Читать книгу Handymensionen - Kännie Meier - Страница 6

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Das nutzlose Handy

„Aaaaaaah“, singt der Schmalzsänger des englischen Liedes, erklärt mit leidenschaftlichen Worten die wahre Liebe und durchbricht damit meinen Schlaf. Nicht, dass mir das nicht recht wäre! Denn von Coolfränk zu träumen, der mir die Mathearbeit genau mit diesen Worten leidenschaftlich erläutert – bezogen natürlich nicht auf mich, sondern auf die Genialität der gestellten Aufgaben – ist alles, nur nicht die Liebe des Lebens. Doch nachdem ich mühsam die Augen aufgeschlagen habe, höre ich nicht nur den Sänger die nächste Zeile aus dem Herzen sülzen, sondern auch meine Mutter enthusiastisch dazu mitsingen. Das Lied ist an sich in Ordnung, recht gefühlvoll, aber Hanna könnte zur Unterstützung meiner Seelenharmonie auch mal nur das Radio anstellen. Außerdem ist das Lied schon so alt, wie ich finde. Würde sie wenigstens moderne Balladen in der Endlosschleife laufen lassen, wäre mein Leben in der Hinsicht etwas besser.

Ich setze mich auf, fahre mir mit den Händen über die Augen und durch die verstrubbelten Haare, bevor ich gähnend aufstehe und ins Bad wanke. Vor dem Spiegel angekommen, verklingen soeben die letzten Zeilen des Liedes. Dennoch bleibe ich skeptisch, denn gestern war ich prompt darauf hereingefallen.

„Dam, dam, dam“, höre ich da die ersten Klänge, „Life is strange“, singt der Schmusesänger sanft. Endlosschleife. Ich verdrehe die Augen, stimme aber insgeheim mit ihm überein: Das Leben ist tatsächlich manchmal echt seltsam. Mit einer Bürste kämme ich mir die Haare und betrachte mich im Spiegel. Zwar kenne ich mein Spiegelbild seit der Geburt, aber manchmal ist mir, als blickte mir ein fremder Mensch entgegen. Ich erkenne die Haarfarbe, die Augen und die Nase, aber es gelingt mir nicht, mich selbst zu beschreiben. Außer, dass ich gerne zeichne, fällt mir üblicherweise nicht mehr ein, weshalb ich mich bei Selbstbeschreibungen an äußerliche Merkmale halte. Ich habe die langen, künstlerischen Finger meiner Mutter geerbt, die Haar- und Augenfarbe vom Vater und die langen, glatten Haare von wem auch immer. Meine Nase mag ich nicht so sehr und meine Lippen könnten schöner sein. Oft genug beneide ich Mädchen mit vollen Lippen, doch da ich panisch auf Blut und Spritzen reagiere, würde ich niemals etwas daran machen lassen. Abgesehen davon würde Hanna mich enterben, finge ich mit Schönheitsoperationen an. Meine Mutter ist der festen Überzeugung, jeder noch so geformte Körper ließe sich mit liebevollen Gedanken schönschleimen. Als ich vierzehn war, hatte ich mal zaghaft angedacht, eine Diät zur Reduzierung einer Speckrolle zu beginnen. Da hatte ich die Rechnung aber ohne Hanna gemacht, die mir in tagelangen Monologen vorrechnete, wie viel Energie der Körper allein im Ruhezustand benötigte. Also gab ich jeglichen Gedanken an eine verringerte Nahrungsaufnahme auf. Stattdessen schleppte mich der sport- und gesundheitsbewusste Moaz auf eine tägliche Joggingrunde. Nach gut einem Monat gab ich schließlich vor, nun genau meine Lieblingsfigur erreicht zu haben, um wenigstens sonntags wieder ausschlafen zu dürfen.

