Читать книгу Der Seelenfänger von Capri - Klaus Witt - Страница 8
ОглавлениеAls wir wieder im Hotel ankamen, herrschte dort gute Stimmung. Unserem Patienten ging es den Umständen nach zufriedenstellend. Er war zwar immer noch schwach, aber Durchfall und Erbrechen hatten sich nicht wieder gemeldet. Er aß alle ein bis zwei Stunden einige kleine Happen gegrillten Hühnerfleisches, wie es der Dottore empfohlen hatte.
Meine Mutter war von unserem kleinen Ausflug sehr angestrengt. Sie wollte ein wenig ruhen.
„Kla-ùss“, sagte der Dottore, indem er nach italienischen Ausspracheregeln jeden Vokal einzeln betonte, „wenn Du möchtest, kannst Du mit mir zum Hafen hinunterfahren. Wir holen unseren Kollegen vom Schiff ab und inspizieren dann gemeinsam dieses Hotel.“
Jedenfalls übersetzte ich für mich auf die Schnelle etwas Ähnliches. Sein Französisch war, wegen des starken italienischen Akzentes, manchmal wirklich schwer zu verstehen.
Ich war natürlich begeistert und willigte sofort ein. Da vergaß man Müdigkeit und Hunger. So interessante Dinge haben wir während unserer lebensmitteltechnischen Ausbildung leider nur theoretisch mitbekommen. Betriebsprüfungen wie in diesem Falle haben wir allenfalls in ein oder zwei Filmchen sehen dürfen. Hier konnte ich es einmal praktisch erleben, noch dazu in einer solchen Umgebung. Das war traumhaft!
Kaum dass wir am Hafen auf den Kai der ankommenden Schiffe zusteuerten, kam uns schon aus der erschreckenden Masse an Tagestouristen, die soeben wieder eine Caremar-Fähre ausgespieen hatte, der Ministerialbeauftragte entgegen. Er kannte offensichtlich den Dottore schon lange und gut. Umarmung links, Umarmung rechts, small talk. Dann wurde ich vorgestellt. Freundlich lächelnd drückte er kräftig meine Hand.
Als er erfuhr, dass ich in München studiert hatte, brach er förmlich in Entzücken aus. Er hatte dort einmal vor langer Zeit zwei Semester als Austauschstudent zugebracht. Er konnte schier nicht mehr aufhören, von dieser Stadt und ihren lustigen Gebräuchen zu schwärmen. Obgleich sein Deutsch grammatikalisch selten richtig war, sprach er sehr flüssig und ohne lange Denkpausen. Er verfügte über einen außerordentlich reichen Wortschatz, der nur so gespickt war mit bayerischen Ausdrücken. Ihn sprechen zu hören war wegen des Gemisches von italienischem und bayerischem Akzent ein amüsantes, ja fast komisches Erlebnis.
Seine Meinungen zu manchen Dingen erklärten sofort die vielen Lachfalten in seinem gebräunten Gesicht. Er nahm anscheinend alle Dinge sehr leicht. Für ihn war das ganze Leben und auch sein Beruf ein einziger Spaß. Er war ein Mann von ungefähr sechzig Jahren, groß und schlank, die Haare grau bis weiß, der dichte Schnauzbart fast noch tiefschwarz. In seinem dunkelblauen Anzug, mit einer dunkelblau und hellblau schräggestreiften Krawatte auf blütenweißem Hemd, war er eine Autorität ausstrahlende, seriöse, nahezu feierliche Erscheinung. Auch heute noch komme er immer wieder einmal nach München zu Fachtagungen, sagte er. Er kannte auch alle unsere Professoren der lebensmittelkundlichen Fächer, der Umwelthygiene und verwandter Themenkreise.
