Читать книгу Der Seelenfänger von Capri - Klaus Witt - Страница 10
ОглавлениеObwohl wir bis kurz nach Mitternacht mit einigen Gläsern vino di tiberio rosso unserer Bettschwere nachgeholfen hatten, konnte ich vor Aufregung fast die ganze Nacht nicht schlafen.
Schlaflose Nächte haben den Nachteil, dass sie uns die Möglichkeit nehmen, die Batterien aufzuladen, damit wir am nächsten Tag wieder über all unsere Kräfte verfügen können. Sie haben aber andererseits den Vorteil, dass sie uns in eine Einsamkeit versetzen, wie wir sie in dieser Intensität sonst nur selten erleben und dadurch in der Lage sind, viele wichtige Dinge des Lebens zu reflektieren. Die längste Zeit liegt man wach, wenn man krampfhaft versucht, einzuschlafen. Dann klappt es meistens erst recht nicht und man wälzt sich stundenlang hin und her und wird immer wacher und immer wütender.
Unser alter Hausarzt, Dr. Hartlöhner, auch ein großes Vorbild für mich, riet uns immer, in so einem Falle so zu tun, als wolle man gar nicht einschlafen, sondern nur liegend ein wenig ausruhen. So soll man sich den Gedanken, die offenbar kommen müssen, einfach hingeben. Auf diese Art erfährt man erstens mehr über sich selbst, regt sich zweitens nicht so auf und schläft drittens meistens doch noch einigermaßen rechtzeitig ein, um noch annähernd genügend Erholung in dieser Nacht zu finden. Wenn unsere Gedanken mit uns fertig sind, wenn sie lange und gründlich genug von unserem Gehirn durchgekaut worden sind, dann geben sie endlich Ruhe und lassen uns erschöpft einnicken.
So lag ich bis ungefähr fünf Uhr morgens wach. Ich dachte an meinen Vater, an meinen Bruder, an unseren Hund, der gleichermaßen von uns allen als vollwertiges, gleichberechtigtes Familienmitglied, wenn auch mit vier Beinen, angesehen und geliebt wurde und immer von mindestens einem der Familie, der sich opferte und bei ihm zu Hause blieb, versorgt wurde, weshalb diejenigen unserer Familie, die für ein paar Tage wegfahren wollten oder mussten, immer beruhigt sein konnten. Jeder Einzelne in unserer Familie hätte für jedes andere Familienmitglied, und dazu gehörten eben immer auch Hunde, Katzen oder andere Tiere, immer alles getan. So soll eine Familie funktionieren.
Ich dachte an unsere Freunde, an das zurückliegende Studium, daran, wie wohl mein Weg in Zukunft weitergehen würde. Schließlich steigerten sich meine Vorstellungen vor dem Hintergrund der schweren Erkrankung meiner Mutter und des seit langem schlechten Gesundheitszustandes meines Vaters in eine wahre Existenzangst hinein.
Dazwischen tauchten mehr und mehr Personen vor meinen nachtfiebrigen Augen auf, die ich erst hier auf der Insel kennengelernt oder auch nur gesehen hatte. Der Hoteldirektor, der hohe Kollege aus dem Ministerium, die Köche, Carmines Familie, Menschen von der Straße, aus der Zahnradbahn, am deutlichsten natürlich die wunderschöne, junge Italienerin mit ihrem atemberaubenden Dekolleté und den grünen Augen, in die man unendlich tief hineinzufallen glaubte, wie in den unergründlichen Schlund des Vesuvs, und die einen teils vor Lust, teils vor urinstinktlicher Angst erschaudern ließen.
Da war der ewige, angsteinflößende Abgrund, in dessen Tiefe das Seelische, das Geistige und das Sexuelle in einem Interessenkonflikt zusammenbranden wie die gewaltigen Meerwassermassen bei Sturm an der Migliera oder am Faro … Herz, Hirn und Sex. Elementar wie Erde, Luft und Wasser. Hier der Trieb, der stärker ist als jeder andere auf der Welt, der die Art erhalten soll, der keinerlei Rücksicht auf irgendein Individuum nimmt, der deshalb jedes Individuum in unbewusster Vorausahnung der Zerstörung der eigenen Persönlichkeit erzittern lässt.
