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Einführung
ОглавлениеEs ist oftmals und zu Recht gesagt worden, dass Cicero neben dem Kirchenvater Augustin die bestbekannte Persönlichkeit der Antike ist. Erst in der frühen Neuzeit stößt man wieder auf eine vergleichbare Informationsdichte zu einzelnen Lebensgeschichten. Cicero ist der einzige Politiker und Schriftsteller Roms, dem eine auch modernen Ansprüchen gerecht werdende Biographie gewidmet werden kann. Caesar, sein Zeitgenosse und Antipode, folgt in beträchtlichem Abstand, und mit Augustus, Caesars Erben, steht es schon deutlich schlechter. Wir können die Umrisse seiner Lebensgeschichte rekonstruieren, aber der Einblick in die Tiefendimension der Handlungsmotive und Entscheidungsprozesse sowie seiner persönlichen Befindlichkeiten ist uns weitgehend verborgen. Für ihn trifft zu, was für fast alle Persönlichkeiten der Antike gilt: Biographische Versuche leiden meist an Quellenarmut beziehungsweise am Mangel oder an der Unergiebigkeit der Selbstzeugnisse. Das ist bei Cicero anders. Wir besitzen von ihm 864 Briefe, 774 von seiner Hand und 90 von seinen Korrespondenten, viele von den Protagonisten seiner Zeit wie Caesar, Pompeius oder den Caesarmördern Brutus und Cassius. Im Altertum waren weitaus mehr Briefe in Umlauf. Eine Reihe von Spezialsammlungen, unter anderem mit Briefen an Caesar, Pompeius oder Octavian, dem Erben Caesars und nachmaligem Augustus, ist verlorengegangen. Es sei daran erinnert, dass der Brief vor der Erfindung des Telefons und der elektronischen Nachrichtenübermittlung das einzige Medium nichtmündlicher Kommunikation war. Wir machen uns im Allgemeinen keine Vorstellung von der Unmenge an Briefen, die Einzelne im Laufe ihres Lebens schrieben. Von Goethe sind, so war vor Kurzem zu lesen, etwa 15.000 Briefe erhalten, und von Augustus weiß man, dass er der Last seiner Korrespondenz nicht mehr gewachsen war und er deshalb den Dichter Horaz – freilich vergeblich – als Privatsekretär gewinnen wollte. Auch von Cicero besitzen wir gewiss nur einen Bruchteil der Briefe, die er schrieb und empfing. Das Erhaltene beginnt im November 68 und reicht bis zum 27. Juli 43, also von seinem 39. bis zu seinem 64. Lebensjahr. Die Briefe begleiten seinen Aufstieg zum höchsten Amt des römischen Staates und reichen mit zunehmender Dichte bis an die Schwelle seines Todes. Als besonderer Glücksfall darf die Erhaltung der Briefe gelten, die Cicero seinem besten Freund Titus Pomponius Atticus geschrieben hat, insgesamt 426. Diesem Freund vertraute er alles an, was ihn bewegte, und er tat es ohne Rücksicht auf Außenwirkung. So erhalten wir nicht nur Einblick in die Innenseite von Politik und Gesellschaft, sondern auch in die Befindlichkeiten, Stimmungsschwankungen, Irrtümer und Illusionen des Briefschreibers.