Sowohl mit diesen Professoren, als auch mit diesen Themen wollte ich allerdings so wenig wie möglich zu tun haben. Ich beschäftigte mich nur mit dem Notwendigsten, um die Prüfungen zu bestehen. Für mich stand schon seit meinem vierten Lebensjahr fest – das haben mir immer wieder meine Verwandten erzählt – dass ich ausschließlich für kranke Tiere da sein wollte, helfen wollte, sie wieder gesund zu machen. Ich wusste gar nicht, dass es Tierärzte schon gibt. Ich stellte mir vor, ich müsste ein Arzt werden, meine gewonnenen Kenntnisse über kranke Menschen auf die kranken Tiere übertragen und somit quasi diesen Beruf erst erfinden. Ich dachte viele Kindheitsjahre lang, ich würde eines Tages der erste Tierarzt der Welt sein!
Später, als ich sah, dass es Tierärzte schon lange gab (so lange wie Ärzte und sogar noch länger) und was alles zu den Tätigkeitsgebieten und Aufgaben eines Tierarztes gehört, wollte ich erst recht nur ein Tierarzt sein, der sich ausschließlich um die Heilung kranker Tiere kümmert und nicht um Methoden, wie man die Tiere möglichst rationell und gewinnbringend ausbeutet. Genausowenig wollte ich Dinge tun, wie ich sie jetzt gleich mit meinen beiden Kollegen erleben würde, auch wenn mich das in diesem speziellen Falle unheimlich interessierte.
Unsere Welt wurde, von wem auch immer, so eingerichtet, dass die meisten Lebewesen nur dann überleben können, wenn sie das Leben anderer auslöschen. Es ist, wie schon erwähnt, ein idiotisches und brutales Prinzip, das Gewaltprinzip. Der älteste und schwerste ethische Konflikt in der Geschichte der Menschheit, ja, des Lebens auf dieser Erde! Ich fürchte, mehr oder weniger faule Kompromisse zu schließen wird das Einzige sein, was uns dagegen zu tun übrigbleibt! Selbst weniger imperialistische und blutige Religionen als Christentum und Islam fanden und finden keine echte Lösung, außer eben faulen, sprich unlogischen und inkonsequenten Kompromissen, da es offensichtlich unmöglich ist, zu leben ohne anderes Leben zu vernichten.
Für die Mitglieder einer Gesellschaft, die Fleisch und andere tierliche Produkte konsumieren will, ist es allerdings lebenserhaltend und gesundheitssichernd, dass Fachleute so etwas wie Schlachtkontrolle und Lebensmittelhygiene durchführen und gewährleisten. Der Tierarzt ist nun einmal aufgrund seiner umfassenden Ausbildung der Geeignetste hierfür. Es ist in seiner Berufsordnung verankert, dass er sowohl zum Wohl der Tiere, als auch zum Wohl der Menschen zu handeln hat. Das beinhaltet auch, dass er auf eine Sicherung und Steigerung der Qualität tierlicher Produkte hinzuwirken hat. Er, und nicht Ärzte oder Lebensmittelchemiker oder sonstwer, ist in erster Linie zuständig für die Volksgesundheit, wo immer sie etwas mit Tieren, deren Krankheiten oder deren Produkten zu tun hat.
Na gut, das alles ist noch nie meine Vorstellung von der Tätigkeit eines Arztes für Tiere gewesen. Ich wollte auch nie ein Amtstierarzt oder ein Schlachthoftierarzt sein und verzichtete lieber auf jegliche staatliche Unterstützung. Der italienische Kollege aus dem Ministerium hatte sich ganz anders entschieden und dafür eine gesicherte Existenz bekommen.
Die Menschenmassen, die nach Ankunft eines Schiffes den Landesteg verstopfen, hatten sich mittlerweile verlaufen. Plaudernd gingen wir zur „Funicolare“, die Zahnradbahn, die uns vom Hafen nach Capri hinaufbringen sollte.
„In welche zunftige deutschene Stadte lebene Sie, ’err Kollega?“, fragte der Staatsbeauftragte.
