Читать книгу Der Seelenfänger von Capri - Klaus Witt - Страница 6
ОглавлениеMein allererster Fall als frischgebackener Tierarzt war „Nero“, ein wuscheliger, schwarzer Mischlingshund auf Capri.
Sieben Tage nachdem ich die letzte einer schier nicht enden wollenden Reihe von Prüfungen bestanden hatte und somit approbierter Tierarzt war, fuhren meine Mutter und ich für zwei, wie wir hofften, paradiesische Wochen nach Capri.
Es sollte einerseits die wohlverdiente Belohnung für die harte Arbeit sein, die zehn Semester Tiermedizin bedeuten, da hier, anders als in der Humanmedizin, sämtliche Ferien mit Prüfungen und Praktika vollgepackt sind und außerdem der zu bewältigende Stoff etwa doppelt so viel ist, andererseits bestand bei mir der brennende Wunsch, meiner Mutter, die krebskrank war, meine Trauminsel doch noch zeigen zu können.
Mich hatte das Caprivirus schon befallen, als ich mit ungefähr dreizehn Jahren Das Buch von San Michele von dem schwedischen Arzt Axel Munthe las. Der erfüllte sich auf Capri seinen Traum von einer mediterranen Villa, die wie ein griechischer Tempel sein sollte. Die Villa eines Sonnenanbeters. Das Denkmal eines Ästheten, Humanisten und Philosophen.
Wie all meine Verwandtschaft zu berichten weiß, entschied ich zwar schon mit etwa vier Jahren, Tierarzt werden zu wollen, es hätte also der Bekanntschaft mit dem Gedankengut dieses exzentrischen, aber auch selbstlos helfenden Mannes nicht bedurft, um an diesem so stark ausgeprägten Berufswunsch festzuhalten. Mit Sicherheit aber haben seine freidenkerischen Aussagen über das Leben, den Tod und vor allem über die Tiere meinen Entschluss gefestigt. Als ich dann kurze Zeit später den kongenialen Schauspieler O.W. Fischer in der Verfilmung des Buches als Axel Munthe sah, war es gänzlich um mich geschehen.
So wollte ich auch sein! Ein Freigeist, der die Ehrfurcht vor dem Leben über alles stellt und sich nicht von vorgefassten Denkmodellen irgendwelcher Religionen oder Ideologien gängeln lassen möchte. Deshalb spürte ich mein Leben lang eine Sehnsucht nach Capri.
Ich wollte den heiligen Ort, an dem dieser Mann gewohnt, gedacht und gewirkt hat, aus der Nähe sehen, den Geist, der dort noch sein musste, erspüren! So war und ist seitdem Capri für mich eine Art Wallfahrtsort.
Es war schon später Nachmittag, als unser Schiff sich der märchenhaften Kulisse, die jeden Ankömmling beeindruckt, näherte.
Ein junger Mann holte uns mit dem Hotelbus vom Hafen ab und hinauf ging es über die serpentinenreiche Straße in den Ort Anacapri. Der junge Mann sprach sehr gut deutsch. Wie sich herausstellte, war er der Sohn des Hauses. Carmine, so sein Name, hatte jahrelang in verschiedenen Städten Deutschlands gearbeitet und war nun heimgekehrt, um das elterliche Hotel allmählich zu übernehmen.
Nach dem Abendessen kam er an unseren Tisch und fragte mich, ob ich mir einmal seinen Hund ansehen könne, er habe erfahren, dass ich Tierarzt sei. Bereitwillig folgte ich ihm.
Wir gingen in den Keller und gelangten über einige Gänge in eine kleine, bezaubernde Hotelsuite, die dem jungen Mann als Wohnung diente.
An der bergabgewandten Seite des Hauses lag sie sozusagen im Erdgeschoss und verfügte über eine große Terrasse mit herrlichem Blick auf das Meer.
An der Terrassentür lag in einem großen, geflochtenen Korb der kleine Hund. Er machte einen sehr matten Eindruck. Die Augen waren trüb und er fühlte sich heiß an. Ich bat um ein Thermometer.
Natürlich, er hatte hohes Fieber!
Sein Bäuchlein war unnatürlich gespannt und schmerzte ihn bei der Untersuchung. Als er sich dann auch noch aus meinen Händen wand, ein paar Schritte weglief, den Rücken krümmte und einige kleine, blutige Kleckse auf die Marmorfliesen machte, war der Fall für mich leider ziemlich klar.
Ich sagte dem jungen Capresen, dass der Hund sehr wahrscheinlich an einer gefährlichen Virusinfektion erkrankt sei und dringend intensive Behandlung brauche.