Cicero war der bedeutendste Redner Roms, und es war die Kunst der Rede, der er als Außenseiter seinen Aufstieg in die regierende Klasse Roms, die Senatsaristokratie, verdankte. Die öffentliche Rede hatte in Rom ihren Sitz in der Rechtspflege und in der Politik, vor den Gerichten, im Senat und in den Volksversammlungen. Als gesprochenes Wort ist die Rede dazu bestimmt, auf Versammlungen von Entscheidungsträgern einzuwirken, und dementsprechend sind ihrer Wirkung räumlich und zeitlich enge Grenzen gesetzt. Aber in Schriftform erreichen Reden auch ein virtuelles, breitgefächertes Publikum in Mit- und Nachwelt. Reden zu publizieren kam in Athen an der Wende vom 5. zum 4. Jahrhundert auf, und in Rom bürgerte sich dieser Brauch seit dem 2. Jahrhundert allmählich ebenfalls ein. Ihren Höhepunkt erreichte die Publikation von Reden durch Cicero. Er hielt im Laufe seines Lebens mehrere hundert. Von ihnen sind nach letzter, aber wohl nicht ganz vollständiger Zählung 163 dem Titel nach bekannt. Davon sind 58, meist vollständig, erhalten. Sie stammen aus der Zeit von 81 bis 43 v. Chr., gehören also in den Zeitraum von der Diktatur Sullas bis zu Ciceros letztem Kampf für die Republik. Dabei handelt es sich einmal um Prozessreden in zivil- und strafrechtlichen Verfahren, meist solchen von erheblicher politischer Bedeutung, zum anderen um politische Reden im engeren Sinne, die meist im Senat, in Einzelfällen auch vor Volksversammlungen gehalten worden waren.
Beide Quellengattungen, Briefe und Reden, sind, wie zu betonen ist, unschätzbare Quellen für unsere Kenntnis der Biographie Ciceros und der allgemeinen Geschichte seiner Zeit. Dies ist schon wenige Jahre nach seinem Tod dem Biographen des Atticus, Cornelius Nepos, aufgefallen. Bei der Arbeit in Atticus’ Archiv stieß er auf die Briefe Ciceros, er nahm Einblick in diesen einzigartigen Fund und schrieb in seiner Biographie: „Ihre Freundschaft bezeugen außer den Büchern, in denen er [Cicero] ihn [Atticus] erwähnt und die publiziert sind, elf Rollen mit Briefen, die er von seinem Konsulat an bis zum Ende seiner Lebenszeit an Atticus richtete. Wer sie liest, dürfte ein zusammenhängendes Geschichtswerk über jene Zeiten nicht sehr vermissen.“1 Die Publikation dieser Briefe ließ noch mehrere Jahrzehnte auf sich warten. Anders steht es mit den Reden und anderen Werken Ciceros. Für die Publikationen von Reden sorgte er, übrigens mit Hilfe seines Freundes Atticus, persönlich. Er betrachtete sie als Musterreden – und dies in doppelter Hinsicht: Sie dienten der Selbstdarstellung des Advokaten und des Politikers, und sie waren auch dazu bestimmt, als Schullektüre zur Ausbildung künftiger Redner beizutragen. Einer seiner Reden, der Invektive gegen Caesars Schwiegervater Lucius Calpurnius Piso, sagte er selbst voraus, dass sie demnächst von der studierenden Jugend mit Vergnügen auswendig gelernt würde. Jedenfalls hatten die Reden Ciceros das Schicksal, Schulstoff in den Rhetorenschulen zu werden. Cicero ist in der fachlich und didaktisch besten Rhetoriklehre, die wir aus dem Altertum besitzen, der des Quintilian, der mit Abstand meistzitierte Autor. Das Interesse der Rhetoriklehrer betraf das Formale, die Gestaltung der Rede von der Auffindung des Stoffes über die Disposition bis zu den Gedanken- und Wortfiguren des sprachlichen Ausdrucks. Aber zum Verständnis der Reden Ciceros gehörten auch die Erschließung der sachlichen Voraussetzungen, die Erläuterung von Anspielungen und die Identifikation erwähnter Personen. Das sind Aufgaben eines historischen Kommentars. Auf diesem Feld hat in neronischer Zeit Asconius Pedianus grundlegende Arbeit geleistet. Von ihm stammt ein ausgezeichneter, besonders hilfreicher Sachkommentar zu ausgewählten Reden Ciceros.