„In Fürth in Bayern.“
„Beh, des isse fei lustige,“ sang der Mann im blauen Anzug, „die Hotele, wir gleiche besuchene, gehörene die deutschene Industrielle Maxe Grundige. Diese kommene doch auche aus Furthe in Bayern, oder vielleicht net?“
„Das ist richtig. Sein Hobby ist es, Luxushotels zu sammeln, wie andere Leute Briefmarken. Das Mutterhaus steht gleich in der Nähe von unserem Zuhause, einige Meter von seiner Privatvilla entfernt, mitten im Wald und heißt „Grundig Hotel Forsthaus“. Dann gehört ihm noch „Schloss Fuschl“ in Österreich, das er seinem Freund, dem Salzbaron, dem Ehemann der Schauspielerin Winnie Markus, abkaufte, als dieser in Not kam.
Das größte Objekt in der Sammlung ist wohl die „Bühler Höhe“ bei Baden-Baden. So viel ich weiß, besitzt er noch einige mehr. Wo immer man als Fürther hinkommt, wird man entweder auf den Namen Max Grundig oder Gustav Schickedanz angesprochen.“
„Ah, Schickedanze, des isse la Quelle, nichte wahre?“
„Ja. Wir haben aber auch noch viele andere berühmte Kinder unserer Stadt, zum Beispiel Henry Kissinger oder Ludwig Erhard.“
„Bekannte Namene, aber iche nichte wusste, wo sie kommene.“
„Und Jakob Wassermann? An dem liegt mir persönlich viel mehr als an den anderen!“
„Bedaure! Mi dispiace! Pero l’aquila, erstene Eisenebahne in Deutschlande, iche kenne. Iche viele beruhmte Modelle mackene in sehr ganz kleine.“
„Richtig, der Adler, die Ludwigseisenbahn, so benannt nach König Ludwig l. von Bayern, die erste deutsche Eisenbahn, hatte am 7. Dezember 1835 ihre Jungfernfahrt, das heißt erste Fahrt, von Nürnberg nach Fürth.“
„Scusate, Junk-ferne?“
Da traf endlich der rote Wagen der ersten Zahnradbahn von Capri ein und unterbrach meine heimatkundlichen Ausführungen.
Menschen stiegen aus und ein, die meisten auf Grund ihrer Kleidung, ihrer Fotoausrüstung oder ihrer Rucksäcke als Touristen erkennbar, und wir, wir drängten uns einfach mit dazwischen.
„Greift nur hinein ins volle Menschenleben! Und wo ihr’s packt, da ist es interessant.“, entfuhr es mir ein bisschen altklug, aber das Bild verführte einfach dazu.
„Scusi?“
„Goethe, Faust, erster Teil.“
„Ah, Goethe, bellissimo! Aber nicht kommene aus Furthe, nevvero?“
„Nein, der leider nicht.“
Ich wunderte mich, dass meine Kollegen nicht mit dem Taxi fuhren. Aber, wie ich später noch öfter erleben sollte, bewegen sich in Italien irgendwie bekannte oder angesehene Personen, wie zum Beispiel hochgestellte Beamte, Politiker, ja sogar weltberühmte Prominente wie Schauspieler, Sänger oder Superstars aus dem Sport völlig ungezwungen in der Öffentlichkeit. Sie werden bewundert, manchmal mehr, manchmal weniger, aber es belästigt sie keiner. Es ist kein Aufsehen oder Aufschreien, wenn ein Prominenter entdeckt wird. Man freut sich, dass sie sich so frei bewegen, wie jeder andere auch.
Vielleicht hängt dieses Phänomen auch damit zusammen, dass in Italien sich sowieso jeder wie ein Star fühlt und bella figura macht. Das eigene Selbstbewusstsein ist so groß, dass man nicht so schnell einem anderen etwas von dessen Auftreten, dessen Talent oder von dessen materiellem Besitz neidet. Man bewundert die Prominenten, ohne sich selbst dabei auch nur ein Stückchen zu erniedrigen. Man zollt ihnen Respekt, aber man ist schließlich auch wer! Ein Prominenter ist wie ein primus inter pares.
