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2 Klackklack

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Von Kettelers Wunsch wirft Fragen auf. Fragen, zu denen Delius Position beziehen muss, bevor er die Partnerinnen informiert.

Er lässt Frau Gonzales wissen, dass er eine 'Findungsauszeit' benötige und morgen früh erst wieder zur wöchentlichen Lagebesprechung im Büro zu erwarten sei. Wenn Delius eine Auszeit ankündigt, lassen ihn Frau Gonzales und die 'Jeannies' in Ruhe.

Er braucht Entspannung, einen klaren Kopf. Um das zu erreichen, greift er auf eine bewährte Methode zurück. Sein Weg führt ihn geradewegs auf die mit Campingtisch, Klappstuhl, Wäscheständer und einem Kasten Mineralwasser fast vollständig zugestellten Terrasse seiner Dachwohnung im vierten Geschoss des Vorderhauses. Er nimmt Sportshort und Funktionsshirt von der Leine, ergreift die unter dem Tisch stehenden Joggingschuhe und zieht eine Flasche Mineralwasser aus dem Kasten.

Fünf Minuten später öffnet er das Verdeck des Saab, schiebt die Sonnenbrille ins Gesicht und fährt die Rittensteiner Straße hinauf. Kurz vor dem Nobelstadtteil Hügelberg biegt er links ab, durchfährt ein paar Wohnstraßen und stellt den Wagen auf dem Parkplatz am Beginn der vier Kilometer langen Waldlaufrunde ab.

Nach Absolvierung der ungeliebten Dehnübungen zieht er die Schleifen der Schnürsenkel stramm und läuft los. Schon nach hundert Metern ist ihm klar, dass ihn das Laufen nicht ablenkt - zumindest heute nicht. Später ja, später würde er gerne nachdenken und Argumente abwägen wollen. Aber nicht jetzt. Jetzt möchte er abschalten, seine Wahrnehmung auf die Natur und die eigenen Bewegungen konzentrieren. Es gelingt ihm nicht. Von Kettelers Wunsch und das Honorarangebot laufen mit.

Zwei Runden später beendet er die Einheit, misst erschöpft den Puls und zwingt sich wiederholt zu Dehnübungen. ›Acht Kilometer sind eine Menge, fast ohne Training‹, denkt er.

Nachdem er wieder im Wagen sitzt, kommen ihm Zweifel. War er nicht um 11:35 Uhr angekommen? Jetzt zeigt die Uhr 12:45 Uhr. Wenn er zehn Minuten für die Dehnübungen abzieht, hätte er für die acht Kilometer eine Stunde benötigt. Niemals war er dermaßen lahm. Dafür gibt es nur eine Erklärung. Anstatt zwei ist er drei Runden gelaufen.

Wieder Zuhause, duscht er ausgiebig, zieht Shorts an, streift ein T-Shirt mit dem Aufdruck 'Who's Next' auf dem Rücken über und geht in die Küche. Er nimmt die überregionale Tageszeitung vom Tisch, holt ein Bier aus dem Kühlschrank und setzt sich mit Zeitung und Sonnenbrille an den Campingtisch, wohl wissend, dass er damit die Auseinandersetzung mit dem Auftragsangebot vor sich herschiebt.

Am frühen Abend legt er die Zeitung zur Seite, holt sich ein zweites Bier und beobachtet die Aktivitäten vor den Fassaden des gegenüberliegenden Blocks. Auf einem Balkon bereitet ein Paar den Grill vor. Einige Häuser weiter rekelt sich eine fettleibige Frau im gelben Bikini auf dem flachen Teerpappendach eines Erkervorbaus. Irgendwo hinter einer Brüstung versteckt, schreit ein Baby atemlos. Und überall sorgen aufgespannte Sonnenschirme für Farbtupfer vor den grauen Hinterhoffassaden.