In Ciceros Reden und Briefen tritt ein großer Teil der gesellschaftlichen Elite aus der Anonymität der Klassenzugehörigkeit in das Licht individueller Beleuchtung einzelner Personen. Das ist für den Historiker und Biographen zugleich Erkenntnischance und Gefahr. Die Chance besteht in der Möglichkeit, dem Panorama von Politik und Gesellschaft eine Tiefenschärfe zu verleihen, die sonst in der Alten Geschichte kaum einmal zu erreichen ist. Die Gefahr aber besteht in der Auflösung des großen historischen Zusammenhangs in das Neben- und Gegeneinander der sogenannten großen Einzelnen. Es ist kein Zufall, dass die Geschichte der späten Republik meist als Abfolge ihrer großen Protagonisten von Marius und Sulla bis Caesar dargestellt wird. Geradezu idealtypisch begegnet dieses Verfahren in dem Riesenwerk von Wilhelm Drumann, einem Zeugnis des stupenden Gelehrtenfleißes, mit dem im 19. Jahrhundert im Zeichen des Historismus der Bruch mit der humanistischen Verehrung Ciceros vollzogen wurde. Das sechsbändige Werk trägt den barocken Titel: „Geschichte Roms in seinem Übergange von der republikanischen zur monarchischen Verfassung oder Pompejus, Caesar, Cicero und ihre Zeitgenossen. Nach Geschlechtern und mit genealogischen Tabellen“.2 Der gewaltigen Leistung einer vollständigen Erfassung des Quellenmaterials korrespondiert die Auflösung der Geschichte in zahlreiche Biographien. Erst der Nachlass Ciceros machte es möglich, so zu verfahren, wie Drumann es tat, und er begründete damit eine Tradition, deren bedeutendster Repräsentant im 20. Jahrhundert Matthias Gelzer war, in dessen Biographien eines Caesar, Pompeius und Cicero das positivistische Ideal skrupulöser Quellenerfassung bis zum Äußersten getrieben ist.
Gegen die Auflösung der Geschichte in Einzelbiographien lässt sich vieles einwenden. Die Einwände liegen dort auf der Hand, wo das Verfahren Hand in Hand mit einer Geschichtsauffassung geht, nach der Männer die Geschichte machen. Dies war avant la lettre des vielfach geschmähten und missverstandenen Wortes aus Treitschkes Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts das persönliche Credo Wilhelm Drumanns. Er schrieb in der Vorrede zu seinem Werk: „Bei großer Gärung insbesondere, wenn jeder sich frei zu sein dünkt, unterliegen die Menschen dem Einfluss einzelner; diese hat daher auch der Geschichtsforscher vorzüglich ins Auge zu fassen und nach ihnen ihre tätigsten Werkzeuge.“3 Diese Geschichtsauffassung steht in diametralem Gegensatz zu derjenigen, die in den überpersönlichen Verhältnissen, vornehmlich den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen, und ihren Veränderungen das Eigentliche der Geschichte sieht. Auch diese Geschichtsauffassung ist gegen Einwände nicht gefeit. Gegen ein bedeutendes Werk jener Richtung, die „Deutsche Gesellschaftsgeschichte“ von Hans-Ulrich Wehler, ist geltend gemacht worden, dass darin eine von Menschen entleerte Geschichte begegne. Geschichte aber handelt von Menschen und den von ihnen bestimmten und erlittenen Entwicklungen. Von falschen Alternativen kann hier füglich abgesehen werden. Einer modernen Biographie ist aufgegeben, eine Person in Beziehungen zu den Zeitverhältnissen zu setzen und so ihre Grenzen und Möglichkeiten zu bestimmen.
