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Immanuel Kant Der Mann nach der Uhr – Die philosophische Revolution
des ‚großen Chinesen von Königsberg‘ und Weltbürgers
Immanuel Kant
ОглавлениеVom Kantischen System und dessen höchster Vollendung
erwarte ich eine Revolution
Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Wer dem menschlichen Geschlechte sagt: so weit, und weiter
nicht! hat ihm den Kopf abgesprochen.
Den Schlagbaum auf!
Theodor Gottlieb von Hippel
Am 4. Juli 1791 trafen sich der damals schon berühmte Immanuel Kant und der noch völlig unbekannte junge Johann Gottlieb Fichte vor der ehrwürdigen Domkirche in Königsberg – ein für die Philosophie der Neuzeit äußerst folgenreiches Treffen und sicher ein wichtiger Impuls für die Entstehung der Welt-Philosophie des Deutschen Idealismus aus dem Geiste des Kantischen Denkens. Im Anschluss an diese Gespräche in der ostpreußischen Stadt schrieb Fichte den Versuch einer Critic aller Offenbarung, gewidmet dem großen Königsberger, der dann im August 1791 auch bei einer Wanderung mit ihm über diesen philosophischen Erstling diskutiert und die Publikation befürwortet hatte. Man flanierte am Pregelflusse entlang, über den Philosophendamm, einer Promenade zwischen Wiesen und Gärten, zum Frischen Haff, vorbei an der Insel Venedig – Königsberg selbst wurde wegen seiner Brücken als ‚Venedig des Nordens‘ beschrieben. Die beiden Denker spazierten am Dom vorbei zum Brandenburger Tor mit herrlicher Aussicht auf die Stadt, ihre Umgebung und die Schiffe im Hafen. Die wie Rom auf einer Ebene mit sieben Hügeln gelegene, hanseatisch geprägte ostpreußische Hafen- und Handelsstadt mit ‚merkantilischer Rührigkeit‘, ein Völkergemisch mit protestantischer Dominanz wurde durch ihre Weltoffenheit und den Getreide-, Hanf- und Bernstein-Handel in alle Weltgegenden geprägt. Sie zeichnete sich auch als ein Zentrum der Literatur – der ‚Teufel der Dichtkunst‘ trieb in Gestalt eines von Hippel, Hermes und später eines Kleist und E. T. A. Hoffmann sein königsbergisches Unwesen – und durch ihren ‚Demokratismus der Bildung‘ aus. Auf der anderen Seite der Medaille standen erhebliche Armut, ein streng preußischmilitärisches Regime mit Prügel und Spießrutenlauf, eine unbarmherzige Justiz und rigide religiöse Strömungen. Kant und sein junger Gast schlenderten bis zum Haus des englischen Kaufmanns Robert Motherby und trafen dort weitere Kant-Vertraute, den bekannten Dichter Theodor Gottlieb von Hippel, den Philosophen Christian Jacob Kraus, den Professor Johann Ernst Schulz sowie die Brüder Jachmann; man mag über David Hume, Adam Smith und den kategorischen Imperativ debattiert haben.
Kants Lebensweg vollzog sich in der Spannung von Lokalatmosphäre und dem ‚elementarischen Gären einer Epoche‘. Er wurde 1724 in einer Handwerkerfamilie geboren, studierte ab 1740 an der Albertina, der Universität Königsberg, und veröffentlichte 1749 seine erste naturphilosophische Schrift im Anschluss an Leibniz. Ab 1748 musste er seinen Lebensunterhalt als Hauslehrer und Hofmeister verdienen und teilte darin das nicht leichte Schicksal seiner großen Fortsetzer Fichte, Hölderlin und Hegel. Nach 1754 begann er seine akademische Laufbahn an der Universität seiner Heimatstadt, verteidigte die Doktordissertation und brachte 1755 seine erste bedeutende Arbeit Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels heraus. Hier leuchtete die philosophische Genialität schon auf, mit einem schon früher beschriebenen Selbstbewusstsein: „Ich habe mir die Bahn schon vorgezeichnet, die ich halten will. Ich werde meinen Lauf antreten, und nichts soll mich hindern, ihn fortzusetzen.“
Der Philosoph erwies sich als erfolgreicher Dozent, zeigte sich als „witz- und anekdotenreicher Gesellschafter“, trat mit Eleganz, Charme und mitunter mit extravaganter Kleidung auf, ging ins Kaffeehaus, zum Wein und Billard, mit Johann Georg Hamann in die Windmühle zum bäurischen Abendbrot und disputierte mit dem Kollegen über seinen Aufsatz von 1764 über Das Gefühl des Schönen und Erhabenen und über David Hume. Für sein Geschäft ließ der Buchhändler Kanter, der einige Schriften von Kant verlegt hatte, ein Porträt des Philosophen anfertigen, auch wohnte der Philosoph zeitweilig im Hause des Buchhändlers, in einem kulturellen Magnet der Stadt mit Kaffeehausflair.
