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Vorbemerkung Philosophische An-Sichten – der Geist des Ortes
ОглавлениеDer Band „Philosophische An-Sichten“ verknüpft verschiedene Formen der Erschließung und Repräsentation der Welt, Kunst und Philosophie, hier künstlerische Fotografie mit dem philosophischen Essay, der wiederum selbst als eine Symbiose des Philosophischen und Literarischen gilt. Die Fotografieserie German Photographs (1724–2005) von Patrick Lakey (Los Angeles) versammelt ausdrucksstarke Bilder von Ausschnitten der Welt, welche berühmte deutschsprachige Philosophen aus dem 18. bis 20. Jahrhundert ähnlich gesehen haben konnten, was ihnen möglicherweise ins Auge sprang und was wir heute noch annähernd gleich betrachten können. Die Palette reicht von Fichtes, Schillers und Hegels Jena über Nietzsches Bergwelt von Sils Maria und Heideggers Hütte in Todtnauberg bis zur spartanischen Wohnung von Wittgenstein in Cambridge, von der Domkirche zu Königsberg über die British Library bis zur Villa Aurora in Pacific Palisades. Diese Bilder der Welt werden in den Essays (Klaus Vieweg, Jena) mit Darstellungen zu den philosophischen Weltbildern der Denker, zu ihrer Biografie und zu den auf den Fotografien zu sehenden Orten verbunden – eine Kombination von Camera Work und Philosophy. Wie die Fotos ausgewählte Details ablichten, so richten sich die Texte ebenfalls aus einer speziellen Perspektive auf Facetten von zentralen Gedanken der Philosophen, die mit dem fotografierten Ambiente in einem engen Zusammenhang stehen – Landschaften, Wohn- und Arbeitsstätten, Gartenhäuser und Villen aus Dorf und Großstadt, meist legendäre Orte: von Schillers Jenaer Gartenhäuschen über Nietzsches Sils Maria bis zur Heidegger’schen Hütte; vom Königsberger Dom, an dem Kant oft vorbeispazierte, über das Haus des Verlegers Frommann, wohin Hegel sein einziges Manuskript der Phänomenologie des Geistes rettete, bis zu den Arbeitszimmern eines Fichte, Schopenhauer und Wittgenstein.
Der immer schwierige Versuch der Skizzierung von Grundgedanken der Philosophen für ein breites Publikum wird mit Biografischem und Anekdotischem verbunden, auch mit den skurrilen, kuriosen, schrulligen und bizarren Seiten der Protagonisten der Narrenweisheit, auch unter dezenter Nutzung der Wahrscheinlichkeits- und Möglichkeitsform, z.B. hat es nach bisheriger Kenntnis kein Gespräch zwischen Schopenhauer und Rossini gegeben, auch kein Jenaer G-3-Gipfeltreffen zwischen Fichte, Schelling und Hegel – es wäre wohl zu schön gewesen, oder wie es Hegel vielleicht salopp gesagt hätte: Schade für die Welt!
Sowohl Foto als auch Essay liefern kein Panorama, keine Gesamtsicht, sondern Momentaufnahmen von Details der Lebens- und Denkwege – ebenso sind Foto und Essay Ausdruck der Konstitution der Welt, unserer Welt-Sicht: Schnappschüsse der Welt und des Denkens. Die An-Sichten wollen Augenblicke, das Momentane festhalten und bannen; im Interesse einer Weltsekunde soll das Endlich-Vergängliche überlistet werden. Dem bunten Blitzen der Welt soll mit Kamera- und Geistesblitzen nachgejagt und diese damit bewahrt, aufbewahrt sein, indem der Momentanität eine geistige Bestimmtheit verliehen wird – Facetten des Geistes der so unterschiedlichen Lebensorte, der Ankerplätze für die Lebensschiffe deutscher Philosophen sollen sichtbar werden. Diese bekannt gewordenen Lebensschauplätze erscheinen gewissermaßen als die Basislager für ihre Expeditionen in unentdeckte Weiten des philosophischen Universums. So soll auf diese ungewöhnliche, Anschauung und Interpretation, Bild und Deutung kombinierende Weise etwas vom genius loci eingefangen werden, von der geistigen Atmosphäre, vom intellektuellen Flair der einzigartigen philosophischen Zentralorte von Königsberg über Jena, Sils Maria und London bis Frankfurt am Main und Cambridge.
