albert und da muss ich mal mit Ihnen reden.«

Katharina unterbrach die Frau und sagte: »Liebe Frau Schugat, ich kann mir vorstellen, dass Sie ärgerlich sind, aber …«

Nun jedoch wurde die Lehrerin unterbrochen: »Nej, nej nej, Frollejn, das brauchen Se mal nuscht nich vertuschen.«

Katharina schwieg betreten und suchte nach Worten, dafür legte Frau Schugat nach: »Ei, ich kenne mejnen Alfred jar nich wieder. So ejn Schubiak, der mir nur Erjer jemacht hat, auf ejnmal hilft er mir auf dem Feld, will jar nich in die Schule jehen, ehe die Kartoffeln vom Acker sind. Hat sich frieher nuscht nich draus jemacht, wenn ich ihn mit den Kodder ejne jetachtelt habe oder ihn den Dups versohlt hab. Hatte immer nur das Rumkariolen mit sejnen anderen Labommels im Kopp oder hockte mit ihnen auf die Lucht und baldowerte neue Dummhejten aus. Pletzlich hilft er mir sojar im Haus. Erbarmung, ich hatte nur Sorjen mit ihm, sejt mejn Mann bei den Soldaten is. Nich mal der Präzenter is mit ihm noch fertig jeworden und nu kommt so ejne junge Lehrerin, haut ihm mit den Penter den Hosenboden ejn und schon is mejn Albert ejn braves Kind. Dafür danke ich Ihnen auch scheen.«

Die Lehrerin konnte sich gar nicht genug wundern. Sie hatte gedacht, dass sich die Mutter des Schülers bei ihr wegen der Bestrafung mit dem Rohrstock beschweren wollte, nun bedankte sie sich auch noch dafür. Katharina konnte das nicht begreifen und es war ihr äußerst peinlich.

»Junges Frollejn, ich habe Ihnen da ejn bisschen was mitjebracht, nur ejne Klejnigkejt, aber es kommt von Herzen«, sagte Frau Schugat, und packte ihren Korb vor der Lehrerin aus, deren Augen vor Verwunderung immer größer wurden. Schinken, Honig, Brot und Eier lagen auf dem Küchentisch und dem frisch gebackenen Brot entströmte ein herrlicher Duft. Wie gern hätte sie sich aus den Schätzen ein schönes Essen bereitet, aber sie durfte sich als Lehrerin doch nicht bestechen lassen, und das sagte sie der Frau auch.

»Erbarmung, junges Frollejn. Sehe ich amend aus wie ejn Schubiak, der Sie bestechen will? Nej, das ist ejn Jeschenk, wie man es juten Frejnden macht, das kenn Se ruhig annehm.«

Nun mischte sich auch Marie Schimkus ein. »Wenn die Frau Schugat dir das doch schenken will, kannst du es nicht abschlagen. Könnte sein, dass sie sonst beleidigt wäre.«

Frau Schugat erhob sich und sagte: »Nu wollen wir mal nich so ejn Brimborium draus machen. Wenn ich es nich hette, kennte ich es auch nich jeben. Also, auf Wiedersehen.«

Katharina bedankte sich, obwohl sie sich etwas überrumpelt fühlte, und brachte die Frau zur Tür. Als sie die Ausgangstür geschlossen hatte und in die Küche zurückgekehrt war, standen die beiden Frauen für einige Sekunden regungslos da und prusteten plötzlich gleichzeitig los.

Marie Schimkus traten vor Lachen die Tränen in die Augen und amüsiert sagte sie: »Wenn du einem Schüler eine Eins gibst, schenkt dir niemand etwas, aber wenn du ihm den Hosenboden versohlst, dann hast du für drei Tage zu essen«, und die Frauen lachten wieder los.

Diese Begebenheit behielten die beiden Frauen jedoch für sich und Albert Schugat kam auch wieder in die Schule. Er hatte sich zwar nicht von Saulus zu Paulus gewandelt, doch sein Betragen machte zumindest während des Unterrichtes einige Fortschritte.

Katharina hatte Post bekommen, und zwar gleich drei Briefe auf einmal. Der dickste Brief war von ihren Eltern, der zweite Brief war von Tante Ida und der dritte von Mutter Kleinschmidt. Die Freude war riesig und die junge Frau zog sich auf ihr Zimmer zurück, um ihre Post in Ruhe zu studieren.