Da der Intellekt, der seit Jahrtausenden vergeblich versucht, damit umzugehen und einen fairen Kompromiss zu schließen, und zuletzt noch das winzige, schwache Pflänzchen Seele, das sich nach Wärme und Liebe sehnt und ebenso vergeblich seit Jahrtausenden hofft, es würde nicht immer nur die Art, sondern auch einmal das Individuum in seiner charakterlichen Einmaligkeit vorne auf der Bühne des Lebens im Rampenlicht stehen und sich feiern lassen dürfen …
Wie viele Paare habe allein ich schon erlebt, die felsenfest glaubten, füreinander geschaffen zu sein, um sich in einzigartiger, verstehender Liebe über die eiskalte Einsamkeit in der Welt hinwegtrösten zu können und ihr doch noch irgendeinen anderen Sinn, als den der Vervielfältigung der Art abtrotzen zu können! Sie zerbrachen, als sie erkannten, dass sie in Wirklichkeit lediglich Marionetten ihrer Hormone, Erfüllungsgehilfen einiger Moleküle mit bekannter biochemischer Strukturformel sind, jederzeit austauschbar durch jedermann oder jedefrau, um dem einzigen Geschäft, das dem sogenannten Ewig-Göttlichen wichtig ist, -nämlich der Reproduktion, zu dienen.
Spätestens dann, wenn sich der eine oder andere Partner auf Grund unzureichender Charakterstärke durch die hinlänglich bekannten Versuchungen verführen hat lassen, hört die vielbesungene Wärme, die Zärtlichkeit und das ach so große Verstehen zwischen den Beiden auf, und sie treten beide wieder hinaus auf den Marktplatz der Verfügbarkeit. Und gemeinhin gilt dann derjenige als der gerissenste, schlaueste, erfolgreichste, als der coolste und taffeste, der am häufigsten und am geschicktesten fremdgeht! Welch falscher Weg!
Aus dem Zimmer meiner Mutter war sanftes und gleichmäßiges Schnarchen zu hören. Wir alle, einschließlich ihr selber, wussten, dass sie nicht mehr lange zu leben hatte. Diese mir so wertvolle, einzigartige Träne der selbstlosen Liebe, dieser so nährende, einzige Tropfen der Individualität würde bald durch eine Todeswelle in einen Ozean der Gleichgültigkeit hinweggerissen und in unendliche Weiten hinausgespült werden, für mich wohl nie mehr erreichbar, auch nicht nach meinem eigenen Tod!
Wie werde ich mich verhalten, wenn in kurzer Zeit das Furchtbare eintreten wird? Wie lange wird sie noch ohne allzu große Schmerzen sein? Werde ich den Mut haben, ihr die letzte große Liebe zu erweisen, wenn die Schmerzen unerträglich werden?
Die einzige Gewissheit für uns alle besteht in der Tatsache, dass am Ende unseres Lebens der Tod wartet. Er ist das größte Geheimnis für uns Menschen. Alle Philosophie dreht sich um ihn seit Jahrtausenden. Seit dem Zeitpunkt, wo ich halbwegs bewusst über ihn nachzudenken in der Lage war, beschäftigt er mich unaufhörlich. Täglich. Stündlich.
„Non nasce in me pensier che non vi sia dentro scolpita la -morte“ – „nicht ein Gedanke keimt in meiner Seele, der nicht des Todes Antlitz trüge“ – soll Michelangelo gesagt haben.
Oft glaubte ich, inspiriert durch die großen Philosophen, geläutert durch manche Erfahrung in meinem eigenen Leben, begriffen zu haben, wer er ist, warum es ihn gibt und wie man mit ihm umgehen sollte. Jedes Mal aber, wenn ich die vermeintliche Erkenntnis, die einen Bruchteil einer Sekunde lang klar vor -meinen Augen stand, festhalten und formulieren wollte, zerrann sie zwischen meinen Gehirnwindungen, so wie ganz feiner Sand oder Wasser durch die Finger rinnt oder Träume beim Erwachen ver-wehen.
Sicherlich war der Wunsch, seinen Geheimnissen auf die Spur zu kommen, einer der Hauptgründe dafür, dass ich mich ihm, neben dem philosophischen Pfad, auf dem Schleichwege der Medizin zu nähern suchte.