Zudem steht das Büchlein für eine Kooperation zwischen California und Thuringia, zwischen den zweifellos bedeutenden Weltstädten Los Angeles und Jena. Dabei kommt Jena und Thüringen eine besondere Rolle zu: Ein wirkungsträchtiger früher Kantianismus und spannende Anknüpfungen an die Kantische Philosophie entstanden nach 1789 in der Saalestadt, die in dieser Zeit zur Weltmetropole der Philosophie avancierte – Schiller, Fichte und Hegel stehen dafür in besonderer Weise; Schopenhauer und Marx promovierten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an der Alma Mater Jenensis, Schopenhauer 1813 und Marx 1841. Nietzsches Lebenslauf war von einer ambivalenten und tragischen Beziehung zu Jena und Thüringen (Tautenburg, Weimar) geprägt; von Gottlob Frege, dem in Jena lehrenden Begründer der analytischen Philosophie, erhielt Wittgenstein während seines Besuches an der Saale 1911 die Empfehlung, nach Cambridge zu gehen – eine wichtige Weichenstellung für die Philosophie des 20. Jahrhunderts; die ‚Keimzelle‘ der Frankfurter Schule entstand 1923 während eines Treffens in Geraberg, gelegen im ‚schöne Szenen bietenden Thüringerwaldgebirg‘ (Hegel). All diese Entwürfe und Denkungsarten haben die philosophische Szenerie der beiden vergangenen Jahrhunderte, ja das Zeitalter überhaupt gravierend mitgeprägt.
Die Zeit der Jenaer Philosophie in den Jahren von 1789 bis 1807 gilt als die philosophische Genieperiode ‚since the days of Plato‘: ‚Jena scheint wirklich im Reiche der Philosophie ungefähr die Rolle zu spielen, welche die Hauptstädte im Reiche der Mode zu spielen pflegen. Immer fängt in der Provinz die neue Mode an getragen zu werden, wenn sie eben in der Hauptstadt durch die neueste verdrängt worden ist. Und wenn im übrigen Deutschland eine neue Philosophie in die Zeit ihrer schönsten Blüte tritt, hat eben eine neueste in Jena ihren Frühling angetreten‘ (K. F. Forberg). Auch trafen sich der Fotograf und der Verfasser der Essays zum ersten Male an der Universität Jena, die den Namen von Friedrich Schiller trägt. So möge der vielleicht entstandene ‚Jena-Zentrismus‘ bei Fotos und Essays mit einem gewissen Verständnis behandelt werden.
Das Foto vom Königsberger Dom wurde dankenswerterweise von Vladimir Kurpakov (Kaliningrad) zur Verfügung gestellt und von Patrick Lakey technisch bearbeitet. Besonderer Dank für wichtige Hinweise und für die prüfende Lektüre geht an Ralf Beuthan (Seoul), Dieter Birnbacher (Düsseldorf), Marshall Brown (Seattle), Suzanne Dürr (Jena), Axel Ecker (Utzberg), Gottfried Gabriel (Konstanz), Günter Gersting (Göttingen), Erika Harenberg (Todtnauberg), Richard T. Gray (Seattle), Wolfgang Kienzler (Jena), Anton Friedrich Koch (Heidelberg), Johannes Korngiebel (Jena), Cecilia Muratori (Florenz), Tommaso Pierini (Pisa), Michael Quante (Münster), Werner Stark (Marburg), Renate Reschke (Berlin), Peter Villwock (Sils Maria), Wolfgang Welsch (Berlin) und Adrian Wilding (Erfurt).
Jena im August 2013 | Klaus Vieweg |
Immanuel Kant spazierte gerne vorbei am Königsberger Dom. Dort befinden sich heute seine Grabstätte und ein Denkmal für den Philosophen.
[Königsberger Dom, Kaliningrad, Russland]