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Eine Nachlässigkeit bringt große Gefahr

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Noch vor dem Beginn von Penelopes Jahresurlaub war die Wartezeit für meinen PKW Škoda 105 (Nachfolger des MP 1000, den die Tschechen mit „1.000 kleine Fehler“ übersetzen) vorüber, nach elfjähriger Wartezeit konnte ich den Wagen in der DHZ-Zentrale auf der Dresdener Bremer Straße abholen. Das bescheidene Gefährt kostete 16.800 Mark, verbrauchte auf 100 Kilometer nur 6,5 bis 9 Liter Normalbenzin und besaß einen Heckmotor.

Unglaublicherweise gelang es mir damals, meinen ruinösen, von Rostlöchern zerfressenen, aber noch immer fahrbereiten „Moskwitsch“ für 2.200 Mark zu veräußern. Mit dem neuen Škoda gedachte ich nun, meine liebe Gefährtin Penelope durch die peripheren Gebiete unseres wunderschönen „Käfigs“ zu karren.

Mitte Oktober begann die Urlaubsreise. Ich wollte den Käfig möglichst dicht an der Staatsgrenze zur BRD entlang abfahren, ohne allerdings die strengen Bestimmungen, die dort herrschten, zu verletzen. Ich steuerte den neuen PKW also bei Salzwedel und bei Ilsenburg so nahe an die Grenze heran, bis Schilder am Straßenrand darauf hinwiesen, dass die Weiterfahrt nur mit Sondergenehmigung erlaubt sei.

Südlich des Harzes machten wir in Sondershausen Zwischenstation, einem gediegenen Residenzstädtchen mit völlig verrotteter Bausubstanz. Während Penelope in den leeren Geschäften des Ortes nach Brauchbarem Ausschau hielt, begab ich mich in ein hübsches kleines Kaffeehaus am Markt. Das Lokal gab einen wunderschönen Blick auf das Städtchen frei und hatte eine charmante Bedienung. Ich musste daran denken, dass der Tag unseres Aufenthaltes hier zugleich der Tag war, an dem im Bundestag das konstruktive Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Helmut Schmidt abgehalten werden sollte. Ich fragte deshalb die Kellnerin: „Haben Sie schon gehört, wie es im Bundestag ausgegangen ist?“ Da traten der Frau Tränen in die Augen, und sie sagte: „Der Andere hat gewonnen!“

Um sich nicht vor mir, dem fremden Gast, die Tränen aus dem Gesicht wischen zu müssen, zog sie sich wortlos in den Hinterraum des Cafés zurück. Ich musste zwar nicht weinen, war aber genauso traurig, dass der große Hoffnungsträger Schmidt aus dem Bundeskanzleramt scheiden musste.

Am nächsten Tag ging es weiter an der „Zonengrenze“ entlang, Treffurt, Vacha und Römhild blieben für uns verbotene Ortschaften. Im „Kunstführer durch die DDR“ (Urania Verlag, 4. Auflage 1973) wurde das Schloss Heldburg gepriesen, es lag jedoch in einem südlichen Zipfel der DDR, wo die Fünf-Kilometer-Sperrzone wenig Platz für Besucher ließ. Dort wollte ich aber mit meiner verängstigten Begleiterin natürlich hin. Und hier geriet ich, trotz großer Vorsicht, doch in das Sperrgebiet hinein. Ein hämisch-freundlicher Mensch, den ich nach dem Schloss Heldburg fragte, teilte mir mit, dass der gesamte Zipfel bis Heldburg Sperrgebiet sei und wir schleunigst umkehren sollten. Ich sah noch, wie er mein Kfz-Kennzeichen notierte, als ich mich wieder entfernte.

Weiter ging die Fahrt nach Sonneberg, wo wir ein Hotelzimmer bestellt hatten. Man muss wissen oder sich wieder in Erinnerung rufen, dass alle Kleinstädte im Fünf-Kilometer-Bereich zur Grenze, wie etwa Dassow, Zarrentin, Ilsenburg, Ellrich, Treffurt, Vacha und jenes Heldburg bis zum Ende der DDR nur mit Sondergenehmigung zu betreten waren. So ging es nach dem Mauerbau in den 60er und den frühen 70er Jahren auch der Mittelstadt Sonneberg mit ihren 28.000 Einwohnern. In der Stadt führte diese Situation natürlich zu gewaltigen wirtschaftlichen Nachteilen, so dass die SED-Machthaber nach einiger Zeit Sonneberg wieder aus dem Sperrgebietsstatus lösten, weshalb wir nun auch offiziell wieder die Stadt besuchen durften.

Auf der Straße von Hildburghausen nach Sonneberg sahen wir dann auf der rechten Seite erstmalig die Grenzsicherungsanlagen der DDR vom eigenen Land aus, sonst konnten wir sie nur im Westfernsehen von außerhalb betrachten. In Sonneberg, das zwar offiziell jedermann in der DDR zugänglich war, herrschte aber eine regelrechte Grenzsicherungsstimmung, man spürte das überall.

Nachdem wir unser Hotel bezogen hatten, es war gegen Mitternacht und wir hatten schon einige Zeit geschlafen, donnerte es gewaltig gegen die Zimmertür. Nachdem ich, im Pyjama, die Tür geöffnet hatte, brach eine waffenstarrende Grenzpatrouille, ein Offizier und zwei Mann in Stahlhelm und Munitionstaschen mit Kalaschnikows, in unser Zimmer ein. Der Offizier verlangte harsch Personaldokumente und die Fahrzeugpapiere. Der Anführer der Patrouille beanstandete, wir hätten beide eine Rostocker Adresse angegeben, der PKW hingegen habe ein Dresdener Kennzeichen.