Nachdem ich geduscht, mir die Zähne geputzt und mich angezogen habe, gehe ich hinunter. Zu meiner Überraschung finde ich Hanna nicht in der Küche vor, sondern im Wohnzimmer beim Fensterputzen. Bestens gelaunt pfeift sie zur Endlosschleife. Ich betrachte sie einen Moment stirnrunzelnd, wende mich der Stereoanlage zu und drehe unauffällig die Lautstärke etwas herunter. Dann geselle ich mich zu Leon in die Küche.

„Morgen, Leon“, sage ich. Statt den Gruß zu erwidern, schlürft er mir essend entgegen.

„Ist Baba wieder nicht da?“, frage ich ihn und befülle ebenfalls eine Schale mit Müsli und Milch.

„Nö“, antwortet Leon bloß. In dem Moment, in dem ich den ersten, vollen Esslöffel zum Mund führe, nimmt er sein Glas Orangensaft und gießt den Inhalt in meine Schale.

„Was soll das denn?“, schnauze ich ihn an, doch er lacht sich nur schlapp.

„Hört auf zu streiten“, höre ich meine Mutter sagen, die soeben das letzte Wohnzimmerfenster blank gewienert hat und stolz ihr Werk betrachtet.

„Musste er unbedingt in diese Familie reinkarnieren?“, frage ich deutlich genervt. Momentan interessiere ich mich für alles, was nur ansatzweise mystisch ist, darunter auch die Wiedergeburt.

Mit dem Putzeimer in der Hand betritt meine Mutter den Küchenbereich. Tief durchatmend entleert sie das Schmutzwasser in der Spüle.

„Vertragt euch. Du kannst dir neues Frühstück nehmen, Suki“, erwidert sie.

„Hätte ich auch ohne Erlaubnis gemacht“, antworte ich, stehe auf, gieße den Inhalt der Schale in die Spüle und entsorge den Rest aus dem Sieb in den Mülleimer. Normalerweise bin ich nicht so übel gelaunt, aber da meine Eltern seit einiger Zeit häufig streiten, fühle ich mich hier nicht mehr so wohl. Ganz im Gegensatz zu Hanna, die extrem gut gelaunt und dauerputzend durch das Haus rennt, seitdem das Thema Scheidung offen geäußert wurde, als habe sie insgeheim darauf gehofft. Moaz hingegen flüchtet lieber und arbeitet länger. Leon zeigt kaum, ob er traurig oder wütend ist und ich hänge hauptsächlich in meinem Zimmer ab. So ist es bei uns.

„Ich fahre zur Schule“, sage ich, nehme eine Banane aus der Obstschale und mache mich auf, das Haus zu verlassen. Ich hole meine Schultasche, ziehe eine Jeansjacke über den Sommerhoodie und rücke die Kapuze zurecht. Danach schlüpfe ich in die Lieblingssneakers, nehme den Rollerhelm von der Garderobe und trete vor die Tür. Mein schwarzer Motorroller, Berta, wartet schon auf mich. Ich habe den Führerschein seit ein paar Monaten und liebe es, selbst zu fahren. Sogar der Schulweg wird dadurch zum Spaß. Ich besitze einen schwarzen Retrohelm mit kleinem Visier, so einen, der halb offen ist, und genieße es, wenn mir der Fahrtwind über das Gesicht streicht. Nur im Winter benutze ich einen geschlossenen Helm, damit meine Nase nicht abfriert.

Klar, mit dem Sommerhelm lächele ich freiwillig nicht, wer will auch schon zahlreiche Fliegen zwischen den Zähnen kleben haben, trotzdem gibt mir der Roller unheimlich viel. Vorbei sind die Zeiten, in denen ich auf den Bus angewiesen war oder noch schlimmer Fahrrad fahren musste. Jawohl, Freiheit ist das Zauberwort. Mir macht es nichts aus, dass Berta schon alt ist. Ich habe dieses Herzstück von Moaz geerbt, er hat sie jahrelang hingebungsvoll gepflegt und sie läuft einwandfrei. Ich glaube an das Schicksal: Am Tag meiner bestandenen Führerscheinprüfung klärte ich Baba darüber auf, dass nicht er Berta damals kaufte, sondern sie ihn; aber nur, weil sie an mich vererbt werden wollte, worüber er lachte und mir mit einem Augenzwinkern feierlich den Schlüssel hinhielt. Allerdings fiel es ihm schwerer, sie an mich abzugeben, als gedacht. Denn obwohl ich beherzt nach dem Schlüssel griff, hielt er diesen fest und ich musste kurz mit ihm darum ringen.