Die mittlerweile untergehende Sonne taucht den zur Agentur gehörenden Hof in ein warmes gelblich-rotes Licht. Das Grün des Efeus wirkt frischer als noch am Tag. In seinem Laub suchen Vögel nach Kleingetier.

Aber der Apfelbaum bereitet ihm Sorgen. Nicht nur, dass er die ersten Blätter verliert, auch die Enden der feineren Äste verlieren ihre Spannkraft und hängen schlaff herunter.

Er sucht die Sonnenbrille, findet sie auf der Stirn, lässt sie auf die Nase gleiten und schaut in den wolkenfreien, tiefblauen Himmel. Zwei Kondensstreifen kreuzen sich in rechtem Winkel. Ihm kommt dieser seltsame Begriff in den Sinn, den von Ketteler benutzte. Am Anfang stand ein O und er klang lateinisch. Daran erinnert er sich. Mehr fällt ihm nicht mehr ein. Er schlüpft in die Flip-Flops.

Zwei Minuten später steht er in der Agentur. Der obersten Schublade des Rollcontainers entnimmt er den Notizblock, schlägt die mit der Visitenkarte von Kettelers markierte Seite auf, notiert das hingekritzelte Wort 'Ordalium' auf einem Haftzettel und macht sich auf den Rückweg. Für einen Moment genießt er die angenehme Kühle der Durchfahrt. Dann treibt ihn der Uringeruch der Wildpinkler weiter. Als er den Bürgersteig betritt, kann er gerade noch ausweichen.

»Pass auf, du Penner!«, ruft ein Radfahrer, der beinahe das Gleichgewicht verliert.

»Pass selber auf, Arschgesicht!« Aber Delius' Hinweis auf des Radlers physiognomisches Charakteristikum kommt nicht mehr an.

Wie an jedem Abend herrscht reges Leben auf der 'Rittensteiner'. Seitdem ungezählte Cafés und Kneipen, Restaurants und Imbissstuben die Straße für sich entdeckten, entwickelte sie sich zu der Vergnügungsmeile der Stadt. Manchmal treibt ihn das Verlangen nach zwei, drei Bieren, die Möglichkeit eines anregenden Gesprächs oder die Aussicht auf einen spannenden Flirt herunter. Irgendjemanden trifft er immer. Aber heute steht ihm nicht der Sinn nach Leuten.

Einige Häuser entfernt werfen zwei Jugendliche mit Wasser gefüllte Luftballone nach nichts ahnenden Passanten. Sie kommen in seine Richtung. Er öffnet die Haustür und huscht in den Flur. Ein Ballon fliegt noch durch den Türspalt, erwischt ihn aber nicht. ›Glück gehabt‹, denkt er. Dabei fällt ihm der 'Apfel' ein. Er wartet, bis das triumphale Lachen der beiden verklingt, geht zurück in den Hof, schließt den Gartenschlauch an und dreht den Wasserhahn auf. Mit der maximal einstellbaren Durchflussmenge wässert er den Wurzelbereich. Danach dreht er die Wasserregelung auf Sprühen, hält die Düse halb Richtung Krone, halb über sich selbst und genießt den erfrischenden Nebel, der beim Niedersinken winzige Tröpfchen auf der Haut bildet.

Wieder auf der Dachterrasse, öffnet er im Netbook ein Internetsuchportal und gibt den Begriff 'Ordalium' ein. Er klickt auf das erste Ergebnis der Suchanfrage. Eine Online-Enzyklopädie zeigt zunächst die deutsche Übersetzung an: ›Gottesurteil‹*. Danach erhält Delius eine kurze Begriffsdefinition: Ein Gottesurteil (lat. Ordalium) oder Ordal ist eine vermeintliche, durch ein übernatürliches Zeichen herbeigeführte Entscheidung in einem Rechtsstreit. Dabei liegt die Vorstellung zugrunde, ein höheres Wesen greife im Zusammenhang eines Rechtsfindungsprozesses ein, um den Sieg der Gerechtigkeit zu garantieren.

