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Die Anfänge als Prozessredner und die Bildungsreise
ОглавлениеWährend der Diktator Sulla nach dem blutigen Exzess der Proskriptionen durch seine Gesetzgebung den Staat neu ordnete, hielt Cicero seine erste Prozessrede in einem privatrechtlichen Fall. Cicero hat diese Gerichtsrede, die er für Publius Quinctius im Jahre 81 hielt, wie in der Folgezeit viele andere schriftlich für die Publikation ausgearbeitet, und sie ist, von einer Lücke abgesehen, auf uns gekommen.1 Cicero war gewissermaßen erst in letzter Minute vor der entscheidenden Gerichtsverhandlung – sie fand um die Jahresmitte, etwa im Juni statt – gebeten worden, sich der Sache des Quinctius anzunehmen. Er verdankte dies dem Umstand, dass der mit der Führung des Prozesses beauftragte Marcus Iunius, offenbar ein Angehöriger des Senatorenstandes, in einer politischen Mission abberufen worden war und deshalb sein Mandat nicht wahrnehmen konnte. In dieser Situation wandte sich Quinctius’ Schwager Quintus Roscius Gallus, Roms berühmtester Schauspieler, an den noch gänzlich unerfahrenen jungen Mann mit der Bitte, den schwierigen Fall kurzfristig zu übernehmen. Roscius kannte seinen Cicero. Er wusste, mit welcher Energie sich dieser auf die Rolle des Prozessredners vorbereitete. Möglicherweise hatte er ihn deklamieren gehört und ihm geholfen, Stimmtechnik und Gestik beim Vortrag zu verbessern. Jedenfalls traute er ihm zu, es mit dem Prozessvertreter der Gegenseite, Quintus Hortensius, dem damals berühmtesten Gerichtsredner, aufnehmen zu können. Doch Cicero hatte begreiflicherweise Bedenken. In der publizierten Rede hat er lebendig geschildert, wie Roscius diese Bedenken überwand, indem er ihm zu einem Detail des anhängigen Verfahrens einen unwiderleglichen Beweis für das unkorrekte Vorgehen des Prozessgegners Sextus Naevius an die Hand gab. Das machte Cicero Mut, und wir vernehmen in der publizierten Rede noch einen Nachklang der so geweckten Zuversicht: „Hier mögen alle Redner vom Rang eines Crassus und eines Antonius auftreten, und Du, Lucius Philippus, der Du schon damals neben diesen Männern in hohem Ansehen standest, magst wünschen, zusammen mit Hortensius diese Sache [für die Gegenseite] zu vertreten: Es ist trotzdem unvermeidlich, dass ich die Oberhand behalte.“2
Cicero übernahm also die Vertretung des Quinctius. Worum ging es? Der Fall hatte eine lange Vorgeschichte, von der hier nur das zum Verständnis des Prozesses Notwendige mitgeteilt sei. Der Prozessgegner Sextus Naevius war mit dem Bruder des Quinctius eine Gesellschaft zur Bewirtschaftung großer Ländereien im Jenseitigen Gallien eingegangen. Nach dem Tod des Bruders erbte Quinctius die Anteile des Verstorbenen und setzte die Gesellschaft mit Naevius fort. Nachdem mehr als ein Jahr vergangen war, konfrontierte Naevius im Jahr 84 seinen Partner mit Schuldforderungen aus der Zeit der gemeinsamen Wirtschaftsführung mit dessen verstorbenem Bruder. Über diese Forderungen konnte weder auf dem Verhandlungswege noch auf Vermittlung von Schiedsmännern eine gütliche Einigung erzielt werden. Termine zur Einleitung eines Schiedsverfahrens wurden anberaumt und verschoben. Als Quinctius Ende Januar 83 schließlich nach Gallien abgereist war, erschien Naevius am 20. Februar vor dem zuständigen Gerichtsmagistrat, dem Praetor Publius Burrienus, machte geltend, dass sein Kompagnon den zuletzt vereinbarten Termin nicht eingehalten habe, und erwirkte mit dieser Einlassung das übliche Zwangsmittel gegen Schuldner, die ihre Gläubiger an der gerichtlichen Verfolgung ihres Anspruchs zu hindern versuchten. Der Praetor wies per Edikt Naevius in das gesamte Vermögen des Quinctius mit der Maßgabe ein, dass, wenn dieser sich nicht innerhalb von 30 Tagen stelle, er für bankrott gelten solle und sein Vermögen dem Naevius zufalle. Dazu kam es indessen nicht. Nach Bekanntgabe des Edikts, und zwar innerhalb der gesetzten Frist, erklärte sich Sextus Alfenus, ein wohlhabender römischer Ritter, bereit, als Quinctius’ Bevollmächtigter den Abwesenden vor Gericht zu vertreten. Vor dem Praetor wurde zwischen den Parteien über das Prozessprogramm verhandelt. Beide Seiten einigten sich schließlich darauf, dass Quinctius am 13. September persönlich zu einem neuen Termin in Rom erschien. Aber Naevius verfolgte die Sache anderthalb Jahre lang nicht weiter. Es war die Zeit des Bürgerkriegs zwischen Sulla und den Popularen, und Naevius machte nach Sullas Sieg geltend, dass der Einfluss des Alfenus, eines prominenten Anhängers der Popularen, ihn daran gehindert habe, seine Interessen weiterzuverfolgen, solange das populare Regime Bestand hatte. Wie dem auch sei: Jedenfalls wollte Naevius nach Sullas Sieg die Schuld einklagen und beantragte bei dem Praetor Gnaeus Cornelius Dolabella unter Berufung auf die Besitzeinweisung des Jahres 83, Quinctius möge ihm zunächst Sicherheit für die Erfüllung der Urteilsschuld leisten, da er für bankrott erklärt worden sei. Das bestritt Quinctius, und so verfügte Dolabella, dass in einem Vorverfahren zuerst zu klären sei, ob Naevius das Vermögen des Quinctius 30 Tage gemäß dem Edikt des Jahres 83 in seinem Besitz gehabt habe. Zur Klärung dieser Frage setzte er einen Einzelrichter aus senatorischem Stand ein, den durch Rechtskenntnis ausgezeichneten Gaius Aquilius Gallus. Nach römischem Rechtsbrauch wurde das Prozessprogramm in die Form einer Forderungsklage mit Prozesswette gekleidet: Quinctius ließ sich von Naevius einen bestimmten Betrag für den Fall versprechen, dass er entgegen seiner Behauptung nicht 30 Tage im Besitz des Vermögens seines Kontrahenten gewesen sei. Mit anderen Worten: Es ging in diesem Verfahren um die Frage, ob Quinctius im Jahre 83 rechtswirksam für bankrott erklärt worden war und Naevius als Gläubiger folglich das Recht erworben hatte, das Vermögen des Schuldners versteigern zu lassen. Da aber ein Bankrotteur nicht nur sein Eigentum verlor, sondern auch für ehrlos galt, stand bei dem Verfahren die gesamte wirtschaftliche und bürgerliche Existenz des Quinctius auf dem Spiel.