Nun sitze ich auf Berta und wir beide fahren zur Schule. Die Sonne scheint so strahlend, mein Herz hüpft und ich gebe Gas. Vor einer engen Kurve in einer Wohngegend kommt mir auf einmal ein Auto entgegen und schneidet die Fahrbahn, weshalb ich soweit wie möglich nach rechts ausschwenke. Obgleich es sehr schnell geht, erhasche ich trotzdem einen Blick auf den Fahrer: Er lenkt mit einer Hand und blickt nach unten auf die andere Hand, als hielte er dort während des Fahrens ein Handy. Das Auto schießt an mir vorbei. Mir bleibt kaum Zeit, Luft zu holen, als ich auch schon auf ein Auto zuschieße, das unmittelbar nach der Kurve geparkt wurde. Im Reflex bremse ich und reiße den Lenker zur Seite. Nur einen Wimpernschlag später realisiere ich, was passiert ist: Ich habe mich mit Berta hingelegt. Sie liegt röhrend auf der Seite und ich liege mitten auf dem Asphalt. Langsam setze ich mich auf und ziehe den Helm ab. Gedämpfte Motorengeräusche dringen in meine Ohren, die nur wenige Sekunden zuvor aus Schock jegliche Geräusche ausblendeten. Das Vorderrad eines Motorrads hält neben mir. Aufgrund des Sturzes fühle ich mich wie benebelt und starre nur ungläubig darauf.

„Ist dir was passiert?“, höre ich eine Stimme. Auch das noch, denke ich und werfe erst dann einen Blick hoch zum Motorradfahrer. Ich schüttele den Kopf. Ryan steigt vom Motorrad, stellt es ab und zieht den Helm aus. Dann beugt er sich zu mir herunter und hält mir die Hand hin. Einen Augenblick zögere ich, bevor ich sie annehme. Ob er den Unfall brühwarm in der Schule herumerzählen wird?, frage ich mich kurz. Er zieht mich nach oben.

„Hast du dir das Kennzeichen gemerkt?“, will er wissen, geht zu Berta hinüber und schaltet sie aus.

„Nein, ging alles viel zu schnell“, erwidere ich und klopfe mir den Schmutz von der Jeans. Dabei bemerke ich, dass sie durch den Sturz ein Loch abbekommen hat. Ich fluche leise; meine Lieblingsjeans.

„Vielleicht solltest du zum Arzt gehen“, sagt er und betrachtet mich.

„Mir geht es gut, aber Berta hat es erwischt.“ Seine Augenbrauen schießen nach oben. „Wen?“, fragt er.

„Berta“, gebe ich zu, nun kleinlaut, weil er sicherlich nicht der Typ ist, der sein Motorrad Billy oder so nennt. Ich spüre, wie ich rot werde und zeige zu Berta, die seitlich auf dem Boden liegt.

„Berta“, murmelt er. „Soll ich bei ihr erste Hilfe leisten?“, hört er nach und ich frage mich, ob ich da nicht ein Lachen in seiner Stimme entdecke. Blödmann, denke ich, denn ich fühle mich veräppelt.

„Ich mache das schon“, sage ich und gehe zu ihr. Dabei dränge ich ihn etwas zur Seite.

„Wirklich? Ist kein Problem für mich“, setzt er an, aber ich schneide ihm das Wort ab. „Danke für deine Hilfe, aber ich komme klar“, antworte ich knapp. Mir ist diese Situation unsagbar peinlich. Er zögert einen Moment, dann zuckt er mit den Schultern.