Kant war von kleiner, schmächtiger Gestalt, aber seine Augen „wie vom himmlischen Aether gebildet, aus welchem der tiefe Geistesblick, dessen Feuerstrahl durch ein leichtes Gewölk etwas gedämpft wurde, sichtbar hervorleuchtete.“ (R. B. Jachmann) Er pflegte in diesen Jahren galanten Umgang mit der Damenwelt, etwa mit der Gräfin Keyserlingk. In einem Brief an Kant spielte eine Bekannte des Denkers in sexuell-unzweideutiger Weise auf die Uhr von Laurence Sternes Tristram Shandy an: Walter Shandy hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, in genauen Abständen eine große Uhr aufzuziehen, und hatte „gleicherweise eine andere kleine Familienangelegenheit für denselben Zeitpunkt zur Erledigung angesetzt“ (L. Sterne). Und auch Maria Charlotta Jacobi schrieb: ‚nun gut, wir erwarten sie, dan wird auch meine Uhr aufgezogen‘. Der Königsberger hätte bis zu seinem vierzigsten Jahr vielleicht auch eine Critica della donna pura schreiben können.
Mitte der 1760er-Jahre wuchsen allerdings die Sorgen des Philosophen um seine Gesundheit erheblich, was zu einschneidenden Veränderungen seiner Lebensführung führte. Er entschloss sich mit hypochondrischer Genauigkeit zu einer ‚gewissen Gleichförmigkeit der Lebensart und der Gemütsbeschäftigung‘, Vorbild hierfür mag Kants enger Freund, der englische Kaufmann und Gelehrte Joseph Green, gewesen sein, der nach unabänderlichen Regeln und Maximen gelebt haben soll. Der Freundeskreis von Green und Kant ging R. B. Jachmann zufolge „so pünktlich um sieben Uhr aus einander, daß ich öfters die Bewohner der Straße sagen hörte: es könne noch nicht sieben seyn, weil der Professor Kant noch nicht vorbeigegangen wäre“. Der Protagonist Orbil in Theodor von Hippels Komödie Der Mann nach der Uhr (1765), der wohl Green nachempfunden sein mag, gilt als ein wahrer whimsical man, ähnlich Walter Shandy, welcher der Sklave der peinlichsten Pünktlichkeit geworden war: ‚der bunt angestrichene Gips-Abguß aller gelehrten und philosophischen Pedanterei‘ (Jean Paul). Die englische Uhr symbolisiert Ordnung und Rechtschaffenheit wie auch das Pedantische: Jeden Morgen um fünf vor fünf soll Lampe mit dem Ruf ‚Es ist Zeit‘ Kant geweckt haben. Der in der Komödie auftretende, Kant ähnelnde Magister Blasius erscheint in „stolzer Verstandesaufgeblasenheit“. Das Vorlesungsprogramm von Blasius entsprach wohl dem Kantischen von 1760/61 an der Albertina. Laut von Hippel hatte Kants Philosophie „das Leben zu sehr unter dem Focus der Studierstube angesehen“. In von Hippels Lebensläufen tritt ein „Großvater Professor“ auf, der unübersehbare Ähnlichkeit mit Kant aufweist.
Der Philosoph diskutierte regelmäßig mit seinem Freund Green besonders über Rousseau und Hume. Es wird berichtet, Kant habe keinen Satz seiner Kritik der reinen Vernunft niedergeschrieben, ohne ihn vorher mit Green zu besprechen. Auch in diesen Jahren nahm Kant sein Mittagessen in einem Gasthaus ein, im Kaffee- und Gasthaus des Zornig in der Junkerstraße oder im Billard-Haus von Gerlach, mit Rot- oder Weißwein, er hätte wohl auch eine ‚Kritik der Kochkunst‘ (von Hippel) schreiben können, während der legendäre Diener Martin Lampe lange Zeit seinen Junggesellen-Haushalt führte. Kant nahm an literarischen Gesellschaften teil; Herder, Kraus und von Hippel zählten zu seinen Hörern an der Universität.