Als Cicero den Fall übernahm, war schon ausgiebig zur Sache verhandelt worden. Die Prozessvertreter der Gegenseite verlangten deshalb von dem Richter, Cicero die Redezeit zu begrenzen und unverzüglich in die Beratung über das Urteil einzutreten.3 Das lehnte Aquilius jedoch ab, und so kam Cicero ausführlich zu Wort. Die schriftliche Version seiner Rede ist wie andere auch streng nach den Regeln rhetorischer Vorschriften aufgebaut. Der juristisch springende Punkt der Argumentation ist der Nachweis, dass Naevius wegen der schnellen Intervention des Alfenus von den Gütern des Quinctius gar nicht Besitz ergriffen haben konnte.4 Die Rede Ciceros beschränkt sich freilich nicht auf den für die Urteilsfindung entscheidenden juristischen Gesichtspunkt, sondern malt die Gefahren, die seinem Klienten aus den Umständen des Prozesses erwuchsen, in grellen Farben aus: Da waren die mächtigen Fürsprecher, die Naevius aufgeboten hatte, und sein Prozessvertreter Quintus Hortensius, der brillanteste Redner der Zeit, sowie die ungünstige Prozesssituation, die den in seiner ganzen Existenz bedrohten Quinctius zwang, als erster seine Sache zu vertreten, der Gefährdete also nicht in die Rolle des Verteidigers, sondern in die des Klägers gestellt war.5 Vor allem aber: Quinctius wird durchweg als verfolgte Unschuld dargestellt, als Opfer der kriminellen Energie des Beklagten, mit dem der Kläger durch Verschwägerung und Geschäftsbeziehungen verbunden war und von dessen Seite er folglich nichts Böses erwartete. Dieser prozessualen Taktik ist die ausführliche Darstellung der Vorgeschichte geschuldet, in der als Naevius’ Motiv die Habgier und als seine Methode Lüge und Heimtücke an den Pranger gestellt werden. Obwohl dies alles nicht den springenden Punkt des Prozessprogramms betraf, hatte es doch im Plädoyer Ciceros eine tragende Funktion. Es war die Folie eines nachdrücklichen Appells an den Richter und das Gremium seiner Berater, der von mächtigen Hintermännern und ungünstigen Umständen bedrohten Unschuld eine Zuflucht zu geben und der Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen.
Cicero zeigte dabei durchaus Mut zur Provokation. Obwohl die von ihm beanstandete Prozessinstruktion des Praetors dem damaligen Prozessrecht entsprach und somit keinen sachlichen Anstoß bot, versetzte er dem aus altadliger Familie stammenden Cornelius Dolabella doch einen Seitenhieb, weil dieser trotz der von Quinctius erhobenen Einwände auf seiner Entscheidung bestanden hatte: „Dolabella – wie es die Art der Leute vom Adel ist: ob sie etwas richtig oder verkehrt angefangen haben, in beidem tun sie sich derart hervor, dass niemand unseresgleichen es ihnen nachmachen kann – fährt mit größter Tatkraft fort, Unrecht zu begehen.“6 Und auf das Argument der Gegenseite, Naevius habe wegen des Einflusses, den Alfenus zur Zeit des popularen Regimes besaß, nicht gewagt, seine Sache vor Gericht weiterzuverfolgen, repliziert Cicero, dass auch Naevius über beste Beziehungen zu den damaligen Machthabern verfügt habe und der Unterschied zwischen ihm und dem von Sulla geächteten Alfenus nur darin bestand, dass dieser es verschmäht hatte, sein Fähnchen nach dem Wind zu hängen, als die Sache seiner Freunde verloren war: „Alfenus ging mit denen und um derentwillen zugrunde, die er schätzte; Du aber hast, als sie nicht zu siegen vermochten, die Deine Freunde waren, erreicht, dass die Sieger Deine Freunde wurden.“7
Überhaupt ist das Plädoyer von der Taktik bestimmt, den guten Ruf des Naevius zu vernichten, und wenn Cicero Beweise gegen ihn in der Hand zu haben glaubt, die ein Licht auf die Verlogenheit und Unkorrektheit seines Vorgehens werfen, verweilt er mit nachdrücklichem Behagen auf den betreffenden Punkten. Der Behauptung des Naevius, Quinctius habe den am 5. Februar 83 vereinbarten Termin versäumt und deshalb beim Praetor die Einweisung in dessen Vermögen erwirkt, begegnet Cicero mit der von dritter Seite bezeugten Aussage des Quinctius, dass er Rom bereits am 29. Januar verlassen hatte, und er spielt diesen Trumpf im Ton triumphierender Rhetorik aus: „Dreist, habgierig, treulos? Diese Worte sind gewöhnlich und abgegriffen; Deine Tat aber ist neu und unerhört. Wie steht es also? Beim Herkules, ich fürchte, heftigere Worte zu gebrauchen, als mir ansteht, oder gelindere, als der Sachverhalt erfordert. Du behauptest, ein Termin sei versäumt worden. Nach Rom zurückgekehrt, fragte Quinctius Dich sofort, an welchem Tag nach Deiner Meinung der Termin vereinbart worden sei. Du antwortetest sofort: ‚Am 5. Februar.