Das ist es auch oft, was in den Neidgesellschaften fehlt, das eigene Selbstbewusstsein, das Wissen und die feste Überzeugung, dass Geld, Ruhm und Besitz nicht alles sind und dass der Wert einer Person, eines Individuums sich vornehmlich aus anderen Quellen speist.
„Es gibt nicht wenige Menschen, die das Hotel Quisisana für das schönste Hotel der Welt halten“, sagte der Dottore, „nicht nur, weil es geschmackvoll und teuer eingerichtet ist, sondern, weil es auch alt und traditionsreich ist und immer schon über einen besonderen Charme verfügte.“
Der schottische Arzt George Sidney Clarc baute es in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts als Sanatorium. Daher rührt natürlich auch der Name. Qui-si-sana heißt hier-wird-man-gesund.
Mit einem leichten Ruck hielt die Zahnradbahn an. Eine junge Italienerin mit großzügigem Dekolleté, dessen üppiger Inhalt unbändig ins Freie zu drängen schien, geriet aus dem Gleichgewicht und musste mich umarmen, um nicht hinzufallen. Sie war eine atemberaubende Schönheit, die es spielend mit jedem Model oder jeder Filmschönheit hätte aufnehmen können. Der göttliche Körper, der sich an mich presste, der unbeschreibliche Duft, der von ihm ausging, nicht künstlich und laut nach Parfüm, sondern absolut natürlich, angenehm nach sonnenbeschienener Haut, ließen meine Sinne für einige Momente schwinden. Ich verlor den Boden unter meinen Füßen.
Ich tauchte ab in eine Welt eigenartiger, schwer zu beschreibender Gefühle und Erinnerungen. Für einen Moment fühlte ich mich in meine Kindheit zurückversetzt, und das ewig Weibliche (schon wieder Goethe, nevvero?), Frauliche, das ich seit meiner Kindheit schon so heftig liebte, erschien sichtbar, tastbar, fühlbar vor und in mir und zog mich hinan, wie es im Faust heißt. Es durchdrang mich bis in mein Innerstes, es erinnerte mich an all die Frauen, die ich schon zu Kinderzeiten (Tanten, Lehrerinnen, Urlaubsbekanntschaften usw. usw.) verehrte, liebte und deren Stimmen, deren körperliche, weiche Formen und deren Geruch jetzt wieder im wahrsten Sinne des Wortes hautnah und auf das Frischeste in meine Erinnerung kamen.
Es machte mich todtraurig und irgendwie kraftlos und schlapp, aber es wärmte mich auch auf eine bestimmte Art und Weise und lockte mich, streichelte mich und erzeugte eine Art Glücksgefühl, das ganz nahe am Schmerz liegt. Wie oft und wie schwer war ich schon zu Kinderzeiten, und zu Jugendzeiten erst recht, verliebt gewesen! Da genügten schon weniger hautnahe Begegnungen wie diese hier. Es genügte der Blick einer Kellnerin, einer Eintrittskartenkontrolleurin, Verkäuferin, Lehrerin, Klassenkameradin und so weiter. Die Suche nach der zweiten Hälfte des Menschen, um im Leben vollkommen zu werden? Die Suche nach der Erlöserin? Schmerz und Lust, Lust und Schmerz, nicht voneinander zu trennen …
Ich erinnerte mich, wie wir als Studenten vor wenigen Jahren einmal stundenlang durch Neapel gestreift sind und plötzlich aus einem der dreckigsten Hinterhöfe eine Schönheitsgöttin in perfekter Aufmachung herausstöckelte. Die Zahnradbahnschöne sah aus wie eine Zwillingsschwester. Sicher waren sie nicht miteinander verwandt. Außer, dass beide eben aus dem gleichen genetischen Pool stammten, der all diese zahlreichen neapolitanischen Diven geschaffen hat.