Die von der Forschung so bezeichnete ‚vorkritische‘ Periode seines Denkweges – einer seiner Königsberger Nachfolger Karl Rosenkranz spricht von den Propyläen, von der ‚heuristischen‘ Phase, Kant selbst von einem ‚Propädeutikum‘ – endet mit der Berufung Kants zum Professor Ordinario der Logic und Metaphysic am 31. März 1770, womit der ‚Königsberger Mandarin‘ zur Zierde der Albertina und in Berlin und in ganz Deutschland langsam berühmt wurde. Er begann mit der Arbeit an seiner Kritik der reinen Vernunft, einem Schlüsselwerk der modernen Philosophie, eine Arbeit, die ihn das nächste Dezennium weitgehend beschäftigte. 1781 hallte dieser Paukenschlag der Philosophie durch Europa – zunächst ohne viel gelesen und noch weniger verstanden zu werden –, 1787 erschien eine revidierte Fassung, im nächsten Jahrzehnt gefolgt von den systematischen Hauptwerken Kritik der praktischen Vernunft (1788) und Kritik des Urteilskraft (1790) – das die philosophische Denkungsart umstürzende dreiblättrige Kleeblatt des Transzendentalismus, eine „großartige Ausführung von Triumph zu Triumph bis zum Kulminationspunkt 1790“ (K. Rosenkranz). Damit avancierte Kant zu einem der wirkmächtigsten philosophischen Denker der Neuzeit. Kant kehrte „zuerst von Grund aus die Vorstellung um, nach welcher das Subjekt unthätig und ruhig empfangend, der Gegenstand aber wirksam ist: eine Umkehrung, die sich in alle Zweige des Wissens wie durch eine elektrische Wirkung fortleitete“ (Schelling).
Einige Gedanken der in einem Herkuleswerk von über 10 Jahren entstandenen Kritik der reinen Vernunft waren schon durch von Hippels Roman Lebensläufe nach aufsteigender Linie 1788 dem Publikum bekannt geworden, durch einen Roman, in dem Kant in Gestalt des Großvaters Professor und Se. Spektabilität auftritt. Dem Königsberger Philosophen Johann Georg Hamann zufolge fand Kant im Lebensläufer hundert Winke aus seinen Vorlesungen: ‚Kantische Bächlein sind in Hippel’sche Fruchtfelder geflossen‘. Mit Anspielung auf Kant, der in seinem Leben nur bis ins nahe gelegene Pillau gereist war, ironisierte der Roman die allgemeine Reisesucht: ‚Ich bin beständig zu Hause – Seitdem die neue Welt entdeckt ist, ist sie ein Theil von unserem Geburtsorte‘ und fügt gut kopernikanisch-kantisch hinzu: „Jede Geschichte, jedes Faktum muß sich bequemen, sich nach uns zu richten“. Trotz dieser Vorwegnahmen verteidigte Kant seinen Freund von Hippel, der sich als Oberbürgermeister und Stadtpräsident, als Dichter und Mitarbeiter am Allgemeinen Landrecht (der preußischen Verfassung) hervortat, gegen den Vorwurf des Plagiats.