„Gibt es hier auf der Insel einen Tierarzt?“
„Ja, unten in Capri, nahe der Bushaltestelle, kurz vor der -Piazza.“
„Wir müssen ihn schleunigst dort hinbringen“, sagte ich, „jede Minute ist kostbar!“
Kurz erklärte ich meiner Mutter den Sachverhalt, während Carmine den Dottore anrief und uns ankündigte.
Sie hatte volles Verständnis dafür, dass ich sie alleine ließ, um mitzufahren. Schließlich war sie eine große Tierfreundin und, gerade was die Pflege kranker Hunde anbelangte, mir schon immer die wertvollste Lehrerin.
Zärtlich streichelte sie zum Abschied das kleine Häufchen Elend und wünschte uns Glück. Kaum hatte sie mir den zitternden Hund durch die Beifahrertür auf den Schoß gesetzt, raste Carmine schon los.
Mittlerweile war es stockfinstere Nacht, aber unzählige Lichter markierten die Umrisse der gesamten Insel und vor allem den Verlauf von Wegen und Straßen.
In der Ferne sah man die Lichterkette von Neapels Küste über die dunkle Wasseroberfläche herüberleuchten. Knapp darüber ein ganzes Lichtermeer, das pulsierendes Leben einer Millionenstadt erahnen ließ.
Gut erinnerte ich mich daran, wie temperamentvoll und hektisch es da drüben zugehen konnte, hatte ich doch in den vergangenen Jahren schon ein paar Mal meinen Freund Wolfram besucht, der an der alten und ehrwürdigen Universität Neapels Medizin studierte. Wir hatten nämlich zunächst in unserer deutschen Heimat keinen Studienplatz bekommen und bereiteten uns auf ein Studium in Italien vor, indem wir an der Volkshochschule Italienischkurse belegten. Während er drei Jahre (!) nach dem Abitur in Neapel einen Studienplatz bekam, durfte ich mich nach ebenfalls drei Jahren Wartezeit an der Ludwig-Maximilian-Universität in München immatrikulieren.
So oft es ging, besuchte ich ihn natürlich, wohnte er doch so nah am ehemaligen Wirkungsort meines Idoles Axel Munthe, und wir erkundeten Stück für Stück den sagenhaften Golf von Neapel. Wir verliebten uns unsterblich in diese Landschaft, ihre Menschen, ihre Kultur, ihr Klima und alles, was eben dazugehört. Oft genug haben mein Freund, seine neapolitanischen Mitstudenten und ich uns in die brodelnde Nacht gestürzt. Wir Nordlichter staunten nur so ob der Mysterien süditalienischer Nächte, in die uns unsere einheimischen Freunde einweihten.
Das alles aber lag lange zurück. Als ich jetzt über das nachtschwarze Wasser blickte, erinnerte ich mich sehr gerührt daran, dass ich in diesen nervösen Zeiten nicht im Traum daran gedacht hätte, jemals an der Behandlung eines kranken Hundes auf Capri beteiligt zu sein. Meinen Traumberuf auf meiner Trauminsel ausüben zu können, das hätte ich nicht zu hoffen gewagt, zumal wir damals noch zitterten, ob wir überhaupt je unsere Berufswünsche würden verwirklichen können. Dazu wäre uns jeder Ort auf der Welt mehr als recht gewesen. Hatten wir damals Capri besucht, handelte es sich fast immer nur um Tagesausflüge. Wenn ich über meinen wilden Klettereien die Zeit vergaß, konnte es passieren, dass wir das letzte Schiff versäumten und in einer billigen Pension oder unter freiem Himmel übernachten mussten.
Nun, mit meiner Mutter, durfte ich erstmalig mehrere Tage hintereinander auf der Insel bleiben, was ein völlig anderes, ein viel tieferes Gefühl für diese heilige Erde, diese terra sancta, vermittelte. Diesmal wollten wir uns ganz auf uns und auf die schönste Perle des Mittelmeeres konzentrieren.
Neben Carmine auf dem Beifahrersitz, den Hund auf dem Schoß, ging es die unzähligen, halsbrecherischen Serpentinen hinunter nach Capri, vorbei am Krankenhaus, der Käserei und den Bushaltestellen. Kurz vor dem eigentlichen Ort einen Parkplatz gefunden, den Hund auf den Arm genommen, liefen wir auch schon die Gassen entlang durch Schwärme von flanierenden Touristen. Ein paar Treppen hinunter, Richtung Hafen, einen Haken nach links und noch einen Haken nach rechts geschlagen und wir waren am Ziel. Ein kleiner Anbau, fast wie ein Schuppen, angeschmiegt an ein größeres Haus, das wiederum an anderen lehnte. Alle zusammen waren so an den steilen Berg hingeklebt wie Schwalbennester.