Im Radio kamen immer wieder Nachrichten über Köln, die ihr Angst machten. Ganz besonders schlimm aber musste es in Essen sein, da konnte ja kein Stein mehr auf dem anderen stehen.

Obwohl ihr Vater in seinen Briefen nur spärlich über die Bombenangriffe auf Köln berichtete, um seine Tochter nicht übermäßig zu beunruhigen, konnte sich Katharina das Leid der Menschen in der Stadt vorstellen.

Ganz besonders erschüttert war sie vom Tod des Nachbarsohnes. Sie hatten als Kinder miteinander gespielt und als Heranwachsende lernten sie auf demselben Gymnasium. Sie war sehr froh, dass es ihren Eltern gut ging, aber ihr wäre wohler zumute, wenn sie Köln verlassen würden.

Das Pflichtbewusstsein ihres Vaters, der auch in schwersten Zeiten nie seiner Arbeit fern blieb, würde eines Tages noch zu einem Unglück führen.

Die junge Frau schwebte zwischen Angst, wenn sie an ihre Eltern, Verwandte und Freunde dachte, und Erleichterung, dass sie selbst, fernab von Bombenbedrohungen im ostpreußischen Loditten in Sicherheit war.

Tante Ida schrieb, dass sie inzwischen ab und zu Besuch von ihrem Mann Herbert bekam, und stellte die Aussicht in den Raum, sich angesichts der schweren Zeit wieder mit ihm zu versöhnen. Das freute Katharina, die ja ihren Onkel öfters heimlich besucht hatte und somit künftig eventuell auf diese Art Heimlichkeiten verzichten konnte.

Mutter Kleinschmidt schrieb in ihrer unverwechselbaren Art genauso wie sie sprach und Katharina musste beim Lesen der Zeilen ein paarmal lachen. Die Frau beklagte sich über das Berliner »Mistwetter«, über die Rationierung der meisten Dinge des täglichen Bedarfs, über den Engpass an Kohlen, Brennholz und Kartoffeln, über das Ausbleiben von Gästen und auch darüber, dass ihre Tochter sie wohl vergessen hatte, da sie sich gar nicht mehr meldete.

Doch bei allem Schimpfen klang aber auch immer wieder der unverbrüchliche Optimismus der Frau durch.

Katharina wollte die Briefe so schnell wie möglich beantworten.

Inzwischen wehte der berüchtigte kalte Ostwind über das Memelland nach Ostpreußen. Das Herbstlaub wurde von den Ästen geweht, und tanzte im Spiel des Windes. Regenschauer jagten Mensch und Tier in sicheren Unterschlupf und aus den Schornsteinen der Häuser stiegen dicke Rauchwolken.

Die junge Lehrerin bekam einen ersten Eindruck, wie unwirtlich es in ihrer neuen Heimat sein konnte, dabei hatte der Winter noch nicht einmal begonnen.

Mit dem Beginn der kalten Jahreszeit wurde im Haus von Marie Schimkus eine liebgewonnene Tradition wiederbelebt, an der Katharina nun ebenfalls teilhaben durfte.

Die Noaberschen trafen sich zum Kadreiern, da kam manchmal sogar eine größere Plachanderrunde zum Schabbern zusammen. Bei Kaffee und Plinsen wurden all die Ereignisse besprochen, die sich ab dem Frühling zugetragen hatten. Hochzeiten, Todesfälle, Kindergeburten und all den Frauenklatsch, über den es sich herzuziehen lohnte, jedoch ohne Bosheit und Arglist.

Die Menschen in Ostpreußen waren geradlinig, manchmal wortkarg, zuweilen auch störrisch, aber immer ehrlich.

Wortkarg waren die Nachbarinnen von Marie Schimkus zum Glück nicht, deshalb waren die Abende, an denen sie sich im Wechsel trafen, für die Frauen immer sehr unterhaltsam.

Meist brachten sie Strickzeug mit und strickten Socken, Handschuhe oder Schals oder stopften ihren Männern die löchrigen »Mauken«. Die Hände der Frauen konnten auch nach dem Feierabend einfach nicht ruhen.