Öfter noch war uns dieses Wunder in Pozzuoli begegnet, einem von rußigen Schloten verschmutzten Industrievorort Neapels mit einem berühmten Fischerhafen. Dorthin kamen wir damals oft, denn die Hafenkneipe zum ‚fisherman‘, wie ihn meine in Neapel studierenden Freunde nannten, war ein Geheimtipp. Sie lag auf der Strecke zu den berühmten Solfatara-Quellen, in deren Schwefelhöhlen viele rheumageplagte Menschen Heilung suchen und in deren sprudelnden, heißen Sandfontänen die Reiseleiter zum Erstaunen der Touristen rohe Eier in Sekunden hartkochen.
Unser ‚fisherman‘ und seine Familie zauberten jeden Tag die besten neapolitanischen Speisen zu äußerst günstigen Preisen. Damit konnte natürlich keine einzige Mensa, deren es in den uralten, ebenso wie in den modernen und neuen Universitätsgebäuden viele gab, konkurrieren. Alle Gerichte waren, entsprechend der Lage des Lokals, mit frischem Fisch oder frutti di mare.
Die Einrichtung war bunt zusammengewürfelt. Es gab, glaube ich, keine zwei gleichen Tische. Und keine zwei gleichen Stühle. Alles waren uralte, einfache, praktische Einzelstücke ohne besonderen Wert, aus irgendwelchen Haushalten zusammengetragen.
Die Gäste waren meist Hafenarbeiter, die da, schwarzbraungebrannt und muskulös in groben Netzunterhemden herumsaßen. Einige von ihnen waren dem berühmt gewordenen Neapolitaner Carlo Pedersoli, auf der ganzen Welt als Bud Spencer bekannt, in der Statur nicht unähnlich.
Auf den blankgescheuerten Tischplatten gab es auch kein einheitliches Geschirr. Fast jeder bekam einen anderen Teller, eine Gabel, die nicht zum Messer passte, verschiedene Löffel und so fort. Sowohl zum Wein, als auch zum Wasser gab es ebenfalls in Form und Größe verschieden ausgefallene, dickwandige, gerillte Gläser, die durch den jahrelangen Gebrauch schon ganz trüb geworden waren. Der Wein, der daraus getrunken werden sollte, es gab nur einen weißen und nur einen roten, wurde aus Fässern hinter der Theke in leere Mineralwasserflaschen gezapft, welche dann als Karaffen auf den Tisch gestellt wurden. An der Decke und an den Wänden hingen Fischernetze, in denen sich einige Seesterne, Muscheln und alte Amphoren verheddert hatten, und ein paar funzelige Glühbirnen sorgten für angenehme Dunkelheit. Wenn wir aus dem gleißenden Sonnenlicht draußen in diese dunkle Kaschemme eintraten – wir kamen meistens mittags – empfanden unsere Augen das als Wohltat. Was daraufhin bis in die frühen Abendstunden folgte, empfanden unsere Geschmacksnerven dann als absolute Wohltat.
Wie so oft in Italien, gab es für das ganze Lokal nur eine Toilette, die war winzig klein und in einer Nische nahe dem Eingang untergebracht. Ließ sich jemand darauf nieder, musste er während der Erledigung seines Geschäftes entweder mit einer Hand oder mit einem Fuß die Tür zuhalten.
Wenn wir gingen, war unser Tisch meistens über und über mit leeren Flaschen vollgestellt, die der Wirt einfach nur zusammenzählen musste, um die jedes Mal erstaunlich niedrige Rechnung präsentieren zu können.
Als wir dann wieder auf den Straßen unterwegs waren, kamen uns die plötzlich auftauchenden und ebenso plötzlich wieder verschwindenden Göttinnen noch viel schöner vor. Es kann offenbar kein Zufall sein, dass Sophia Loren hier in Pozzuoli geboren wurde.