‘ Quinctius geht fort und denkt nach, an welchem Tag er von Rom nach Gallien abgereist war; er zieht sein Tagebuch zu Rate: Als Datum der Abreise wird der letzte Tag des Januar ermittelt. Wenn Quinctius am 5. Februar in Rom war, so haben wir nichts dagegen einzuwenden, dass er Dir einen Termin zusicherte. Wie lässt sich das feststellen? Mit ihm zusammen ist Lucius Albius abgereist, ein Mann von bestem Ruf; er wird als Zeuge auftreten. Angehörige gaben Albius und Quinctius das Geleit; auch sie werden als Zeugen auftreten. Man kann die Aufzeichnungen des Publius Quinctius und eine so große Zahl von Zeugen, die alle einen sehr triftigen Grund für ihre Kenntnis und keinen zur Lüge haben, mit Deinem Gewährsmann vergleichen.“8 Cicero konnte sogar geltend machen, dass Naevius seinen Kompagnon von einer der gemeinsamen gallischen Viehtriften vertreiben ließ, bevor dorthin die Nachricht von der in Rom verfügten Besitzeinweisung dorthin gelangt sein konnte, und auch in diesem Punkt entlädt sich sein Triumph in einem brillanten rhetorischen Feuerwerk: „Ich bitte Dich, Gaius Aquilius, und Euch, die ihr als seine Berater zugegen seid, gebt sorgsam acht: Wahrhaftig, jetzt könnt ihr einsehen, dass auf der Gegenseite von Anfang an Habgier und Unverschämtheit gestritten haben, hier aber Wahrheitsliebe und Anstand, soviel sie konnten, Widerstand leisteten. Du beantragst, man möge Dir dem Edikt gemäß den Vermögensbesitz einräumen. An welchem Tag? Ich wünsche Dich selbst zu hören, Naevius; ich wünsche, dass die unerhörte Tat durch des Täters eigene Stimme bewiesen werde. Nenne den Tag, Naevius! ‚Am fünften Tage vor dem Beginn des Schaltmonats‘ [= 23. Februar]. Gut gesprochen! Wie weit ist’s von hier bis zu Eurem gallischen Weideland? Naevius, Dich frage ich! ‚700 Meilen‘ [etwa 1030 km]. Ausgezeichnet! Quinctius wird von dem Weideland verjagt – an welchem Tage? Dürfen wir auch das erfahren? Warum schweigst Du? Nenne doch endlich den Tag. Du schämst Dich, ihn zu nennen, ich verstehe. Doch Du schämst Dich zu spät und vergebens. Quinctius wird am Vortage des Schaltmonats [26. Februar] von dem Weideland vertrieben, Gaius Aquilius, nach zwei Tagen oder, falls jemand sofort vom Gericht aus losgelaufen ist, nach nicht ganz drei Tagen hat einer 700 Meilen zurückgelegt. Eine unglaubliche Sache! Welch unvorsichtige Gier! Ein geflügelter Bote! Die Diener und Gehilfen des Sextus Naevius gelangen in zwei Tagen von Rom über die Alpen in das Gebiet der Sebagninen. Ein gesegneter Mann, der solche Boten oder richtiger: Flügelrösser hat wie den Pegasus!“9
Dies und das übrige Plädoyer sind nicht nur darauf gerichtet, die vorausgesetzte überlegene Ausgangsposition des Naevius zu unterminieren, alles dient auch der Einstimmung in das Quinctius zusätzlich drohende Hauptverfahren über die Schuldforderung des Naevius. Cicero unterstellt, dass diese Schuldforderung erfunden und als Teil einer Strategie zu betrachten sei, die das Ziel verfolgte, das gesamte Vermögen des Quinctius in Naevius’ Hände zu bringen. Was immer aber in der Frage der Schuldforderung die Wahrheit sein mag: Cicero gewann das Vorverfahren, und ob es danach überhaupt noch zu einer Verhandlung über die Schuldforderung gekommen ist, wissen wir nicht. Jedenfalls begründete Cicero mit der Rede für Quinctius seinen Ruf als Gerichtsredner, und er selbst verbreitete diesen Ruf durch die Publikation seiner Jungfernrede. Er hatte zudem unter Beweis gestellt, dass er sich vor den vermeintlich Mächtigen nicht fürchtete. Beides, rednerische Brillanz und Furchtlosigkeit, trug ihm im nächsten Jahr die Verteidigung in einer Strafsache ein, deren Hintergrund die sullanischen Proskriptionen und ihr Missbrauch aus Habgier und persönlicher Verfeindung bildeten.