Cicero war nicht nur der bedeutendste Advokat seiner Zeit, den politischer Ehrgeiz bis in den inneren Machtzirkel der regierenden Klasse Roms führte, er war auch ein fruchtbarer Schriftsteller, der die beiden großen Bildungsmächte der hellenistischen Welt, Rhetorik und Philosophie, mit Werken lateinischer Sprache in Rom einbürgerte. Es handelt sich um etwa 25 selbständige Schriften, von denen die meisten mehr oder weniger vollständig erhalten sind. Von diesem Œuvre nahm die Übertragung einer der großen Errungenschaften des griechischen Geistes, der nachsokratischen Philosophie, in die Bildungswelt Alteuropas ihren Anfang. Die beste Darstellung dieser epochalen Wirkungsgeschichte stammt aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Ihr Verfasser ist Thaddäus Zielinski, ein polnischer Gelehrter, der in St. Petersburg wirkte und sein Buch „Cicero im Wandel der Jahrhunderte“ in deutscher Sprache schrieb. Zielinski verfolgte die Wirkungsgeschichte Ciceros bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, bis zu dem großen Bruch mit der humanistischen Tradition Alteuropas. Kaum einen anderen Autor der Antike hat dieser Umbruch so hart getroffen wie Cicero. Im Zeitalter des Historismus ging es nicht mehr darum, mit den großen Gestalten des Altertums wie mit Vor- und Leitbildern umzugehen, man wollte, um es mit einem berühmten Wort Rankes zu sagen, nur wissen, wie es eigentlich gewesen, und das hieß, dass die Vergangenheit von ihren Voraussetzungen her und die einstigen Heroen als Menschen aus Fleisch und Blut verstanden werden sollten. Dieser neue Ansatz hat gewaltige Forschungsenergien freigesetzt, und am Ende ist nichts so geblieben, wie es einmal war. Den Preis, der für diese ‚fröhliche Wissenschaft‘ gezahlt werden musste, hat niemand deutlicher beim Namen genannt als Friedrich Nietzsche. Er schreibt: „Die Franzosen Corneilles und auch noch die der Revolution [von 1789] bemächtigen sich des römischen Altertums in einer Weise, zu der wir nicht den Mut mehr hätten – dank unserem höheren historischen Sinne.“4
Gewiss, schon bei dem großen Humanisten des 14. Jahrhunderts Petrarca hatte die Wiederentdeckung der Atticusbriefe, in welchen Cicero so gar nicht dem Idealbild des weisen Philosophen entspricht, einen schweren Schock ausgelöst. Er sandte dem gefallenen Idol einen enttäuschten Brief ins Jenseits nach, aber dann beruhigte er sich, schrieb einen zweiten Brief und leistete mit folgenden Worten Abbitte: „Meine Vorwürfe galten nur Deinem Leben, nicht Deinem Geist noch Deiner Beredsamkeit; Deinen Geist bewundere ich, Deine Beredsamkeit bete ich an. Ja, auch Dein Leben missfällt mir nur insoweit, als ich in ihm die einem Weisen geziemende Stetigkeit der Überzeugung vermisse.“5 Als jedoch Wilhelm Drumann um 1840 den gewaltigen Nachlass Cicero sichtete und die Ergebnisse seiner Arbeit auf 1.200 Seiten ausbreitete, war es vorbei mit humanistischer Bewunderung und der Unterscheidung von Leben und Werk. Cicero wurde in jeder Hinsicht, als Charakter, als Politiker, als Philosoph und Literat, zu leicht befunden. In Anknüpfung an das von Drumann gezeichnete Riesengemälde sprach dann in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts Theodor Mommsen dem gefallenen Idol einer vergangenen Zeit mit der ihm eigenen Sprachgewalt das Todesurteil.6 Er schrieb: „Wir haben dieses vielseitigen Menschen schon mehrfach gedenken müssen. Als Staatsmann ohne Einsicht, Ansicht und Absicht, hat er nacheinander als Demokrat, als Aristokrat und als Werkzeug der Monarchen figuriert und ist nie mehr gewesen als ein kurzsichtiger Egoist … In literarischer Hinsicht ist es bereits hervorgehoben worden, dass er der