„Können Sie diesen Widerspruch erklären?“, lautete die törichte Frage. Ich hatte also gegen keinerlei Bestimmungen dieses perversen Polizeistaates verstoßen, war ein völlig loyaler und legaler Untertan, konnte mir eine kesse Antwort leisten.

„Ich habe den PKW kürzlich von der DHZ Dresden, nach elf Jahren Wartezeit, erworben und gleich dort angemeldet. Das steht doch alles in meinen Dokumenten, die ich der Hotelrezeption vorgelegt habe. Und deshalb brechen Sie in kriegsmäßiger Ausrüstung in unser Schlafzimmer ein, lärmen uns aus dem Schlaf und verängstigen meine Frau!“, brüllte ich den Offizier an, war ja nun auch echt zornig.

Mit meiner verbalen Attacke habe ich aber einen schweren Fehler begangen, den man sich in einem Polizeistaat besser verkneifen sollte. Ich war jedoch kaum noch zu bremsen, nannte das Verhalten der Patrouille polizeistaatlich. Den schwerbewaffneten Kerlen standen nun Wut und Hass im Gesicht. Wegen der Zeugen im Raum, der verängstigten Penelope, auch die Concierge des Hotels war mit im Zimmer, hielt sich die Truppe aber mit Gewalttätigkeiten zurück. Die Typen verließen nach einigen Minuten bösen Blickes den Raum, drohten nur noch, ich würde schon sehen, was ich von meiner Undiszipliniertheit hätte.

Am nächsten Tag war Penelope kaum noch in der Stadt zu halten, zumal es in Sonneberg ja auch wenig interessante Sehenswürdigkeiten gab. Um dem Besuch in diesem Nest wenigstens noch einen kleinen Sinn zu geben, gingen wir dann aber doch noch ins dortige Spielzeugmuseum, das tatsächlich eine beeindruckende Einrichtung der Volkskunst ist.

Ganz gegen ihre sonstigen Interessen an der Volkskunst war Penelope unruhig und wollte nur noch weg aus der Stadt. Was hatte mich überhaupt dorthin gezogen? Es war wohl wieder nur die Insassenmentalität bei mir, ich wollte die Grenzen des Käfigs austesten, obwohl ich nie in Erwägung gezogen hatte, mich an der mörderischen Landesgrenze zu versuchen.

Wieder in Dresden, besuchten wir beide das Albertinum, wo damals gerade die Kunstausstellung der DDR mit einigen durchaus bedeutenden Werken stattfand. Ich erinnere mich noch eines beeindruckenden Ganzkörperporträts eines jungen Kohlenträgers, der den gesamten Oberkörper voller Knasttätowierungen hatte und der, unter seinem Kohlensack, selbstbewusst aus dem Bild blickte. In diesem Repräsentationsbau waren aber auch die „Neuen Meister“ (Gemälde des 19. und frühen 20. Jahrhunderts) der Dresdener Gemäldegalerie untergebracht, besonders die Romantiker der Dresdener Schule, die mich bereits als Kind tief beeindruckt hatten, als sie noch im Schloss Pillnitz ausgestellt waren.

Romantiker heißt ja „Romfahrer“ – genau das, was ich auch werden wollte. Einer ihrer wichtigsten Vertreter, Ludwig Richter, ist hier mit seinem Monumentalgemälde „Überfahrt am Schreckenstein“ vertreten. Eine Gruppe, drei Generationen und ein Wandergeselle, überqueren in einem Fährkahn die Elbe bei Aussig, über ihnen im Hintergrund ist die Burg Schreckenstein zu sehen, wie ich sie nun auch oft schon vom Zugfester aus gesehen hatte, auf dem Weg nach Prag. Ich war aber noch nie oben auf der Burg. Nun wollte ich das nachholen und schlug Penelope vor, mit mir diesen Kurztrip zu machen, sie hatte ja noch einige Tage Urlaub. Penelope wies diesen meinen Vorschlag aber mit Nachdruck zurück, sie wollte auf keinen Fall noch einmal mit dem DDR-Grenzsystem zu tun haben, auch wenn es nur in die sozialistische ČSSR ging.

Wir kamen überein, dass Penelope mit dem Škoda zurück nach Rostock fahren sollte und ich meinen Schreckenstein-Trip allein durchführen würde, um dann einige Tage später mit der Eisenbahn nach Hause zu kommen.

Als sich Penelope mit dem neuen Auto in Richtung Norden entfernt hatte, beging ich einen zweiten Denkfehler in diesem Herbsturlaub. Schon die eigene Romreise und deren Finanzierung im Hinterkopf, hatte ich in den nächsten Tagen mein sicheres Valutadepot aus seinem unterirdischen Platz geholt, um es dann mit nach Rostock zu bringen. Glücklicherweise ließ ich die Valutasumme, immerhin 4.000 DM in eingewachsten 100-DM-Scheinen, in meiner Reisetasche in der Dresdener Wohnung stehen, als ich mich, mit Reisegeld und Zahnbürste in der Jackentasche, auf den Weg zum Hauptbahnhof machte, um nach Aussig zu fahren.

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