Der betreffende Strafprozess fand im Jahr 80 vor dem ständigen Schwurgerichtshof für Tötungsdelikte statt, den der Diktator Sulla im Zuge seiner Neuordnung der Strafjustiz eingerichtet hatte. Als Richter fungierten ausschließlich Senatoren. Sulla hatte zwar nach Abschluss seiner Reformgesetzgebung die Diktatur niedergelegt,10 aber hatte noch keineswegs der Macht entsagt. Er bekleidete das Schlüsselamt des Konsulats und überwachte so den Übergang zu der Normalität geordneter Verhältnisse. Von solchen war man, wie der fragliche Mordfall und der Strafprozess vor Augen führen, im Jahre 80 noch denkbar weit entfernt. Ermordet worden war im Jahr zuvor ein gewisser Sextus Roscius, ein reicher Großgrundbesitzer aus Ameria, einer ungefähr 80 km nördlich von Rom gelegenen Gemeinde. Er besaß 13 Güter, meist in unmittelbarer Nähe zum Tiber, das heißt mit bester Verkehrsanbindung an Rom, dem Hauptmarkt für landwirtschaftliche Erzeugnisse. Entsprechend hoch war der Wert seines Grundbesitzes. Plutarch nennt eine Summe, die 6 Millionen Sesterzen entspricht.11 Sextus Roscius war mit zwei entfernten Verwandten verfeindet. Diese fassten den Plan, die sullanischen Proskriptionen dazu zu benutzen, den ihnen verhassten Roscius zu beseitigen und sich in den Besitz seiner Güter zu setzen. Der Mordplan gelangte jedoch erst zur Ausführung, nachdem die Proskriptionsliste geschlossen worden war, das heißt, nach dem 1. Juni 81. Doch die beiden Roscier wussten sich durch ein Zusammenspiel mit einem der Günstlinge des Diktators Sulla zu helfen. Cicero hat den Sachverhalt wie folgt geschildert:
„Vier Tage nach diesen Ereignissen [nachdem Sextus Roscius in Rom ermordet und die Nachricht nach Ameria gelangt war] wird die Sache dem Chrysogonus im Lager des Sulla vor Volaterra hinterbracht. Man weist auf die Größe des Vermögens hin; man erwähnt die Qualität seines Landbesitzes … und die Hilflosigkeit und Verlassenheit seines Sohnes; sie legen dar, dass Sextus Roscius, der Vater des Angeklagten [der sich nun wegen einer Anklage wegen Vatermordes vor Gericht verantworten muss], ein so angesehener und beliebter Mann, ohne Schwierigkeiten umgebracht worden sei: Da könne man mit ganz leichter Mühe auch diesen unvorsichtigen, unerfahrenen und in Rom ganz unbekannten Menschen aus dem Weg räumen. Sie [die beiden Roscier] versprachen hierzu ihre Dienste. Ich will euch nicht länger hinhalten, ihr Richter: Der Pakt wurde geschlossen. Als man der Ächtungen schon mit keinem Wort mehr gedachte, als auch die zurückkehrten, die sich davor gefürchtet hatten und schon glaubten, alle Gefahr überstanden zu haben, da trägt man den Namen des [ermordeten] Sextus Roscius in die Listen der Geächteten ein, eines Mannes, der sich mit größtem Eifer für die Nobilität eingesetzt hatte. Chrysogonus wird Käufer des [zur Versteigerung gelangten] Besitzes; drei, und zwar die allerbesten, Güter werden [Roscius] Capito zu eigen gegeben, und er besitzt sie bis auf den heutigen Tag; auf alle übrigen Reichtümer stürzt sich [der vor Gericht anwesende] Titus Roscius hier, wie er selbst zugibt.“12
In einem Punkt war freilich der Plan der Verschwörer nicht aufgegangen. Der junge Sextus Roscius fand Zuflucht im Palast der Caecilia, die aus einer der mächtigsten Familien der Nobilität stammte.13 Ihn durch Mordanschlag zu beseitigen war also nicht möglich. Umso besorgter betrachteten die Verschwörer ihn als potentielle Gefahr für den ungestörten Genuss des Gewinns, den sie aus dem verbrecherischen Handel gezogen hatten, und sie besaßen die Unverfrorenheit, ihn als Vatermörder anzuklagen, um ihn auf diese Weise aus dem Weg zu räumen. In der Erwartung, dass niemand sich des Sohnes eines Proskribierten annehmen würde, rechneten sie mit der Verurteilung des Angeklagten. Tatsächlich wagte es auch niemand aus den alten Familien der Nobilität, Roscius vor Gericht zu verteidigen. Aber er hatte Sympathisanten, die im Geheimen für seine Rettung arbeiteten. Cicero nennt namentlich den jungen Marcus Valerius Messala, der die Verteidigung organisierte, aber nicht selbst übernahm (Cicero entschuldigt diese Zurückhaltung mit Messalas Jugend).14 Er war keineswegs der einzige. Zu Beginn seiner Rede verwies Cicero auf Angehörige des höchsten Adels, die beim Prozess durch ihre Anwesenheit sozusagen schweigend für den Angeklagten demonstrierten. Cicero entschuldigt die Haltung dieser Leute damit, dass sie im Unterschied zu ihm, der wegen seiner Unbekanntheit ein geringeres Risiko laufe, viel zu verlieren hätten.15 Der Prozess fand also in einer Atmosphäre der Angst statt, und auch Cicero konnte nicht genau wissen, wie groß sein Risiko war. Er bewies wie auch später in kritischen Situationen bemerkenswerten Mut, den andere vermissen ließen, und er legte die Verteidigung so an, dass er die Hintergründe, aus denen die falsche Anklage erwachsen war, beim Namen nannte und, zur Minderung seines Risikos, Sulla von jeder Verantwortlichkeit für die verbrecherische Manipulation seines Günstlings Chrysogonus ausnahm.
Kopf des L. Cornelius Sulla auf der Rs. eines Denars aus dem Jahr 54 (nach einer Ahnenmaske).