Der „Alleszermalmer“ der bisherigen Metaphysik – wie Moses Mendelssohn Kant einmal nannte – eröffnete mit seiner ersten Kritik, dem Beginn seines ‚kritischen‘ Unternehmens, ein neues Zeitalter der Philosophie, konzipiert sowohl in Auseinandersetzung mit Leibniz, Wolff und Baumgarten, den Koryphäen der traditionellen Metaphysik, als auch mit der britischen Tradition eines Locke, Berkeley, Newton und Hume; Letzterer habe seinen ‚dogmatischen Schlummer‘ unterbrochen und die ersten Funken des neuen Lichts gezündet. Überhaupt trug die Beschäftigung Kants mit der ‚skeptischen Methode‘, mit dem Skeptizismus eines Pyrrhon, Sextus Empiricus, Montaigne und Hume in den 1760er-Jahren – mit einer durch „Vorsichtigkeit der durch Erfahrungen gewitzigten Urteilskraft“ – zum Durchbruch der neuen Denkungsart wesentlich bei; die Skepsis galt als Kathartikon, als sich selbst mit abführendes Abführmittel. Ein Weg zwischen Scylla und Charybdis von Dogmatismus und Skeptizismus, jenseits von Intellektualismus und Sensualismus, von Rationalismus und Empirismus war einzuschlagen. Das Nervenzentrum seines Projekts bilden die Überlegungen über die Möglichkeit einer Erkenntnis a priori, die vor aller Erfahrung und zugleich als Bedingung aller Erfahrung gelte. Als „transzendental“ gilt „unser[e] Erkenntnisart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll“, was der Erfahrung vorhergeht und diese erst möglich macht. Das Prinzip der transzendentalen Deduktion, eines der schwierigsten Lehrstücke der Philosophie überhaupt, beinhaltet, dass die Kategorien als Bedingungen a priori der Möglichkeit der Erfahrung erkannt werden müssen, diese Begriffe in jeder möglichen Erfahrung vorausgesetzt sind – die Begriffe sind der objektive Grund der Möglichkeit unserer Erfahrung. Mit dem Gedanken der Einheit von Denken und Sein, mit dem Prinzip der Deduktion der Kategorien kann der Kritizismus – so Hegel – als echter Idealismus gelten; diese Theorie des Verstandes ist von der Vernunft über die Taufe gehalten worden, in ihr wird das Prinzip der Spekulation – Identität des Subjektiven und Objektiven – formuliert. In Kants Kernfrage nach der Möglichkeit synthetischer Sätze a priori artikuliert sich die ‚wahrhafte Vernunft‘, die Identität von Sein und Denken im Denken, ein transzendentaler oder kritischer Idealismus, in bewusster Differenz zum empirischen und dogmatischen Idealismus eines Berkeley und Descartes. Weder Begriff noch Anschauung ist für sich allein etwas; die Anschauung für sich ist blind, der Begriff allein leer. Anschauung und Denken liegen nicht prinzipiell als besondere isolierte Vermögen auseinander, sie haben ihre Einheit, ihre absolute, ursprüngliche Identität im ‚Erkenntnisvermögen‘, im Selbstbewusstsein, in der ursprünglichen Einheit der Apperzeption – Ich denke, Ich bin als denkend tätig. Die absolut ursprüngliche synthetische Identität repräsentiert das ‚Vehikel aller Begriffe‘, den Ausgangspunkt der transzendentalen Deduktion.
In seinem Nachruf auf Kant verweist Schelling 1804 behutsam auf eine grundsätzliche Schwierigkeit des Kritizismus: Kant „macht gerade die Grenze zweier Epochen in der Philosophie, der einen, die er auf immer geendigt, der andern, die er mit weiser Beschränkung auf seinen, bloß kritischen, Zweck negativ vorbereitet hat“. Das Resultat der Kritik der reinen Vernunft scheint ein negatives. Hier kommt die Frage von John Locke ins Spiel: ‚Wie weit erstreckt sich unsere Erkenntnis und wie kann der Horizont gefunden werden, welcher zwischen dem erleuchteten und dem finsteren Teile, zwischen demjenigen, was sich begreifen läßt, und demjenigen, was sich nicht begreifen läßt, die Scheidegrenzen macht?‘