Carmine klopfte an die Tür, an der das Praxisschild angebracht war. Ein mittelgroßer Mann, braungebrannt, mit schon leicht grauen Haaren, etwa um die fünfzig Jahre, öffnete. Carmine erzählte ihm kurz die Vorgeschichte des kleinen Hundes. Der Arzt, um diesen handelte es sich offensichtlich, hörte geduldig zu, nickte hier und da oder zog das Gesicht in Falten. Er machte einen sehr sympathischen Eindruck.
Dann stellte Carmine mich dem Dottore vor, der mich überaus herzlich begrüßte, als wenn wir schon lange Zeit befreundet wären. Besonders lustig fand er es offenbar, dass ich ein frischgebackener Tierarzt war, gerade acht Tage alt, sozusagen.
Wenige Minuten unterhielten wir uns über das Studium der Tiermedizin in Deutschland im Vergleich zu dem in Italien, über seinen Werdegang als Dottore, über einige Freunde, die er in Deutschland hat und ähnliches mehr. Dann fragte er, wann ich angekommen, mit wem ich hier sei, wo wir wohnten, wie lange wir wohl bleiben würden und wie es uns bis jetzt gefalle. Carmine spielte dabei den Dolmetscher. Ich verstand zwar das meiste, aber, um selbst zu sprechen, waren meine Italienischkenntnisse einfach zu gering.
Leider konnte der Dottore weder Deutsch noch Englisch. Französisch, das er wie ich in der Schule gelernt hatte, war sein Steckenpferd. Als er dahinterkam, dass ich ein bisschen Französisch sprach, wollte er immer alles auf Französisch sagen. Das war aber mir nicht so sehr recht, denn erstens wollte ich das Italienische besser lernen und zweitens sprach er das Französische mit einem derart starken italienischen Akzent, dass ich ihn oft auf Italienisch besser verstanden hätte. Viele Jahre sollte das unser Problem sein. Ich hätte gerne von ihm mehr Italienisch gelernt und er wollte am Liebsten immer damit glänzen, dass er so gut Französisch konnte.
Dann begann er den Hund gründlich zu untersuchen. Es kam mir vor wie noch ein paar Tage vorher zu Hause an der Universität.
Nach wenigen Minuten gab er seine Diagnose bekannt: Parvovirose!
Diese gefürchtete Krankheit war damals gerade von Amerika nach Europa herüber gekommen. Wir Studenten waren die letzten Monate auf die Erkennung dieser neuen Seuche geradezu gedrillt worden.
Sie verbreitete sich sehr schnell, und was ganz fatal war: es gab damals noch keinen Impfstoff dagegen.
Man behalf sich vorerst damit, dass man die Hunde mit einem Katzenimpfstoff zu immunisieren versuchte. Das Virus, das bei Katzen die sogenannte Katzenseuche oder Panleukopenie hervorruft, ist nämlich eng verwandt mit dem Virus, das man als den Erreger jener Parvovirose bei Hunden in Amerika erkannt hat. Die Impfung der Hunde mit dieser Katzenvakzine ergab zumindest einen gewissen Schutz und war besser als nichts. Der richtige Parvoviroseimpfstoff kam erst später auf den Markt.
Bei bereits erkrankten Hunden, wie diesem, kam jede Impfung zu spät. Man konnte diese Patienten nur symptomatisch behandeln und hoffen, dass der eine oder andere bei aufopfernder Pflege wieder gesund würde.
„Hat er auch schon eine Myokarditis?“, fragte ich. Der Dottore reichte mir nur das Stethoskop, damit ich das Herz abhöre.
„Nein“, sagte ich nach einer Weile, „ich glaube, eine Herzmuskelentzündung hat er, Gott sei Dank, noch nicht.“
Dabei sah ich den Dottore fragend an. Er lächelte ob meiner Unsicherheit und bestätigte es.
Allerdings war die blutige Magen-Darmschleimhautentzündung, die diese aggressiven Viren verursachen, schlimm genug, und das erklärte der Dottore auch dem jungen Capresen mit sehr ernster Miene.
Dann schrieb er einige wichtige Arzneimittel auf ein Rezept und schickte Carmine damit zur Apotheke.
Ich wunderte mich, denn in Deutschland haben die Tierärzte im Gegensatz zu den Humanärzten das Apothekenrecht oder auch Dispensierrecht, das heißt, dass sie Arzneimittel selber vorrätig halten und nach Bedarf abgeben, also verkaufen dürfen, wie ein Apotheker. Die Menschenärzte oder Humanmediziner dürfen das nicht. Ja, sogar herstellen darf ein approbierter Tierarzt die Medikamente für seine Patienten selbst. Auch das darf ein Arzt in der Regel nicht. Dieses Dispensierrecht der Tierärzte ist schon alt und soll mithelfen, die Kosten der Behandlung kranker Tiere, dadurch, dass der Tierarzt als Arzt und Apotheker in einer Person fungiert, möglichst niedrig zu halten, was besonders in früheren Zeiten bei den landwirtschaftlich genutzten Tieren wichtig und volkswirtschaftlich willkommen war.