Vordergründig war mit der Anklage, die ein Strohmann namens Erucius vertrat, leicht fertig zu werden. Sie war ein konstruiertes Machwerk ohne jegliches Beweismaterial, und Cicero hatte insofern leichtes Spiel. Der kritische Punkt lag im Ursprung der Anklage: in dem Pakt, den die beiden Verwandten des ermordeten Vaters und des angeklagten Sohnes mit dem mächtigen Günstling des Allermächtigsten, eben Sullas, geschlossen hatten. Er musste dies alles zur Sprache bringen, aber er musste vermeiden, den Urheber der Zustände, die den unsäglichen Pakt erst ermöglicht hatten, direkt anzugreifen. Cicero half sich, indem er sich geflissentlich bemühte, Chrysogonus von Sulla zu trennen: Dieser habe nicht gewusst, was sein Freigelassener hinter seinem Rücken trieb, und er entschuldigt ihn damit, dass er wegen der Fülle der Aufgaben und Geschäfte unmöglich alles wissen konnte, was im Zuge der Neuordnung des Staates alles geschah.16 Cicero rührt damit an ein Dilemma, das weit tiefer ging, als dass es sich mit einer Entschuldigung des vielbeschäftigten Machthabers hätte aus der Welt schaffen lassen. Er billigte das Ziel der sullanischen Umwälzung nach gewonnenem Bürgerkrieg, die Wiederherstellung der Nobilitätsherrschaft, aber er bedauerte, dass der Weg über Bürgerkrieg und Blutvergießen führte. Später machte er kein Hehl daraus, dass er das Ermächtigungsgesetz, das Sulla zum Herrn über Leben und Tod römischer Bürger machte, für schweres Unrecht hielt, und Sulla für die Verheerungen der öffentlichen Moral verantwortlich war, an der die späte Republik litt.17 Im Jahre 80 hatte die Geschichte den Blick auf die katastrophalen gesellschaftlichen und politischen Folgen der sullanischen Restauration noch nicht freigegeben, und Cicero war damals zur Vorsicht gezwungen. Dennoch hat er aus seinem Herzen keine Mördergrube gemacht. „Wer mich kennt“, sagte er vor Gericht, „weiß: Als sich, was ich am liebsten gesehen hätte, eine friedliche Übereinkunft nicht erreichen ließ, da habe ich mich mit meiner geringen und schwachen Kraft vor allem dafür eingesetzt, dass die Sieger würden, die es geworden sind.“18 Er erklärte sich für die Sache, um die es Sulla gegangen war, die Herrschaft der Nobilität, aber, so wandte er ein, wenn das der Preis sei, dass das ärgste Gesindel sich dabei auf verbrecherische Weise bereicherte, und es sogar verwehrt sei, dies öffentlich zu verurteilen, „dann ist das römische Volk in diesem [Bürgerkrieg] wahrhaftig nicht wiedererschaffen und aufs neue gegründet, sondern geknechtet und unterdrückt worden“.19 Der junge Anwalt appellierte an die Adresse der von Sulla wieder an die Macht gebrachten Nobilität, dass ihr Schicksal davon abhänge, wie sie ihre Macht gebrauche. „Wenn unsere adligen Herren nicht wachsam und gütig, nicht tatkräftig und mitfühlend sind, dann müssen sie ihre Vorrechte Männern abtreten, die diese Eigenschaften besitzen.“20 Ja, er geht noch weiter und bekennt: „Denn wenn es [bei der sullanischen Restauration] darum ging, dass Leute wie Chrysogonus sich bereichern dürfen, dann bekenne ich meinen Irrtum, dass ich der Sache des Adels den Vorzug gab, und bekenne meine Torheit, dass ich es mit ihnen hielt – obwohl ich es ohne Waffen tat, ihr Richter.“21
Mit diesen Bekenntnissen bewies Cicero Mut, aber er rannte bei den Einsichtigen unter den Siegern, die ohnehin das schlechte Gewissen über die Umstände ihrer Rückkehr zur Macht plagen mochte, offene Türen ein. Die senatorischen Richter sprachen Sextus Roscius von der Anklage des Vatermordes frei.22 Cicero hatte mit seiner Rede ein politisches Zeichen gesetzt, und er verstärkte ihre Wirkung, indem er sie publizierte und in Umlauf setzte. Sextus Roscius war freigesprochen worden, aber ob das Verbrechen, das ihn den Vater und das gesamte Erbe gekostet hatte, gesühnt wurde, ist mehr als zweifelhaft. Von neuen Verfahren, die dazu notwendig gewesen wären, verlautet in unserer Überlieferung nichts, und angesichts des Aufsehens, den der Fall erregt hatte und der Publizität, die ihm die veröffentlichte Rede Ciceros verliehen hatte, ist es so gut wie ausgeschlossen, dass eine entsprechende Nachricht nicht in unsere Überlieferung gelangt wäre, wenn die Verantwortlichen einschließlich Chrysogonus zur Verantwortung gezogen worden wären. Es war der Fluch der Proskriptionen, dass weder an ihren Ergebnissen noch an ihrem Missbrauch gerüttelt werden durfte.