Schöpfer der modernen lateinischen Prosa war, auf seiner Stilistik beruht seine Bedeutung, und allein als Stilist auch zeigt er ein sicheres Selbstgefühl. Als Schriftsteller dagegen steht er vollkommen ebenso tief wie als Staatsmann. Er hat in den mannigfaltigsten Aufgaben sich versucht, in unendlichen Hexametern Marius’ Groß- und seine eigenen Kleintaten besungen, mit seinen Reden den Demosthenes, mit seinen philosophischen Gesprächen den Platon aus dem Feld geschlagen und nur die Zeit hat ihm gefehlt, um auch den Thukydides zu überwinden. Er war in der Tat so durchaus Pfuscher, dass es ziemlich einerlei war, welchen Acker er pflügte. Eine Journalistennatur im schlechtesten Sinne des Wortes, an Worten, wie er selber sagt, überreich, an Gedanken über alle Begriffe arm, gab es kein Fach, worin er nicht mit Hilfe weniger Bücher rasch einen lesbaren Aufsatz übersetzend oder kompilierend hergestellt hätte.“ In diesem Ton geht es weiter, und zum Schluss wird der Stab auch über den Redner gebrochen: „Sollen wir den Redner noch schildern? Der große Schriftsteller ist doch auch ein großer Mensch; und vor allem dem großen Redner strömt die Überzeugung und die Leidenschaft klarer und brausender aus den Tiefen der Brust hervor als den dürftigen vielen, die nur zählen und nicht sind. Cicero hatte keine Überzeugung und keine Leidenschaft; er war nichts als Advokat und kein guter Advokat.“
Das Wunder, dass ein solcher Mensch viele Jahrhunderte in seinen Bann gezogen hatte, erklärte der Historiker mit einem Phänomen, das er jenseits des individuellen Verdienstes ansiedelte: dem Geheimnis der Sprache und ihrer Wirkung auf das Gemüt: „Indem die edle lateinische Sprache, eben bevor sie als Volksidiom unterging, von jenem gewandten Stilisten noch einmal gleichsam zusammengefasst und in seinen weitläufigen Schriften niedergelegt ward, ging auf das unwürdige Gefäß etwas über von der Gewalt, die die Sprache ausübt, und von der Pietät, die sie erweckt.“ Dieser sprachgewaltige Verriss war freilich an Voraussetzungen geknüpft, die mehr über den Rezensenten als den Getadelten verraten. Abgesehen davon, dass es nicht das Latein als vorgegebene Sprache, sondern die Leistungen eines großen Stilisten waren, die das Entzücken der Gebildeten hervorriefen: Die Explosion des historischen Wissens, die der Historismus bewirkte, bedeutete keineswegs die Erfüllung des Versprechens, zu zeigen, wie es eigentlich gewesen. Im Gegenteil: Gerade die größten Gelehrten sind in ihren Urteilen und Wertungen den herrschenden Strömungen des Zeitgeistes, des Geistes ihrer eigenen Zeit, gefolgt. Mommsen beurteilte den Dichter, den philosophischen Schriftsteller und den Redner nach dem Leitbild des Originalgenies und großen Menschen, das er in seiner Jugend verinnerlicht hatte. Und was das politische Verdikt über den Politiker und Staatsmann anbelangt, so ist seine Zeitbedingtheit noch offensichtlicher. Als Gegenspieler Caesars war Cicero Mommsen, dem Verehrer Caesars, zutiefst zuwider. Mommsen war kein borussischer Monarchist wie Drumann, der in die Vorrede zu seinem Werk das folgende Bekenntnis hineinschrieb: „Nicht wider, aber ohne meinen Willen ist mein Buch eine Lobschrift auf die Monarchie, und ich freue mich des nicht gesuchten Ergebnisses, welches sich mir nicht bloß in der römischen Geschichte aufdringt, denn der Preusse, der Untertan eines Friedrich Wilhelm, kann kein anderes politisches Glaubensbekenntnis haben als: μοναρχία xράτιστου“ (die Monarchie ist das Stärkste).7 Ein so plattes politisches Glaubensbekenntnis lag Mommsen nach Form und Inhalt fern. Aber auch seine „Römische Geschichte“ endet in einem vernichtenden Urteil über die späte