„Okay“, sagt er nur, geht zum Motorrad, setzt den Helm auf und steigt auf. „Du bist dem Auto gut ausgewichen“, fügt er hinzu, was aber beinahe im Aufheulen des Motors untergeht, als er die Maschine startet. Ein letztes Mal nickt er mir zu, bevor er davonfährt.

Ich seufze. Ryan ist so ein Junge, der auf seine eigene Art und Weise total gut aussieht. Seine Haare sind dunkelbraun und eigentlich nie gestylt, seine Augen ein Mix aus Braun und Grün. Aber er hängt ausschließlich mit den Coolen und Angesagten in der Schule ab. Und deshalb habe ich es mir schon vor Jahren verboten, auch nur ansatzweise an ihn zu denken. Außerdem gewinnt er, der Leadsänger der Band Jumpers, beinahe täglich weibliche Fans auf Social Media hinzu und wird vom Girl‘s Club aka Mareike nur so belagert. Er ist so beliebt – und ich halt nicht. Ende.

Erneut seufze ich und bücke mich zu Berta hinab, um sie aufzuheben. Da fällt mir etwas unter dem parkenden Auto auf: Ein Handy liegt dort, das Display blinkt unentwegt. Verwundert blicke ich mich um, denn jemand muss es hier verloren haben. Ich krieche näher an das Auto heran, greife nach dem Handy und ziehe es darunter hervor. Es hört auf zu blinken, sobald es in meiner Hand liegt: Das Display ist schwarz. Mit dem Daumen wische ich darüber, woraufhin es aufleuchtet und eine spärliche Oberfläche offenbart: Eine App zum Chatten, die mir überhaupt nicht bekannt vorkommt. Darüber sind verschiedene bunte Tasten auf dem Display. Ich nehme das Handy in die linke Hand und tippe mit dem rechten Zeigefinger auf eine der bunten Farben: Nichts passiert. Es gibt kein Menü, keine Kontaktliste, noch nicht einmal eine Anrufliste, nur die bunten Tasten und die App zum Chatten. Ich tippe auf das dazugehörige Symbol, weshalb sich ein leeres Chatfenster öffnet.

„Wem gehört dieses Handy?“, tippe ich ein und nur einen Atemzug später sehe ich anhand eines kleinen Häkchens in der Ecke, dass die Nachricht gelesen worden ist, obwohl ich keinen Empfänger ausgewählt habe. Denn es gibt niemanden, die Kontaktliste ist nicht da und somit steht dort auch niemand drin.

Erneut tippe ich: „Kannst du mir bitte sagen, wem dieses Handy gehört?“ Wieder wird die Nachricht gelesen. Doch dieses Mal schaltet sich das Handy ab und es verbleibt ein schwarzes Display. Ich wische mit dem Zeigefinger darüber, aber das Gerät scheint hinüber oder der Akku leer zu sein. In der Hektik habe ich nicht auf einen Ladebalken geachtet.

Überhaupt kommt mir das Gerät nicht bekannt vor: Es sieht sehr teuer aus, wurde von einer Person auf der Rückseite mit kleinen, funkelnden Steinchen verziert und es fehlt die Bezeichnung des Herstellers. Ein namenloses Handy ohne jegliche Identität und anscheinend auch Funktion. Ich beschließe, es nach dem Unterricht in einem Fundbüro abzugeben und verstaue es in meiner Tasche. Aufgrund des Unfalls bin ich spät dran. In der ersten Stunde haben wir Mathe und Coolfränk gehört zu den Lehrenden, die Zuspätkommer zwar humorvoll, aber dennoch gnadenlos durch den Kakao ziehen. Meist finde ich das witzig, aber selbst auf der Klassenbühne rot anzulaufen, ist etwas anderes. Ich mag es nicht, im Mittelpunkt zu stehen. Also richte ich Berta schnell auf und streiche liebevoll über die Kratzer, die der Lack abbekommen hat. Dann setze ich mich auf sie, starte und fahre davon.