Es geht um die Limitation der Reichweite der Vernunft, das Setzen von prinzipiellen Grenzen für die Philosophie, auch hervorgehend aus der pyrrhonisch-skeptischen Hypothek der Scheidung von Erscheinung und Ding an sich sowie der These, dass wir von den Dingen, wie sie an sich sind, nichts wissen – ein ganz Leeres und bloß Negatives, ein absolutes Jenseits. Dieses Lehrstück hat ein doppeltes Gesicht: Es richtet sich einerseits gegen das empiristische Verfahren und den gemeinen Menschenverstand; der Grund des Seins von Erscheinungen liegt nicht in ihnen selbst. Die ursprüngliche Identität des Ich im Denken, die reine Apperzeption wirkt als ‚Schmelztiegel und Feuer zur Verzehrung der Mannigfaltigkeit‘ und als Grund des Denkens der Einheit, ein idealistischer Zentralgedanke, mit dem die ‚Realität der Welt gleichsam zerquetscht‘ wird (Hegel). Solches Erkennen von Erscheinungen, diese Schranke gilt als absolut. Mit dem Ding an sich wird damit andererseits ein von Kategorien verlassenes Reich angenommen, das Pendant des abstrakten Ich als einer bestimmungslosen Identität, das ‚leere Ich macht diese leere Identität seiner selbst sich zum Gegenstand‘. Die theoretische Vernunft ist darin nicht konstitutiv, sondern nur regulativ, was ‚zu viel Zärtlichkeit gegenüber den Dingen‘ impliziert (Hegel). Zudem mutiert der kritische Idealismus hier zum subjektiven Idealismus, zu einem Konstruktivismus, in welchem die Inhalte des Bewusstseins nur durch uns gesetzt sind; die Gedanken und Kategorien sind eben nicht zugleich Bestimmungen der Gegenstände, sondern von der Objektivität (dem Ding an sich) getrennt. Somit ergibt sich ein Dualismus zwischen Kants Prinzip des Denkens, seinem Antirealismus und Antinaturalismus und der Welt der Wahrnehmung und des reflektierenden Verstandes, eine Spannung zwischen dem idealistischen Fundament und dem empiristisch-realistischen Moment seines Philosophierens sowie die Einschränkung auf eine Epistemologie ohne Ontologie. Dies öffnete das Tor für verschiedene Interpretationen des Kritizismus, die Bandbreite der Einschätzungen reicht so vom Widerleger des Idealismus bis hin zum Antirealisten.
Kants praktische Philosophie, besonders die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) und die zweite große Kritik, die Kritik der praktischen Vernunft (1788), hatten ebenfalls weitreichende Wirkung, der Gedanke der Freiheit entfaltet sich hier zum ‚Grundton‘ seiner Philosophie. Der große Anreger war Jean Jacques Rousseau, dessen Porträt wohl das einzige Bild in Kants Wohnhaus war und über Kants Schreibtisch hing – die ungemeine Wertschätzung für den Franzosen ausdrückend. In der Sphäre des Praktischen sollen die mit der theoretischen Vernunft gesetzten Schranken überschritten werden, Freiheit soll kein bloßer Gedanke sein, sondern als oberstes Prinzip der Moralität gelten. Die praktische Vernunft hat ihr Fundament in den allgemeinen Bestimmungen des Willens, im denkenden Wollen, formuliert in den verschiedenen Variationen des berühmten kategorischen Imperativs, dem ‚Sittengesetz‘ als dem absoluten, unbedingten Gebot der Moralität: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Handlungen können dann als gut beurteilt werden, wenn ihre Maximen, ihre allgemeinen Handlungsgründe, ihre Absichten universalisierbar sind, wenn sie für jedes vernünftige Wesen gelten. Kant liefert damit eine wirkmächtige moderne Konzeption der Freiheit, der Selbstbestimmung, der Autonomie – vernünftige Wesen geben sich selbst ihr Gesetz, welches Allgemeinheit beanspruchen, als allgemeine Gesetzgebung gedacht werden kann. Die „Menschheit in jeder Person“ ist zu ehren und von „absolutem Werte“, die Personen sind Selbstzweck: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ Mit diesem universalistischen Gedanken der Bestimmung des reinen Willens aus Prinzipien a priori, einem Verständnis der Freiheit als innerer Gesetzgebung, kritisiert Kant Eudämonismus, Utilitarismus und Konsequentialismus als Lehren der Glückseligkeit, welche vom Prinzip der Bestimmung des Willens aus empirisch bestimmten Motiven, aus den Folgen der Handlung ausgehen. Dies würde Kant zufolge zur Determination durch das Natürliche der Neigungen, Begierden und Triebe und somit zur Heteronomie führen. Denen welche die „Freiheit noch immer glauben nach empirischen Principien wie jedes andere Naturvermögen erklären zu können“ und zwar mittels einer „genauere[n] Untersuchung der Natur der Seele“; den empiristischen oder psychologistischen Vorstellungen von Freiheit will Kant Paroli bieten.