Und dennoch: Cicero hatte nicht nur einen Freispruch erzielt, er hatte auch mit seinem glänzenden Plädoyer den Missbrauch der Macht und die im Schutz der sullanischen Restauration begangenen Verbrechen beim Namen genannt. Die Rede brachte dem jungen Redner den endgültigen Durchbruch zu Ansehen und Erfolg: „Und so brachte der erste von mir in einem Strafrechtsprozess vertretene Fall, der für Sextus Roscius, ein solches Maß an Empfehlung, dass es keinen anderen künftig mehr gab, der nicht einer Vertretung durch mich für würdig gehalten wurde. Danach gab es in der Folge viele Prozessreden von mir, die wir sorgfältig ausgearbeitet und sozusagen beim Schein der Lampe zu Papier gebracht für Plädoyers benutzten“, so hat er selbst im Rückblick seinen Erfolg beschrieben.23 Zwei der Reden, die er unmittelbar nach seinem Erfolg in der Sache des Sextus Roscius hielt, hat er selbst erwähnt. Er vertrat eine Dame aus Arretium in einem Freiheits- und Bürgerrechtsprozess, dessen Hintergrund die von Sulla über die Stadt verhängten Strafmaßnahmen, unter anderem der Entzug des römischen Bürgerrechts, bildeten.24 Er hatte wiederum Erfolg, und dieser Erfolg war umso bemerkenswerter, als er ihn gegen einen einflussreichen und befähigten Redner der Gegenseite errungen hatte: gegen Gaius Aurelius Cotta, der wenige Jahre später, 75 v. Chr., Konsul wurde. Weiterhin erwähnt er einen Privatprozess, in dem er zusammen mit Aurelius Cotta gegen Gaius Scribonius Curio, der im Jahre 76 den Konsulat bekleidete, die Sache einer Dame namens Titinia vertrat.25 Die Männer, gegen die oder mit denen er vor Gericht sprach, gehörten den oberen Rängen der Senatsaristokratie an, sie standen in der gesellschaftlichen Hierarchie höher als er, aber als Redner konnte er es mit ihnen allemal aufnehmen. Freilich hatte er nicht immer Erfolg. In einem komplizierten Mordprozess des Jahres 80/79 versuchte er vergeblich, für den Angeklagten Lucius Varenus einen Freispruch zu erreichen, Der Ankläger Gaius Ancharius aus dem umbrischen Fulginiae beschuldigte Varenus des Mordes an einem Verwandten und an einem gewissen Salarius sowie des Mordversuchs an einem weiteren Verwandten. Der Fall erinnert in gewisser Weise an das Mordkomplott, dem der ältere Sextus Roscius zum Opfer gefallen war, und ist vor dem Hintergrund einer durch Bürgerkrieg und Proskriptionen enthemmten Gewaltbereitschaft zu sehen. Cicero wollte offenbar den Spieß umdrehen und dem Ankläger mit seiner Sklavenschar die Morde zuschreiben, aber das gelang nicht. Lucius Varenus wurde verurteilt.26
Cicero überarbeitete sich und brach zusammen Er selbst hat beschrieben, dass seine leidenschaftliche und überschwängliche Sprechweise seine Stimmkraft und seine Konstitution überforderte und er – man denke sich die Arbeitslast und die Aufregungen des Prozesskampfes hinzu – in Lebensgefahr zu geraten schien. Dies war nach seinen Angaben der Grund, warum er sich im Jahre 79 auf eine ausgedehnte Bildungsreise in den griechischen Osten begab, um von berühmten Lehrern zu lernen und sich eine weniger anstrengende Sprechweise anzueignen.27 Man wird hinzufügen dürfen, dass es auch um Erholung und Kräftigung seiner noch wenig gefestigten Konstitution ging. Dieser von Cicero selbst stammenden Begründung hat sein Biograph Plutarch widersprochen und den Rückzug aus Rom der Furcht vor Sulla, den er mit seinen Enthüllungen gereizt habe, zugeschrieben.28 Aber als Cicero aus Rom abreiste, hatte sich Sulla bereits nach Kampanien auf sein Altenteil zurückgezogen, und ohnehin pflegte er sich nicht um Dinge zu kümmern, die er als Lappalien betrachtete.
Cicero reiste nicht allein. Ihn begleiteten Marcus Pupius Piso, sein Bruder Quintus, sein Vetter Lucius Cicero, und spätestens in Athen stieß sein Jugendfreund Titus Pomponius Atticus zu der Reisegesellschaft. Sie alle kannten sich schon von der gemeinsamen Studienzeit in Rom her und wollten sie nun in Griechenland fortsetzen. Cicero erwähnt, dass auf der Reise Metapont am Golf von Tarent berührt wurde und er das Haus, das sie gastlich aufnehmen sollte, erst betrat, nachdem er die Wohn- und Lehrstätte besucht hatte, wo Pythagoras seine letzten Lebensjahre verbracht hatte.29 Von Ciceros Sensibilität beim Aufspüren und Beschreiben historischer Erinnerungsstätten wird noch wiederholt die Rede sein. In Athen, dem ersten Ziel in Griechenland, waren Cicero und seine Begleiter nicht die einzigen Römer. In der Stadt traf sich die Jugend aus aller Welt zum Studium. In einem Ehrendekret, das etwas älter ist als Ciceros Aufenthalt in Athen, wird ein prominenter Bürger aus dem kleinasiatischen Kolophon namens Menippos unter anderem wie folgt belobigt: „Er blieb [in Athen] und besuchte den Unterricht bei den besten Lehrern. Nach seiner Rückkehr von den Studien verhielt er sich als erwachsener Mann so, wie es dem soeben Gesagten von Jugend auf entsprach. Er war als Gesandter tätig, riet das Beste [in den Versammlungen des Rates und des Volkes] und war in seiner Ehrliebe von keinem anderen Bürger zu übertreffen.“30 Und in einem weiteren Ehrendekret aus Klaros heißt es von einem Polemaios: „Da er nicht nur die Auszeichnung, die aus körperlicher Leistungsfähigkeit für seine eigene Person und für die Vaterstadt hervorgeht [gemeint sind Siege in sportlichen Wettkämpfen], für gut und schön erachtete, sondern auch die, welche der Leitung [des Staates] und der Fürsorge für das Gemeinwohl entspringt, begab er sich in die Stadt der Rhodier und studierte dort bei den besten Lehrern.