Die Männer nahmen es den Frauen nicht übel, dass die sich zum Plaudern trafen. Sie selbst setzten sich dann im Wirtshaus zusammen, kippten sich ein paar Bierchen und ein paar Bärenfang oder Machandel hinter die Schlorren, und auch sie unterhielten sich oder spielten Karten. Der Winter war für die Bauern die Zeit, auch einmal ein wenig an sich zu denken.

In den vergangenen Tagen hatte die junge Lehrerin die geplanten Elternbesuche begonnen, und das nicht nur bei den Eltern schwieriger Schüler. Es war zugleich ein Anlass, sich bei den Eltern im Dorf bekannt zu machen. Meist waren ohnehin nur die Mütter der Kinder und die Großeltern anwesend, weil ja fast alle wehrfähigen Männer des Dorfes zu den Soldaten eingezogen waren. Als Ersatz für die fehlenden deutschen Bauern und Handwerker dienten russische, polnische, französische und belgische Arbeitskräfte. Besonders Gefangene aus dem französischen Elsass-Lothringen, die zumeist deutsch sprachen, wurden auf den Feldern und in den Werkstätten des Gutes der Familie von Lübzow eingesetzt.

Die sowjetischen Kriegsgefangenen beherrschten die deutsche Sprache nicht und auch die Polen sprachen nur ein paar deutsche Brocken.

War die Lehrerin zunächst etwas befangen, lernte sie doch sehr schnell die Liebenswürdigkeit und Gastfreundschaft der Menschen im Dorf kennen und wurde von ihnen sofort in ihre Gemeinschaft aufgenommen.

Ursprünglich hatte sich Katharina vorgenommen pro Abend mindestens vier Familien zu besuchen, doch meist wurde sie bereits bei der ersten Familie zu einem Tee oder gar zum Abendbrot eingeladen. Oft gingen die Gespräche über die Schulprobleme hinaus, so dass für die Lehrerin absehbar war, dass sie es nicht schaffen würde, noch vor den Weihnachtsferien alle Eltern aufzusuchen.

Eines erstaunte die Lehrerin immer wieder. Anders als in Köln, wo die Eltern auch ihre größten Rüpel vehement verteidigten und auch verredeten, gingen die Ostpreußen mit ihrem Nachwuchs weniger nachsichtig um. Rüpel war Rüpel, Faulpelz, Faulpelz und wer Strafe verdient hatte, der sollte sie auch bekommen. Wenn nötig, sogar mit dem Rohrstock.

Katharina musste sich an manchem Abend einen Ruck geben, das gemütlich beheizte Haus zu verlassen und in die nasse Kälte hinaus zu gehen. Zu den entlegenen Höfen fuhr sie mit dem Fahrrad.

Ihre Hände steckten in dicken Handschuhen, den Jackenkragen hatte sie hoch geschlossen, vor dem Mund einen Schal gebunden und auf dem Kopf trug sie eine Mütze. So versuchte sie dem Wetter zu trotzen. Dennoch peitschte ihr der Regen oft ins Gesicht und sie kam bei den Leuten oft nass wie ein Pudel an und war dann dankbar für einen heißen Tee. Manchmal gab es sogar einen Grog oder einen heißen Bärenfang, das weckte die Lebensgeister und wärmte von innen. Es war dann für die Lehrerin immer schwer, am selben Abend noch eine zweite Familie aufzusuchen.

Manchmal verfehlte nach so einem üblen Wetter ihr Besuch jedoch sogar den eigentlichen Grund. Dann nämlich, wenn sie völlig durchnässt bei einer Familie eintraf und erst einmal »trocken gelegt« und aufgewärmt werden musste.

Nach zwei oder gar drei heißen Bärenfang war selbst der engagiertesten Lehrerin die Lust auf ernsthafte Schulgespräche vergangen. Viel lieber hörte sie sich dann die Erzählungen der alten Leute an, die endlich auf jemanden trafen, mit dem sie noch nicht über die Geschichten aus der alten Zeit plachandert hatten. Diese Gesprächsabende verschafften der jungen Frau jedoch schon bald Sympathien im Ort, denn es sprach sich herum, dass diese tüchtige Lehrerin nicht nur über die Probleme in der Schule sprechen wollte, sondern sich ihrerseits auch für die Belange der Menschen im Dorf interessierte und zuhören konnte.