Nur muss sich der Königsberger die Frage stellen lassen: Wie kann aus diesem unbestimmten, abstrakten, leeren, formalen Prinzip der Freiheit der Inhalt der Gesetzgebung bestimmt werden? Die Rede von Pflicht um der ‚kalten‘ Pflicht willen zu tun, bringt keine einzige Konkretion. Wie die theoretische Vernunft dem gegenständlichen Sinnlichen in dualistischer Weise opponiert, so die praktische Vernunft mit der praktischen Sinnlichkeit der Neigungen und natürlichen Bedürfnisse. So könne der Mensch nur Glückswürdigkeit erlangen, Glückseligkeit nur seine unsterbliche Seele im unendlichen Progress; das Gute wird so ins Jenseits verschoben, Autonomie darin verfehlt. Der einseitigen These von der Beurteilung von Handlungen aus den Folgen stellt Kant damit die ebenso einseitige Konzeption der Verachtung der Konsequenzen von Handlungen entgegen – eine erstaunlicherweise noch heute in der ethischen Debatte zu konstatierende Konfrontation zweier unhaltbarer Positionen. In seiner dritten Kritik, der Kritik der Urteilskraft, versucht Kant die Überschreitung des Dualismus und der auf dem intuitiven Verstand und der inneren Zweckmäßigkeit fußenden, konkreten Einheit des Gedankens und der sinnlichen Vorstellung, im Bereich der Naturauffassung und der Kunst. Nach diesen umfangreichen Arbeiten präferierte der Denker kleine, leicht und ansprechend geschriebene Abhandlungen für ein größeres Publikum; besondere Erwähnung verdient hier die von weltbürgerlichen Ideen sprühende Schrift Zum ewigen Frieden (1795).
1786 und 1788 wurde Kant zum Rektor der Albertina gewählt und wirkte ab 1780 als Mitglied des Senats. Nach dem Tod seines Freundes Green zog sich der Philosoph etwas aus der Öffentlichkeit zurück und pflegte eine Tischgesellschaft im eigenen Haus. Wegen seiner Religionsschrift von 1793 verdächtigte ihn die Regierung unter Friedrich Wilhelm II. als irreligiös und staatsgefährlich, ermahnte ihn, verbunden mit der unverhohlenen Drohung: „widrigenfalls Ihr Euch bei fortgesetzter Renitenz unfehlbar unangenehmer Verfügungen zu gewärtigen habt“. Kant hingegen begrüßt noch im Alter die Verkündung der französischen Republik, obschon er zugleich massiv gegen ein aktives Widerstandsrecht argumentiert, er stürzte sich in die Kontroversen um den Pantheismus und in die Fehde mit Herder, dem er die Strenge des Begriffs absprach, er attackierte Schlosser und Jacobi wegen ihres ‚vornehmen Tons‘ und ihrer Gefühlsphilosophie, zeigte sich unzufrieden mit seinem Schüler Beck, zuckte über Reinhold die Achseln und sah in Fichte einen ‚Diktator‘. In seinem letzten, unvollendeten, aber beachtenswerten Manuskript, dem Opus postumum, bestimmte er die Apperzeption, das Bewusstsein seiner selbst, ausdrücklich als logischen Akt, als einen Akt des Subjekts a priori, in welchem sich das Subjekt zum Objekt macht.
1791 mag Fichte im Gespräch mit dem Königsberger beim englischen Tee und einem Pfeifchen nach Kants reiner Apperzeption, nach der transzendentalen Einheit des Selbstbewusstseins gefragt haben: Wie können wir daraus Denkbestimmungen gewinnen? Müssen die Kategorien nicht streng abgeleitet bzw. deduziert werden? Dieses Projekt wird dann ab 1794 in Jena auf der Bühne der Philosophie dominieren, es wird Kant stets verpflichtet bleiben, aber die Verspätung der Kutsche aus Königsberg war nicht mehr zu fürchten. Kant erlebte in den 1790er-Jahren sowohl den Beginn des atemberaubenden Siegeszuges seiner neuen Denkungsart in der Welt der Philosophie, aber auch den Aufstieg seiner kritischen Schüler Reinhold, Schiller, Fichte, Hölderlin, Schelling und Hegel – jedenfalls blieb seit Kants kritischem Idealismus Freiheit das Alpha und Omega der modernen Philosophie.
Friedrich Schillers Arbeitszimmer in seinem Jenaer Gartenhäuschen am Flüsschen Leutra.
[Garden House 1, Jena, Germany]