Republik und in einer Apotheose Caesars. Es ist Caesar, in dem sich die Geschichte Roms vollendet, indem er die ‚Junkerherrschaft‘ zerbrach – so die Ausdrucksweise Mommsens – und Rom zu den Anfängen einer ‚demokratischen Monarchie‘ zurückführte. Hinter dieser Konzeption steckt kein Geringerer als Hegel. Dieser hatte Caesar ebenso wie Napoleon die Rolle eines Geschäftsführers des Weltgeistes zugeschrieben, der der geschichtlichen Notwendigkeit und dem Fortschritt zum Durchbruch verhalf. Mommsen war ein Anhänger der Revolution von 1848, und deshalb kann es nicht überraschen, dass Caesar bei ihm nicht als Monarch schlechthin, sondern als demokratischer Monarch figuriert (was immer dies bedeutet). Als solchen hob Mommsen ihn in den Himmel und verbannte Cicero in die Hölle seiner Verachtung. Tatsächlich hatte es Cicero ihm leicht gemacht; denn seine unleugbaren Schwächen hatte er in einer Flut von Selbstzeugnissen dokumentiert. Umgekehrt gilt freilich auch: Wer Caesar als den Zerstörer einer lebensfähigen und überlebenswerten Republik verurteilt, ist geneigt, Cicero als ihren Repräsentanten zu preisen. Für Bewunderer Caesars wie Matthias Gelzer oder auch Christian Meier ist Cicero schlichtweg kein Politiker, für Hermann Strasburger oder Klaus Martin Girardet ist er der Held einer freien res publica.
Wie immer man sich in diesem Meinungsstreit entscheiden mag, unvermeidbar ist, dass dieser Streit vornehmlich unter Rückgriff auf das Quellenmaterial ausgetragen wird, das in Ciceros schriftlicher Hinterlassenschaft steckt. Dies gilt auch für die kontrovers diskutierte Frage, ob die römische Republik eine Überlebenschance hatte und nur der von Caesar ausgelöste Bürgerkrieg sozusagen als Betriebsunfall der Geschichte ihr Ende bewirkte oder ob dem Ende tiefere Ursachen zugrunde liegen. Was Cicero anbelangt, hat er schon vor Ausbruch des Bürgerkriegs geklagt, dass die überlieferte Ordnung der Republik verloren oder schuldhaft preisgegeben worden sei, und er sprach von einer res publica amissa.8 Unter dieses Cicero entlehnte Motto hat Christian Meier in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts seine vielbeachtete Strukturanalyse der späten Republik gestellt.9 Er sprach von einer ‚Krise ohne Alternative‘. Das kann eigentlich nur bedeuten, dass es sich um eine Krankheit ohne Heilungssaussicht handelte. Denn wenn eine Alternative sich gezeigt hätte, wäre das gleichbedeutend mit einer Überwindung der Krise gewesen. Auch Meiers Analyse beruht nicht zuletzt auf einer Auswertung des Quellenmaterials, das Cicero bereitstellt, und Gleiches gilt auch für das Buch des amerikanischen Althistorikers Erich S. Gruen, der die Meinung vertritt, dass der Bürgerkrieg des Jahres 49 der Republik den Todesstoß gegeben habe und sie nicht etwa einer langdauernden Krise erlegen sei. Gruen ist geneigt, Ciceros pessimistischen Diagnosen zu widersprechen und als Äußerungen einer persönlichen Idiosynkrasie zu werten.10
Wie immer man sich in dieser Frage entscheiden mag – das eigene Urteil ist in der folgenden Darstellung enthalten –, Ciceros Leben und Werk sind auf das Engste mit der Geschichte der späten Republik verflochten. Diese Verflechtung zu analysieren und zur Anschauung zu bringen, hat der Verfasser dieser Biographie sich zum Ziel gesetzt. Er hat dafür die Primärquellen, insbesondere das weitläufige Œuvre und das Corpus der Briefe Ciceros, neu gelesen, und er hat diesen Schatz dazu genutzt, Cicero und seine Zeitgenossen mit ihren eigenen Äußerungen zu Wort kommen zu lassen – in der Überzeugung, dass auf diese Weise die Chance einer Anschaulichkeit genutzt werden kann, die bei bloßer Nacherzählung verloren zu gehen droht.