Читать книгу Gehen, um zu bleiben - Klaus Muller - Страница 7

Die Krise kommt näher

Оглавление

Im Dezember 1981 stellte der Präsident der Volksrepublik Polen sein Land unter Kriegsrecht. Man vermutete, dass er zu dieser Maßnahme gegriffen hatte, um die Sowjetunion von einem militärischen Eingreifen in seinem Land abzuhalten, was zweifellos zu einem blutigen Krieg mitten in Europa geführt hätte.

Unglücklicherweise befand sich Bundeskanzler Schmidt zu diesem Zeitpunkt gerade bei Erich Honecker in dessen Gästehaus in der Schorfheide zu Besuch. Er konnte aber auch nicht so einfach aus Protest abreisen, wollte ja noch in Güstrow die Barlach-Gedenkstätte besuchen und auf der Orgel im Dom der Stadt dem Orgelspiel frönen. Vor allem aber wollte er die weltpolitische Situation nicht noch weiter aufheizen, die durch den Nachrüstungsbeschluss, der ja auf Schmidts Initiative zurückging, einen weiteren Höhepunkt erreicht hatte.

Dann war er aber doch in Güstrow, das keine dreißig Minuten Fahrzeit mit dem Bummelzug von Rostock entfernt liegt. Ich bin eigentlich kein Jubler, äußere meine Zustimmung zu politischen Dingen eher im privaten Kreis; dem geachteten deutschen Kanzler Schmidt wollte ich aber doch durch Anwesenheit meine Reverenz erweisen. Es fuhren an diesem Tag jedoch keine Züge nach Güstrow. Wer nach Waren oder nach Berlin löste, dem wurde gesagt, dass der Zug nicht in Güstrow hält. Wer aber glaubte, pfiffig zu sein und nach Karow oder nach Plau lösen wollte, der wurde auf den Schienenersatzverkehr verwiesen, der natürlich im weiten Bogen um Güstrow herumfuhr. Wem es aber doch gelungen war, seine Person in die Stadt hineinzuschmuggeln oder wer darin wohnte, der hatte weitere Hindernisse zu gewärtigen. Das deutsche Fernsehen hat nach der Wende mehrere eindrucksvolle Sendungen gebracht, die jene Schande besser dokumentiert haben, als es meine Zeilen jemals tun können.

Für alle Welt sichtbar, hatte die Sowjetunion durch Nach-Nachrüstung, Afghanistan-Invasion und polnische Solidarność-Bewegung gewaltige Probleme, zu Beginn der 80er Jahre kam ein weiteres Problem hinzu. In den baltischen, belorussischen und zentralrussischen Kartoffelanbaugebieten der Sowjetunion gab es eine schreckliche Missernte, die mit der Kartoffelfäule in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts in Irland vergleichbar war. Die DDR-Landwirtschaft musste in die Bresche springen. Bereits im Sommer 1981 bemerkte ich, wie man an der Küste bei Lubmin Kliffhäfen in den Bodden hineinbaute. Nun konnten die flachgehenden sowjetischen Wolgabaltschiffe, die für die Ostsee genauso wie für die großen russischen Flüsse gedacht waren, große Mengen Kartoffeln gleich vom LKW in die Laderäume kippen lassen. Bis zur Mitte der 80er Jahre habe ich diese Kartoffelexport-Praxis auch in den östlichen Hafenstädten der DDR beobachten können.

Die DDR war vom zehntgrößten Industrieland der Welt zum Lebensmittellieferanten geworden, denn auch Fleisch (Jungrinder nach Westen und Schweine nach Osten) wurde fleißig exportiert. Hafenarbeiter witzelten: „Demnächst kommen die Russen mit dem Tanker und holen sich die Soße, damit sie die Kartoffeln und das Fleisch einditschen können.“ Andere waren aber weniger pessimistisch, sagten: „Jetzt wird’s ja bald besser, auch in der DDR. Wir haben doch einen Handelsvertrag mit der Insel Dari!“ Wer nun zurückfragte, wo die Insel Dari denn gelegen sei, bekam zur Antwort: „In der Inselgruppe zwischen Soli und Tät.“

In dieser Situation brach im Frühjahr 1982 in den Nordbezirken der DDR die Maul- und Klauenseuche aus. Nach einigen Wochen machte sich in der gesamten DDR ein deutlicher Fleischmangel bemerkbar.

Zu dieser Zeit lief in den Kinos der DDR die überwältigende englische Verfilmung von Swifts „Gullivers Reisen“. Darin kommt eine Szene vor, in der es um Querelen der Liliputaner mit den Bewohnern der Nachbarinsel geht. Gulliver schlichtet hier den Streit, ob man das Ei oben oder unten aufschlagen sollte, indem er den Streithähnen empfiehlt, doch aus den Eiern einfach Omelette, verlorene Eier, Spiegeleier, Rührei, Senfei oder Hoppelpoppel zu machen. Diesen Hinweis befolgten die Gaststättenleiter in den Gaststätten der DDR. Es gab fast nur noch Eiergerichte oder Broiler dort, aber trotz der Solidarität mit den darbenden Sowjetmenschen keinen Lebensmittelmangel in der DDR.

Das Lebensmittelüberangebot im Westen, das durch das Westfernsehen in die Wohnzimmer der DDR-Bürger zumindest visuell gelangte, wurde von den Leuten lange Zeit als Propaganda angesehen, man log nun mal im Fernsehen. Westwerbung galt als Westpropaganda, und sozialistische Produktionserfolge waren die Ostpropaganda. Erst als die größere Zahl von Verwandtenbesuchen im Westen möglich wurde und auch normale Menschen berichteten, dass es im Westen tatsächlich ein überquellendes Kaufangebot gab, und das in für jeden zugänglichen Geschäften, kippte diese Meinung etwas.

Gehen, um zu bleiben

Подняться наверх