“31 Athen und Rhodos waren die bevorzugten Stätten des Lehrens und Lernens, sozusagen das Oxford und Cambridge der damaligen Welt, und worum es dabei aus dem Blickwinkel der politischen Klasse in Griechenland und Rom ging, war die Vorbereitung auf eine führende politische Rolle. Die Elite der römischen Jugend folgte der griechischen des Ostens. Wie stark sie bei einer späteren Gelegenheit in Athen präsent war, wird daraus deutlich, dass der Caesarmörder Marcus Brutus im Winter 44/43 aus der in Athen studierenden römischen Jugend das Offizierskorps der von ihm aufgestellten Armee rekrutieren konnte, unter anderem den Sohn Ciceros und Horaz, den Sohn eines zu Geld gekommenen Freigelassenen, der später einer der großen Dichter der augusteischen Zeit werden sollte.32 Doch zurück zu Cicero im Jahre 79. Auch in Athen lernte er bei einem Lehrer der Rhetorik, dem aus Syrien stammenden Demetrios, aber wichtiger war ihm in der Stadt Platons das Studium der Philosophie. Er besuchte zusammen mit seinen Freunden und Verwandten die philosophischen Vorlesungen, die im Gymnasion Ptolemaion nahe der Agora gehalten wurden.33 Damit schloss man sich dem Brauch an, der in Athen von Staats wegen anerkannt und für die Jugend des exklusiven Ephebenkorps vorgeschrieben worden war. In einem athenischen Dekret wurde der Ephebenjahrgang 123/122 unter anderem dafür belobigt, dass er den vorgeschriebenen Unterricht bei den Philosophen am Gymnasion Ptolemaion besucht hatte.34 Einem Cicero konnte man und brauchte man keine entsprechenden Vorschriften zu machen. Der Philosophie galt in Athen sein Hauptinteresse, und in welchem Stand er die Schule Platons antraf, ist Gegenstand eines Gesprächs, mit dem er in einem seiner späteren Dialoge die Atmosphäre des Studienaufenthaltes im Athen des Jahres 79 wieder aufleben lässt. Dieses Gespräch, an dem er selbst und seine römischen Begleiter teilnehmen, nimmt seinen Ausgang von den Orten der Stadt, an die sich die Erinnerung an ihre großen Männer heftet, den Kolonoshügel und den Tragödiendichter Sophokles, den Garten Epikurs, den Staatsfriedhof des Kerameikos und Perikles’ Grab, an den Strand von Phaleron und Demosthenes, der dort seine Stimme geübt hatte, indem er gegen die Meeresbrandung anredete, schließlich die Akademie und ihre Philosophen. „Wohin wir unseren Fuß setzen: Überall treten wir auf ein Stück Geschichte“, lässt Cicero seinen Vetter Lucius sagen. Ziel der Wanderung ist die Akademie, und sie ist auch das Ziel des Gesprächs, genauer: der Zustand, in dem sich die Schule Platons befand, nachdem Antiochos von Askalon, der bedeutendste Schüler des Philon von Larisa, sich gegen seinen Lehrer und die von diesem vertretene kritische Methode des Karneades gewandt hatte. In Anknüpfung an den späten Platon und seine Schüler vertrat Antiochos in Ethik und Erkenntnistheorie dogmatische Positionen und erklärte dabei die Differenzen zwischen Stoa und Peripatos zu bloß terminologischen Differenzen.35 Cicero war in Rom zum Anhänger Philons geworden, nun sah er sich in Athen durch Antiochos herausgefordert, und er ging der Herausforderung nicht aus dem Wege: „Als ich nach Athen gekommen war“, sagt er im Brutus, „habe ich sechs Monate bei Antiochos, dem hochberühmten und höchst kenntnisreichen Philosophen der Alten Akademie [sic] gehört und das Studium der Philosophie, das ich nie aufgegeben und von Jugend auf immer betrieben und erweitert hatte, unter Leitung dieses bedeutenden Lehrers erneuert.“36 Was sollte nun gelten: die von Philon vertretene Philosophie der Neuen Akademie oder die vorgeblich Alte des Antiochos? Was Cicero in dem betreffenden Gespräch seinen Vetter sagen lässt, wird auch für ihn gegolten haben: „Tatsächlich besuche ich die Vorlesungen des Antiochos, aber hast Du gehört, was gerade über Karneades gesagt worden ist? In seine Richtung zieht es mich, Antiochos aber ruft mich zurück, und sonst ist keiner da, auf den ich hören möchte.“37 Cicero selbst blieb im Prinzip seinem ersten Lehrer, Philon, treu, aber er verdankte Antiochos doch neben der Verunsicherung eine Vertiefung und Verbreiterung seiner philosophischen Bildung, ohne die das philosophische Spätwerk in der Zeit der Alleinherrschaft Caesars so leicht wohl nicht zustande gekommen wäre.
Den größten Teil der insgesamt zweijährigen Bildungsreise verbrachte Cicero jedoch nicht in Athen. Er bereiste die Städte Kleinasiens, wo er die damals berühmten Rhetoriklehrer aufsuchte, um bei ihnen zu lernen. Auf der gesamten Reise scheint ihn der aus Knidos stammende Aischylos als Privatlehrer und Instrukteur begleitet zu haben. Großen Eindruck machte auf ihn Menippos aus Stratonikeia, und Cicero hat ihn später, als er seine Bildungsreise im Brutus beschrieb, von dem gegen Rhetoren aus Kleinasien erhobenen Vorwurf in Schutz genommen, sie lehrten einen gekünstelten, aufgeblasenen Redestil: „Und wenn nichts Gekünsteltes und Läppisches an sich zu haben Kennzeichen attischer [Redner] ist, dann kann man diesen Redner jenen zurechnen.“38 Cicero hörte noch bei anderen, bei Dionysios von Magnesia und Xenokles von Adramyttion, der die Provinz Asia vor dem Senat in Rom gegen den Vorwurf der Parteinahme für Mithradates VI. verteidigt hatte.39 Auf Ciceros Besuchsprogramm in Smyrna stand auch ein berühmter Römer, der dort in Verbannung lebte: Publius Rutilius Rufus, Konsul des Jahres 105, war im Jahre 92 von parteiischen Richtern aus dem Ritterstand wegen Erpressung der Provinzialen verurteilt worden, obwohl oder besser: weil er in der Provinz Asia als Legat des jüngeren Mucius Scaevola den erpresserischen Methoden der ritterlichen Steuerpächter entgegengetreten war. Cicero erzählte wohl von seinen rhetorischen Studien, und Rutilius Rufus wusste aus seiner Jugend einen berühmten Fall des Jahres 138 beizusteuern: Der ältere Mucius Scaevola vermochte mit all seiner akkuraten Sachlichkeit die Konsuln und ihre Berater nicht von der Schuldlosigkeit der angeklagten Staatspächter zu überzeugen, während der zuletzt über Nacht mit der Vertretung ihrer Sache beauftragte Servius Sulpicius Galba mit seiner Fähigkeit, den entscheidenden Gesichtspunkt zu treffen, und mit seiner leidenschaftlichen Redeweise auf der Stelle den Prozess gewann. Das war Wasser auf Ciceros Mühlen, und er hat es nicht verschmäht, diese Anekdote zur Bekräftigung seiner Auffassung mitzuteilen, dass die Wirkung auf die Zuhörer den großen Redner ausmacht.40