Auf die letzte Minute haste ich zum Klassenzimmer und überhole Coolfränk, der gemächlich darauf zu schlendert. „Jetzt aber flott, Suki“, feixt er lachend. Ihm zuwinkend, trete ich in den Klassenraum ein und setze mich an meinen Platz.

„Alles okay?“, begrüßt mich Emilia. Nickend bestätige ich: „Ja“, setze ich erläuternd an und hole tief Luft, als sie ergänzt: „Die Girl‘s Club-Kuh hat es schon ausgeplaudert.“

Mit zusammengekniffenen Augenbrauen schaue ich sie fragend an. „Deinen Unfall mit dem Roller. Sie hat es auch schon im Schulchat gepostet.“

Wenig überrascht, lege ich meine Tasche auf den Tisch und hole das Schreibzeug heraus. Mittlerweile hat Coolfränk den Klassenraum betreten und verkündet laut: „Ich habe heute keine Lust auf Mathe. Da die Noten sowieso beschlossen sind, lasse ich mich zur Abwechslung mal von euch unterhalten. Irgendwelche Vorschläge?“ Er knallt lässig seine abgewetzte Ledertasche auf den Tisch und verharrt dann fragend mit in die Seite gestemmten Händen. Sofort schießt Mareikes Arm in die Höhe.

„Ja, Mareike?“, fragt er.

Sie lässt den Arm sinken. „Ich fände es ganz toll, wenn wir über aktuelle Ereignisse sprechen könnten“, verkündet sie selbstbewusst.

Coolfränk zieht nachdenklich die Stirn in Falten, bevor er antwortet: „Schminktipps sind bei mir gänzlich fehl am Platz, auch wenn du glaubst, ich könnte sie gebrauchen.“ Alle lachen auf, inklusive Mareike.

„Nein, ich meinte wichtigere Themen“, stellt sie klar.

„Auch die Bundesregierung hat dafür keine Verwendung.“ Wieder hat er die Lacher auf seiner Seite. Er setzt sich mit einer Pobacke auf das Lehrendenpult.

„Ich finde, wir sollten über Verursacher von Verkehrsunfällen reden“, verkündet Mareike und mir rutscht das Herz in die Hose. Darauf will sie also hinaus.

„Warum das denn? Wer hat denn einen Unfall verursacht?“, fragt Coolfränk und schaut sich verwirrt in der Klasse um. Meine Klassenkameraden kichern vereinzelt. Ich wappne mich innerlich für das, was jetzt kommt. Niemand antwortet ihm.

„Suki“, höre ich von hinten. Mareikes Ton ist sorgenvoll, doch zweifellos grinst sie innerlich und genießt ihren Auftritt. Sie sieht aus wie ein Engel: Hellblondes gelocktes Haar, das den Rücken hinunterfließt; grüne Katzenaugen. „Willst du darüber reden?“, fragt sie mit unschuldigem Unterton in meine Richtung, dennoch sehe ich die Teufelshörner auf ihrer Stirn wachsen. Ihre Club-Girls kichern. Neben mir prustet Emilia empört. Ich schweige und hoffe, dass sie aufhört, wenn sie kein verbales Gegenfutter erhält, doch Mareike denkt gar nicht daran.

„Stehe doch einfach dazu. Rede es dir von der Seele“, äußert sie und verkneift sich kaum das Lachen.

„Halt die Klappe“, fährt Emilia zu ihr herum, woraufhin sie und ihre Freundinnen theatralisch-geschockt die Münder aufreißen und die Gesichter verziehen.