Die Zahnradgöttin hatte es nicht eilig, sich von mir zu trennen. Als ob sie einen alten Freund verabschieden würde, nahm sie mich noch einmal fest an den Schultern, senkte ihren hypnotisierenden Blick tief in meine Augen und murmelte mit einer Stimme, die noch lange danach in meinen Eingeweiden vibrierte, so etwas wie eine Zauberformel. Jedenfalls bildete ich mir das ein. In Wirklichkeit bat sie wohl nur um Verzeihung, weil sie mich fast umgeworfen hatte.
„Glückspilz!“, hörte ich meine beiden Kollegen unisono sagen. Ihre Stimmen kamen von ganz weit her. Als ich mich zu ihnen umwandte, sah ich zwar alles verschwommen, aber ich erkannte ganz sicher das breite Grinsen auf ihren Gesichtern. Meine Augen schwenkten wieder zurück, aber die Traumfrau war verschwunden wie eine Fata Morgana. Irgendwo in der Menge, die sich um die Haltestelle herum tummelte. Widerwillig und äußerst zögerlich ging ich ein paar Schritte, blieb aber immer wieder stehen und suchte nach ihr.
„Kla-ùss!“, rief der Dottore mahnend, wieder jeden Vokal einzeln betonend. Die Beiden waren schon mit zielstrebigen Schritten weitergegangen und wollten nicht warten, bis ich langsam von selbst wieder in die Realität zurückfinden würde. Mit butterweichen Knien trottete ich hinter ihnen her über die weltberühmte Piazza, Richtung Quisisana, mich immer wieder nach der Märchenfee umblickend. Ergebnislos. Hier ging es zu wie auf einem lausigen Kopf, wie man in meiner Heimat zu sagen pflegt, wenn irgendwo ein großes Gewimmel an Menschen herrscht. Um meinen Kollegen, die schon leicht verärgert schienen, auf den Fersen zu bleiben, musste ich jetzt sogar einen kleinen Spurt hinlegen, denn sie waren schon die abschüssige Via Emanuele hinabgeeilt und schritten mit ungeheurem Tatendrang auf das Hotel zu.
Am Haupteingang wurden wir vom Besitzer und seinen engeren Mitarbeitern empfangen. Alle trugen elegante Anzüge. In meiner sommerlichen Freizeitkleidung kam ich mir ziemlich deplatziert vor, wurde aber deswegen kein einziges Mal komisch angesehen.
Es fiel auf, dass meine Kollegen mit einer derartigen Ehrerbietung und Höflichkeit behandelt wurden, wie es in Deutschland undenkbar ist. Man zeigte ihnen gegenüber große Achtung, ohne unterwürfig zu sein. Man war freundlich und aufgeschlossen, ohne den Eindruck zu erwecken, die Obrigkeit bestechen oder täuschen zu wollen. Es schien so, als hätte man ein wirkliches Interesse an derartiger Zusammenarbeit.
Bei ähnlichen Begehungen in Deutschland kam es vor, dass man den Amtstierärzten, die nur ihre Pflicht in unser aller Gesundheitsinteresse taten, sehr mürrisch entgegentrat. Manchmal wurden sie regelrecht in ihrer Arbeit behindert. Zuweilen musste sich der eine oder andere in Acht nehmen, dass er keine Schläge bekam, wenn er schlimme Missstände in Küche, Werkstatt oder sonstwo tadelte. Einmal erzählte mir ein befreundeter Amtstierarzt, dass er von einem Wirt mit einem langen Messer aus dem Lokal gejagt wurde und seinen Auftrag erst unter Polizeischutz erledigen konnte.
Ein anderer, der einen Metzger anzeigte, weil dieser am Schlachthof ein Schwein ohne die vorgeschriebene, vollständige Betäubung in den Brühkessel mit kochendheißem Wasser warf, musste jahrelang um sein Leben fürchten, da er immer wieder Drohungen erhielt.