Außerdem weiß alle Welt, dass die Angst vor Krankheit und Tod für viele Ärzte ein unbewusst ausschlaggebender Grund ist, diesen Beruf und keinen anderen zu ergreifen. Ein alter Trick! Man bietet an, sich der Leiden anderer Geschöpfe anzunehmen, in der stillen Hoffnung, dafür von eigenen verschont zu bleiben. Das klappt wohl nur nicht immer.
Wir sollten nicht so tun, als entsprängen alle unsere Taten einem reinen Altruismus! Sicher spielt dieser bei wirklich engagierten Ärzten eine entscheidende Rolle. Aber mindestens genauso stark beteiligt sind Angst und Neugierde. Mich haben sie jedenfalls an wichtigen Scheidewegen im Leben in diese oder jene Richtung gehen lassen. Oft war es auch Trotz, der sich gegen diese und andere Zwänge des Lebens auflehnt.
Kollegen, die viele Tiere und viele Menschen haben sterben sehen, sagten mir, dass es nicht wahr ist, dass man nur zu ihnen geht, um sie zu trösten und um sie in ihrer letzten Stunde nicht alleine zu lassen. Man hofft auch insgeheim, etwas über dies -ewige Geheimnis des Todes zu erfahren, indem man sich an die Grenz-linie begibt. Man hofft, etwas in Erfahrung zu bringen, das einem selbst die Angst vor dem Sterben nehmen könnte.
Philosophieren heißt sterben lernen, sagte mal ein großer Philosoph. Ist der Übergang ein scharfer Kontrast, eine Grenze -zwischen absoluten Gegensätzen oder sind die Übergänge verschwommen und fließend. Oder ist alles nur Eines und das gerade zu Ende gehende Leben nur ein Prolog zu einem großen, neuen Theaterstück …
Wenige, egal ob Mensch oder Tier wehren sich offensichtlich gegen den Tod, bäumen sich auf, knurren, brummen, schlagen um sich. Die meisten nehmen ihn ruhig und gelassen an, wie eine Erlösung. Sie sind müde genug gemacht worden. Manche wünschen ihn anscheinend sogar herbei mit einer großen Liebessehnsucht, die man verspürt für den besonderen Partner unter allen Lebenspartnern, von dem man glaubt, dass er einen endlich versteht! Dass dieser Eine uns um uns selbst liebt, nur uns allein, unsere ureigene, einmalige und damit auch so vergängliche -Persönlichkeit! Ein Partner, bei dem endlich all die Liebe und all das Vertrauen, das man selbst so oft bereit war in eine Partnerschaft einzubringen, nicht enttäuscht werden würde. Einmal, und wenn es ganz am Ende des Lebens ist, nicht betrogen werden!
„Ja, nach so einer Partnerin sehne ich mich“, hörte ich mich, fast schon eingeschlafen, murmeln.
„Du musst keine Angst haben! Ich bin doch immer bei Dir! Nicht vor dem Tod, nicht vor der Krankheit und auch nicht vor dem Betrogenwerden musst Du Dich fürchten. Ich bin hier und werde immer bei Dir bleiben!“, sagte die Schöne aus der Zahnradbahn zu mir, die ganz dicht an meinem Bett stand. Sie beugte sich herab und küsste mich auf die Stirn. Ihre nährenden Brüste waren direkt vor meinen Augen und dufteten in mein Stammhirn hinein.
„Ich werde nicht jedes Mal wie eine läufige Hündin davon-rennen, wenn meine Hormone mir eine sexuelle Fata Morgana aus anderen Zeiten und anderen Räumen herüberspiegeln in unsere Welt. Diese Trugbilder werden doch nur zu Fleisch und Blut, wenn man sie anfasst und somit annimmt! Wenn man die Versuchungen, die einem im Leben begegnen, nicht anfasst, können sie einem auch nicht gefährlich werden! Nur Du und ich zählen wirklich hier in unserem Zuhause! Hier ist unser Raum und hier ist unsere Zeit! Das riesige galaxienverschlingende Universum muss uns gar nicht interessieren! Nichts und niemand kann uns auseinandertreiben, nichts und niemand kann uns trennen, wenn wir nur aneinander glauben!“
„Wer bist Du?“, hörte ich meine Stimme von weit her, zitternd und belegt.
Sie nahm meinen Kopf und drückte ihn sanft in ihren Busen.
„Sie nennen mich Dulzinea.“
Ich spürte ihre warme, weiche Haut, atmete ihren Duft und sank in einen tiefen Schlaf.