Es folgen - zusammengefasst auf drei Seiten - Informationen zur Etymologie, Geschichte und Einteilung in unterschiedliche Arten von Ordalen sowie Hinweise zu Literatur und Weblinks.

Delius öffnet das Funktionsfenster W-Lan-Drucker, drückt auf OK, geht in die Küche, öffnet eine dritte Flasche Bier und entnimmt auf dem Rückweg dem Ausgabeschacht das Papier. Wieder am Tisch sitzend studiert er den Artikel.

Da wird von Proben mit heißem und kaltem Wasser berichtet, von Feuerproben oder dem Liegen im Grab unter der Erde. Bei der Feuerprobe, liest er, muss der Delinquent ein glühendes Eisen mehrere Schritte weit tragen. Entzündete sich nach einigen Tagen die Wunde, statt zu heilen, galt dies als Schuldbeweis.

Er erfährt, dass zwischen einseitigem und zweiseitigem Ordal unterschieden wird und innerhalb dieser Unterscheidungen eine weitere Einteilung erfolgt - in einerseits das Ermittlungsordal (Versuch des Klägers, die Wahrheit seiner Anschuldigung zu beweisen) und andererseits in das Abwehrordal (Versuch des Angeklagten, seine Unschuld zu beweisen).

Unter den einseitigen Ordalen fasst man all jene zusammen, bei denen der vermeintliche Rechtsbrecher oder Ankläger sich alleine einem Gottesurteil unterziehen muss und lediglich mit den Elementen, vor allem Wasser, Feuer und Erde, oder mit heiligen Gegenständen in Kontakt tritt.

Bei den zweiseitigen Ordalen steht dem Beklagten ein Kläger gegenüber oder ein Unruhestifter einem anerkannt Friedliebenden. Hierzu gehören der Zweikampf, das Kreuzordal und das Kerzenordal.

Von Ketteler sprach sicher vom Zweikampf, vermutet er. Ein Zweikampfordal, geführt als Duell, dessen Ausgang ihm die Richtung zeigt. Eine übernatürliche Weisung, ein Gottesurteil, dem er gehorchen wolle. Delius muss grinsen. ›Total abgedreht dieser von Ketteler‹, denkt er.

Seine Augen brennen, und ein Gähnen nach dem anderen überfällt ihn. Erst jetzt bemerkt er die fortgeschrittene Dämmerung. Er legt die Papiere auf den Tisch, trinkt den letzten Schluck Bier und bedauert, mit Blick in den sternenklaren Himmel, nicht auf der Terrasse schlafen zu können. Das wäre zwar möglich, aber dafür müsste er Tisch und Stuhl ins Wohnzimmer tragen und die Isomatte aus dem Abstellraum holen. Danach steht ihm jetzt nicht der Sinn. Andererseits die Wärme ... Er kann sich nicht entscheiden. Vielleicht sollte er zunächst die Temperatur im Schlafzimmer auf Erträglichkeit prüfen und dann zwischen Terrasse oder Bett wählen.

In Shorts und T-Shirt wirft er sich auf die Matratze, schaut durch das Fenster der Dachschrägen in den inzwischen schwarzblauen Himmel und verliert sich in Gedanken. Ohne eine Wahl zu treffen, schläft er ein.