Einer Kollegin, die sich in einem Schlachthof zu sehr für die Einhaltung bestehender Tierschutzgesetze engagierte, goss man ab und zu aus drei Metern Höhe einen großen Kübel Blut über den Kopf. Angeblich war jedes Mal ein anderer aus Versehen an den Eimer gestoßen.
Manchmal wurde sie auch in ein Gedränge verwickelt, in welchem man sie zwischen den Beinen oder an den Brüsten begrapschte. Mitunter kniff man ihr bei einer solchen Gelegenheit äußerst schmerzhaft in den Po. Einmal schlug man ihr, als sie sich bückte, mit einem Ochsenziemer derart fest auf ihr Gesäß, dass, trotz dicker Arbeitshose und Gummischürze, die Haut aufplatzte und sie für einen Moment vor Schmerzen das Bewusstsein verlor.
Dieser Vorfall gab endlich den Ausschlag, dass sie sich versetzen ließ. Wir hatten ihr schon lange dazu geraten, weil wir überzeugt waren, dass gegen eine solch verschworene Gemeinschaft kein Durchkommen ist. Die Gesetze hierzu wären zwar vorhanden, aber fast niemand traut sich, sie umzusetzen. Sie aber wollte unbedingt beweisen, dass sie dort bestehen kann, vielleicht, weil sie eine „von“ war und aus einer alten preußischen Generals- und Admiralsfamilie stammte.
Nach allem, was ich in Italien erlebt habe, glaube ich, dass hier so etwas nicht so leicht möglich wäre. Der Respekt gegenüber Ärzten und Tierärzten, ebenso Lehrern, Theologen, Anwälten, Apothekern, Architekten oder sonstigen Gelehrten ist einfach zu groß. Nicht zu vergessen: der sprichwörtliche „ingegnere“, der Ingenieur! Dottore und ingegnere werden nach Abschaffung der Aristokratie wie Adelstitel gehandhabt.
Nachdem sich mein Staunen über die Pracht der Empfangshalle, die dabei keineswegs erdrückend wirkte, gelegt hatte, und die Begrüßungsgespräche, während derer meine Mutter, ich und unser Herkunftsort schon vom Dottore mehrfach erwähnt wurden, offenbar beendet waren, wandte sich der Hotelchef an mich. Er war ein großer, schwerer Mann, der fließend mehrere Sprachen beherrschte. Er stammte aus einer alten Capreser Familie, die wenig später das Hotel kaufen sollte.
Er habe schon einige Male Herrn Grundig im Hotel Forsthaus in Fürth getroffen und dabei unsere Heimat lieben gelernt, erzählte er in tadellosem Deutsch. Er lobte die deftige Küche und die weltberühmten Frankenweine. Aber auch das Bier, die Gastfreundschaft und einige Touristenattraktionen wie Nürnberg, Rothenburg ob der Tauber, Bamberg, Würzburg, einige kleine, romantische Weinorte wie Iphofen, Sommerach und andere mehr. Sogar die Erlanger Bergkirchweih und die dort bekannten Beerenweinlokale ließen ihn heute noch ins Schwärmen kommen.
Dort stamme doch auch die von ihm so verehrte Filmschauspielerin Elke Sommer her, sagte er und machte mit den Händen ein paar Bewegungen, die weibliche Rundungen nachzeichneten. Jawohl, eine typische Fränkin.
Während unserer ausgesprochen zwanglosen Unterhaltung, waren wir direkt vor der Hotelküchentür angekommen. Ein Koch, der mit seiner schneeweißen Bekleidung und der turbanartigen Kopfbedeckung aussah, als wäre er gerade einem Märchenbilderbuch oder einer Werbebroschüre der Gastronomieinnung entstiegen, öffnete die Tür. Geblendet kniffen wir die Augen zusammen. Die Küche war eine riesige Halle, wie ein Turnsaal so groß. Man hatte den Eindruck, die Köche müssten auf Rollschuhen hin und her fahren, um die Entfernungen bewältigen zu können. Der viele blanke Edelstahl und die glänzenden Fliesen blitzten und funkelten nur so. Alles erinnerte durch seine Sauberkeit, ja fast schon Sterilität, an einen Operationssaal, aber an einen, der noch nicht in Gebrauch genommen, sondern eben erst eingerichtet worden ist.