Die letzte Station Ciceros war Rhodos, das unter den Stätten höherer Bildung fast den gleichen Rang wie Athen einnahm und ebenfalls römische Studenten in großer Zahl anzog. Ausgeprägter als in Athen war hier das Nebeneinander von gelehrter Philologie, Wissenschaft, Rhetorik und Philosophie.41 Die beiden letztgenannten Disziplinen standen wie auch anderenorts im Spannungsverhältnis heftiger Konkurrenz. Als der ältere Quintus Mucius Scaevola, bei dem Cicero sich mit dem römischen Privatrecht vertraut zu machen begann, im Jahre 121 Rhodos besuchte, bekam er von dem damals berühmten Redner Apollonios Malakos zu hören, dass alles verkehrt sei, was er in Athen bei dem Stoiker Panaitios gehört habe, und die Philosophie keineswegs den Anspruch erheben dürfe, die umfassende Leit- und Orientierungswissenschaft zu sein.42 Die Philosophen drehten den Spieß natürlich um. Als Pompeius im Jahre 66 den berühmten Stoiker Poseidonios besuchte, hielt dieser ihm einen Vortrag und bestritt darin den Anspruch des Rhetors Hermagoras, des Erfinders der Stasislehre, nicht nur praktische Redekunst zu lehren, sondern auch zur Behandlung allgemeiner Themen anzuleiten.43 Der Philosoph sah in diesem Anspruch eine unzulässige Grenzüberschreitung auf das Gebiet seiner eigenen Zuständigkeit. Diese wurde von Poseidonios denkbar weit gefasst. Er unternahm es, alle Wissensgebiete in sein philosophisches System zu integrieren, und selbst auf die Geschichte wandte er seine psychologische Ursachenforschung an, wie er sie umgekehrt zusammen mit der Ethnologie als empirische Basis seiner Psychologie ansah.44 Cicero lernte diesen bedeutendsten Kopf unter den damaligen Philosophen persönlich kennen, und er hat ihn später, freilich vergebens, gebeten, der Historiker seines Konsulats zu werden. Ein entscheidendes Bildungserlebnis wurde für Cicero, dass er in Athen und in Rhodos mit den neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet der Philosophie in Berührung kam: in Athen mit der Renaissance der Philosophie der älteren Platonschüler, insbesondere des Aristoteles, dessen Lehrschriften der Rhodier Adronikos dann in Rom neu herausgab und kommentierte, und in Rhodos mit der universalen Gelehrsamkeit des Stoikers Poseidonios, der die modifizierte Lehre seiner Schule zum Mittelpunkt aller Wissenschaften zu machen im Begriff war. Nirgends wird der damals neu erhobene Anspruch der Philosophie so klar zum Ausdruck gebracht wie in dem Gespräch beim Spaziergang zur Akademie, mit dem Cicero im Jahre 45 seine Darstellung der Bestimmung des höchsten Gutes durch Antiochos von Askalon, seinen Lehrer in Athen, einleitet. Darin richtet Pupius Piso an Ciceros Vetter Lucius den Appell, sich vom Skeptizismus der Neuen Akademie abzuwenden und Antiochos’ Wendung zum Peripatos zu folgen: „Diesen Philosophen wende Dich zu. Aus ihren Büchern und Veranstaltungen leitet sich alle allgemeine Bildung her, alles geschichtliche Wissen, jede Form eleganter Rede. Vor allem aber ist die Vielfalt ihrer wissenschaftlichen Methoden so groß, dass niemand ohne diese Mittel irgendeine bedeutendere Aufgabe hinreichend gerüstet in Angriff nehmen kann. Von ihnen sind Feldherren und Staatsmänner ausgegangen. Und um von Geringerem zu sprechen: Astronomen, Dichter, Musiker und Ärzte sind aus dieser Werkstätte aller Wissensdisziplinen hervorgegangen.“45 Diese Rangordnung der Berufe entspricht dem Werturteil Ciceros und, so wird man hinzufügen dürfen, der politischen Elite Roms, soweit sie sich auf das Konzept einer philosophischen Bildung als Grundlage öffentlichen Wirkens einließ.
Über der Philosophie vergaß Cicero auch in Rhodos nicht die Rhetorik, die Ausbildung zur öffentlichen Rede. Zusammen mit Servius Sulpicius Rufus, der später der bedeutendste Jurist seiner Zeit werden sollte, nahm Cicero das Studium bei Apollonios Molon wieder auf, das er bereits anlässlich der beiden Gesandtschaftsreisen dieses berühmten Rhetors nach Rom begonnen hatte.46 Er stand nun, im Jahre 77, in seinem dreißigsten Lebensjahr. Es wurde Zeit, nach Rom zurückzukehren und den Eintritt in die Ämterlaufbahn vorzubereiten, um sich – das Ziel seines Ehrgeizes – Eintritt in die regierende Klasse Roms zu verschaffen. Dem Studium bei Apollonios Molon schrieb er es später in erster Linie zu, dass er von der übermäßigen Verwendung der rhetorischen Ausdrucksmittel abkam und seine Stimmkraft angemessener und mit größerer Schonung einzusetzen lernte. In der Darstellung seines Bildungsgangs schrieb er später: „So kehrte ich nach zwei Jahren nicht nur geübter, sondern beinahe verwandelt zurück. Denn die übergroße Anstrengung meiner Stimme hatte sich gelegt, und meine Redeweise hatte sich gewissermaßen abgeklärt, meiner Lunge war Kraft und meinem Körper eine bessere Konstitution zugewachsen.“47