Im Morgengrauen wacht er auf, inmitten einer von mächtigen Laubbäumen umsäumten Lichtung. Die Kühle der Nacht umschlingt ihn. Tau liegt auf der Wiese. Nebelschwaden ziehen vorüber. Zwanzig, dreißig Meter entfernt geben sie die Konturen einer Gestalt frei. In seinen Augen liegt noch der Schlaf der Nacht, sodass er nur Umrisse erahnt. Aber er bemerkt, dass die Statur der Person seiner eigenen gleicht. Er kneift die Lider zusammen. Der Schlaf fällt ihm von den Augen. Kurz darauf sieht er klar und erkennt den anderen. Ist es wirklich er selbst, der dort steht - eine Armbrust im Anschlag. Etwa ein Spiegelbild? Wenn ja, würde er eine Armbrust in den Händen halten. Er versucht, die Arme anzuheben. Aber es gelingt ihm nicht. Die Gewissheit, somit unmöglich eine Armbrust in den Händen zu halten, erleichtert ihn wenig. Im Gegenteil. Denn genauso gewiss steht da drüben nicht sein Spiegelbild. Oder etwa doch? Oder erlebt er eine Fata Morgana? Unsinn, hier, so früh am Morgen, ausgeschlossen. Eher eine Illusion. Hatte er etwa geraucht, vielleicht sogar Pillen eingeworfen? Nein, Drogen lassen ihn seit zwanzig Jahren kalt. Und zuviel Bier war's auch nicht, gestern Abend.

Der andere - oder ist es doch er selbst? - steht ihm unverändert gegenüber, die Beine leicht gespreizt, die Armbrust im Anschlag. Jetzt sieht er die gespannte Sehne. Der Pfeil zielt genau auf ihn.

Er will weg, aber kann nicht. Was ist mit den Beinen? Er sieht an sich herunter, aber erkennt den Körper nicht. Sein Kopf sitzt auf den Schultern eines Fremden.

Er schaut wieder herüber, möchte sich zurufen, sich warnen, dass er es selber sei, der hier stehe.

»Achtung, Vorsicht, warte! Schau hin, wer ich bin!«, versucht er herauszubringen, doch seine Zunge gehorcht ihm nicht.

Er sammelt alle Kraft, versucht es erneut: »Hilf mir, mein Freund, nenne den Preis für meine Freiheit.« Aber seine Kehle erscheint wie zugeschnürt, und es entweicht ihm nur ein Röcheln.

Stattdessen, kaum wahrnehmbar, aber für Delius deutlich zu spüren, erhöht der andere die Körperspannung, kneift entschlossen die Augen zusammen und fixiert das Ziel - seinen eigenen, auf dem Rumpf eines fremden Körpers sitzenden Kopf.

Ein Irrtum, ohne Zweifel. Wie ist das möglich? Warum soll seinem Leben derart unverhofft ein Ende bereitet werden? Oder ist es kein Missverständnis? Ist es geplant? Ist es Vorsatz? Er braucht eine Antwort. Er braucht eine Lösung. Sofort.

Jetzt, endlich, schafft er es und schreit mit sich überschlagender Stimme die ersten verständlichen Worte: »Halt ein, mein Bruder, halt ein, ich bin es doch, du selbst!«

Dann hört er das Schwirren der blitzartig sich entspannenden Sehne, gefolgt von einem die Luft zerschneidenden Zischen. Im selben Moment trifft der Pfeil auf seine Stirn, kracht knirschend durch den Schädelknochen, durchbohrt das Hirn wie Gallert und wird von der hinteren Schädelplatte abrupt gestoppt. Die Wucht des Aufpralls schleudert den Kopf nach hinten. Sein starr in den blauen Himmel gerichteter Blick gefriert. Vor seinen Augen zittert das Ende des Pfeilschaftes. Ein markerschütterndes Fiepen und Klopfen rast durch die Gehörgänge direkt in sein Hirn, beraubt es seiner Funktion, bis sein Kopf, zum Resonanzkörper des entfesselt vibrierenden Pfeiles reduziert, in tausend Stücke zerspringt.

Schweißgebadet und gepeinigt von hämmernden Kopfschmerzen, wacht Delius auf. Es dämmert, die Vögel singen, und auf dem Dachfenster sitzt ein Rabe, der in einem monotonen 'Klackklack, Klackklack' Moos aus dem Rahmenblech pickt.

Selbstverständlich Pistolen

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