Dass man die Dorfschullehrerin mitunter mittels zwei oder drei Gläschen Grog oder Bärenfang von den eigentlichen Themen abbringen konnte, blieb selbstverständlich unerwähnt.

An einem jener Abende, an dem die Schulprobleme eine untergeordnete Rolle spielten und Katharina sich wieder einmal die Geschichten und Erlebnisse aus alter Zeit anhören musste, trat die alte Frau Penschat mit einer Frage an die Lehrerin heran.

»Sajen Se mal Frollejn, man hat Se sonntachs noch nie nich in unsere Kirche jesehen, sind Se etwa nich jläubig? Es spricht sich schnell herum, wenn ejns nich in die Kirche jeht.«

»Liebe Frau Penschat, natürlich bin ich gläubig, in Köln bin ich mit meinen Eltern regelmäßig zum Gottesdienst gegangen. Es war ja sogar ein Einstellungskriterium, dass ich meine Glaubenszugehörigkeit nachweisen kann, aber ich hatte in den letzten Wochen so viel für die Schule zu tun, da blieben die Kirchenbesuche leider auf der Strecke. Meine Wirtin hat mich aber bereits zum Gottesdienst am nächsten Sonntag eingeladen.«

Die Antwort schien Frau Penschat zufrieden gestellt zu haben, denn sie schabberte nun über den allgemeinen Dorftratsch. Herr Penschat hatte auf seinem Stuhl am Ofen gesessen und stand missmutig brummelnd auf, um sich einen Knösel zu stopfen. Ihm missfiel es, wenn seine Frau den Dorftratsch weitergab, da paffte er aus Protest dicke Qualmwolken an die Decke.

Am Donnerstag fuhr Katharina zum Vorwerk Eichgraben, um sich den Müttern einiger ihrer Schüler vorzustellen und mit ihnen über ihre Sprösslinge zu sprechen.

Die Vorwerke Eichgraben, Karlshof und Buchwäldchen waren nur auf unbefestigten Wegen zu erreichen, die vorbei an hügeligen Feldern durch einen dichten Wald führten.

Der Regen der letzten Tage hatte die grundlosen Wege aufgeweicht und die Lehrerin sank auf freier Strecke mit ihren Rädern im Schlamm ein, sodass sie mit einem beherzten Sprung von den Pedalen direkt in den Schlamm hopsen musste. Leise fluchend schob sie ihr Fahrrad durch den Morast auf festen Weg und stieg schließlich wieder auf.

Ihre Schuhe waren bis zu den Knöcheln beschmutzt, doch die Lehrerin setzte ihren Weg unbeirrt nach Eichgraben fort, denn was sie sich einmal vorgenommen hatte, das führte sie auch zu Ende.

Bereits wenige Tage später waren auf dem Weg nach Buchwäldchen die tiefen Fahrspuren der eisenbeschlagenen Räder der Pferdefuhrwerke gefroren.

Die junge Frau zog es nun vor, ihr Fahrrad zu schieben, ehe sie womöglich in eine der gefrorenen Rillen geriet und stürzte.

Von einer Anhöhe aus konnte sie das Vorwerk Buchwäldchen sehen und war froh, dass sie den beschwerlichen Weg fast geschafft hatte, doch gänzlich aufatmen würde sie erst, wenn sie wieder wohlbehalten in ihrer Wohnung angekommen war. Ihr schoss plötzlich der Gedanke durch den Kopf, dass dies der tägliche Schulweg einiger ihrer Schüler war, egal ob bei Sonne, Regen oder Schnee, doch gerade die Schüler aus diesen abgelegenen Vorwerken waren fast immer pünktlich, und vor allem, sie schwänzten nie.

Als Katharina eines Tages nach der Schule nach Hause kam, lächelte ihre Wirtin sie geheimnisvoll an und deutete mit einer Kopfbewegung zum Küchentisch. Dort lehnte an ihrer Kaffeetasse ein Brief. Sie erkannte die Schrift sofort.

Den Brief hatte Wolfgang geschrieben und Katharinas Freude war riesengroß. Auch Marie hatte einen Brief von ihrem Sohn bekommen. Es schien ihm gut zu gehen, das zumindest verriet Maries Lächeln.

... und hinter uns die Heimat

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