In Italien musste der Tierbesitzer mit dem Rezept, das er von seinem Tierarzt bekam, zur Apotheke gehen und dort die Arznei mehr oder weniger teuer einkaufen. Dann ging er mit dem Medikament zu seinem Tierarzt zurück und ließ sein Tier damit behandeln. Ein Besuch bei einem italienischen Tierarzt, also lediglich das Vorstelligwerden in der Sprechstunde, wohlgemerkt zunächst einmal ohne jede Behandlung, ohne jede Arznei und ohne sonstiges Material, war ziemlich teuer, etwa so wie in Amerika, jedenfalls viel teurer als bei uns in Deutschland.
Aus diesem Grunde war ich angenehm überrascht, wie viele Tierbesitzer doch mit ihren Schützlingen zum Tierarzt gingen, wenn es wirklich nötig war, da man ja den Südländern im Allgemeinen eine nicht allzu innige Verbindung zu ihren Haustieren nachsagt.
Als Carmine zurückkam, legten wir dem Hund eine intravenöse Infusion und nutzten die Zeit, in der die Infusion lief, um einen Schlachtplan zu entwerfen, nach welchem in den nächsten Tagen vorgegangen werden sollte.
Zum Abschluss gab der Dottore noch ein paar Injektionen, alle tadellos nach neuesten Erkenntnissen, verabschiedete uns und versprach, im Laufe des nächsten Tages nach dem Patienten zu sehen.
Wir machten uns auf unseren kurvenreichen Heimweg. Das Touristenvolk wimmelte um uns herum. Kein Mensch bemerkte das schwerkranke Tier und unsere traurigen Gesichter.
Oben angekommen, betteten wir erst einmal das Hündchen zur Ruhe. Dann baten uns Carmines Eltern, zusammen mit etlichen Familienmitgliedern und einigen Hotelangestellten, zu einem kleinen Nachtessen auf die Terrasse. Es wurde trotz der etwas geknickten Stimmung doch noch ein ganz lustiger Abend, an dem man sich gegenseitig viele Geschichten erzählte und sich so besser kennenlernte.
Ein riesiger Tisch mit kräftigen, geschwungenen Metallbeinen und einer fast zehn Zentimeter dicken Steinplatte, deren Oberfläche mit einer herrlichen Mosaikeinlegearbeit verziert war, bot eine reichliche Auswahl an eingelegten Gemüsen, Käse, Brot, Oliven, Obst und Kuchen. Auch Wein gab es im Überfluss.
Zufrieden lehnte ich mich zurück und hörte, wie von sehr fern, das Stimmengewirr unserer Tischgesellschaft. Mein Blick schweifte in die tiefblaue Nacht, über die steilen Felswände, über die vielen Oliven- und Weingärten hinunter nach Capri, noch weiter hinunter zum Hafen, dessen Einfassungen von vielen Lichtern markiert waren, dann hinaus auf das Meer, das nur als schwarze Fläche zu erahnen war, auf der sich hier und da kleine Lichter tummelten.
Tief sog ich die würzige Luft in meine Lungen und genoss das, in diesem Augenblick aufkommende, schon so oft von so vielen Menschen beschriebene und eigentlich trotzdem so unbeschreibliche Inselgefühl.
Man fühlt sich auf eine geheimnisvolle Art und Weise heimisch und geborgen, weil man entfernt und entrückt ist von der eigentlichen Welt da drüben auf dem Festland, gleichsam wie auf einem eigenen, kleinen Planeten, der einen sicher verborgen hält vor etwaigen Feinden, vor allem Bedrohlichen und Bösen.
Da drüben war irgendwo die Welt mit ihrem Alltag, ihrem Lärm und ihrer Hektik und all ihren Gefahren; hier aber war das Eiland der Ruhe, der Geborgenheit, wohin man sich zurückziehen, wohin man flüchten kann, um auszuruhen, neue Kräfte zu schöpfen, und Wunden ausheilen zu lassen.
Endlich wieder hier!
Endlich wieder zu Hause!
In dem Moment, als ich ein paar Jahre vorher zum allerersten Male meinen Fuß auf die heilige Erde, die terra sancta, von Capri setzte, signalisierte irgend etwas in mir: Heimat! Es ist bis heute so und es ist mir bis heute ein Rätsel.