Meine Kollegen begannen ohne weitere Umschweife ihre Arbeit. Sie nahmen Proben, machten Abstriche, kratzten einmal hier und einmal da herum, füllten viele Tütchen und Schalen und beschrifteten sie. Der Chef reichte mir inzwischen eine Tasse Fischsuppe, die in ihrem Wohlgeschmack meiner Meinung nach nicht mehr zu überbieten war. Und in der Tat habe ich bis heute keine bessere bekommen. Nirgendwo. Wo immer ich auch probiert habe.
Dann ging es noch durch alle Stockwerke, vom Keller bis zum Dach. Wasserzulauf, Wasserablauf, Wasseraufbereitung, Klimaanlage, Luftfilter, Kühlschränke, Eisfächer, Bareinrichtung, Gläser, Oliven, Kirschen, Eier und was sonst noch in einem Cocktail landen könnte, Besteck- und Geschirrschränke, Geschirrspülmaschinen, Gästezimmer, Bäder, Toiletten, die Hotelwäscherei, alles, alles wurde inspiziert und untersucht, zum guten Ende sogar noch das Wasser des überdimensionalen Swimmingpools. Alles war in vorbildlichem Zustand. Wie ich später hörte, waren auch alle entnommenen Proben ohne jede Beanstandung.
Endlich war die Arbeit beendet und wir nahmen auf der großen Terrasse hinter dem Hotel, neben dem Swimmingpool Platz. Hier, nach der anderen Seite der Insel, der noch mehr von der Sonne verwöhnten Südseite, hatten wir einen wunderbaren Ausblick auf das Meer, die Faraglioni und die Marina Piccola. Man kredenzte uns einen Espresso, hier immer nur caffè genannt. Den Ausdruck espresso gibt es in seinem Geburtsland gar nicht. Espresso sagen eigentlich nur Nichtitaliener. Egal, bei diesem wundertätigen Getränk jedenfalls ließen es die Herren bei einem kleinen Schwätzchen ausklingen.
Nach kurzer Zeit erhob sich der hohe Kollege und erklärte, dass er sein Schiff erreichen müsse. Vorbei ging es an den fast nackten Superreichen, die um den Pool herum in der Sonne schmorten, wieder durch die prächtige Hotelhalle, hinaus auf die Nordterrasse vor dem Eingang, wo einige elegant gekleidete Menschen ihren cappuccino oder ihren Longdrink schlürften.
Vor dieser Terrasse, auf der Prominente anzusehen sind wie im Zoo die armen Menschenaffen, stehe ich oft und frage mich, warum wohl niemand protestiert, wenn bei vierzig Grad Hitze die Ober in Jackett und Krawatte bedienen müssen. Wo bleibt da der Tier- beziehungsweise Menschenschutz? Da regt sich seltsamerweise keiner auf. Auch keine der hysterischen Damen, die am Liebsten jeden freilaufenden Hund und jede freilaufende Katze einfangen und in ein Tierheim sperren möchten, damit sie es „gut“ haben …
Nach einer sehr herzlichen Verabschiedung schritten meine beiden Kollegen angestrengt schnaufend an den Luxusgeschäften der Via Emanuele vorbei, steil bergauf zur Piazza Umberto I. Ich schlich – nach wem wohl mich umsehend – hinter ihnen her. Massen von Menschen, aber leider nicht die Eine, die ich sehen wollte. Auch nicht in der Zahnradbahn, auch nicht am Hafen.
Hier wieder eine herzliche Verabschiedung mit allen guten und besten Wünschen und natürlich immer der Hoffnung Ausdruck verleihend, sich bald wieder zu sehen, arrivederci, arrivederLa!