Bevor Mareike zurückschießen kann, funkt Coolfränk dazwischen: „Gut, dann haben wir das Thema auch schon ausdiskutiert. Irgendwelche anderen Vorschläge zum Zeitvertreib? Nein, nicht von dir, Mareike.“ Nach und nach werden Vorschläge in den Raum geworfen. Ich gebe vor, mir wären ihre Sticheleien egal, als bliebe ich lässig, doch tief in meiner Seele bin ich zu schüchtern, um mich zu wehren. Oftmals schon habe ich mir gewünscht, selbstbewusst zu kontern, ihr die Worte ohne Anstrengung nur so an den Kopf zu werfen und mich dann an ihrem hilflosen Blick zu ergötzen. Aber was im Traum wunderbar ist, ist nicht automatisch realistisch. Soll heißen: Mir fallen keine schlagfertigen Antworten ein, weshalb ich lieber schweige und nichts sage. Doch jedes Wort fühle ich wie einen Peitschenhieb auf meiner Seele, macht mich noch ängstlicher und raubt mir den Mut, sie zu konfrontieren.

„Nimm die dumme Kuh bloß nicht ernst!“, flüstert Emilia zu mir hinüber, wozu ich tapfer nicke. Mareike an sich ist echt blöd, nervig, eingebildet und überhaupt nicht so schön, wie sie denkt, aber von Ryan hätte ich nicht gedacht, sich mit Lästereien derartig aufzuplustern. Es wird schon lange gemunkelt, zwischen den beiden liefe etwas, was offenbar nicht nur bloßer Schulfunk ist. Innerlich beglückwünsche ich mich, denn er kann mir total egal sein. Gleichzeitig sticht die Erkenntnis, dass er anscheinend den Unfall an Mareike getratscht hat, wie ein Messer ins Herz. Es tut so richtig weh daran zu denken. Ich hätte diese Gedanken nicht von alleine stoppen können, wäre da nicht das zarte Summen in meiner Tasche, das Vibrieren eines Handys, das die Grübelei unterbricht.

Coolfränk malt soeben ein Rätsel auf der Tafel auf und ich nutze seinen abwesenden Lehrerblick, um unauffällig nachzusehen: Das Display des fremden Handys blinkt. Mit dem Zeigefinger wische ich über die Oberfläche und sehe eine Chatnachricht: „Du kannst mich behalten.“

Schnell texte ich zurück: „Wer ist da? Wer meint, ich könne das Handy behalten?“ Ich sende die Nachricht ab und sie wird sofort gelesen. Anhand des Status sehe ich, dass der Empfänger zurückschreibt.

„Mit wem textest du?“, fragt mich Emilia. Ich werfe ihr einen Blick zu und zucke mit den Schultern. „Keine Ahnung, ich habe das Handy gefunden.“

Das Display leuchtet auf. „Ich bin es. Und ja, du kannst mich behalten. Keine Sorge, mich vermisst niemand. Ich bin immer offen für neue Freunde“, lese ich und merke, wie Emilia seitlich auf das Display schielt. „Da steht doch gar nichts“, murmelt sie und wendet sich desinteressiert wieder der Tafel zu. Das Rätsel ist in vollem Gange, was mir ermöglicht, mich unbehelligt dem Handy zu widmen. Denn soeben erscheint eine neue Nachricht: „Sie kann mich nicht lesen.“

„Bitte?“, tippe ich verständnislos ein.

„Deine Freundin. Meine Worte sind nicht für sie bestimmt.“

„Wer bist du?“, schreibe ich. Mir wird dieser Chatverlauf langsam unheimlich und ich will zumindest einen Namen wissen. Nicht, dass ich dadurch noch an eine unheilvolle Sekte gelange.

„Ein Freund“, antwortet das Handy.

„Ich habe genug Freunde“, antworte ich keck.

„Phh“, erwidert das Handy und dann: „Ich lache mich schlapp.“

„Du bist unverschämt“, erwidere ich schreibend, denn für heute habe ich genug von blöden Sprüchen.

„Nein, nur ehrlich. So sind Freunde halt. Und nein: Du hast nicht genug Freunde, Suki.“

Als ich meinen eigenen Namen lese, wird mir kalt vor Schreck. „Woher weißt du meinen Namen?“, frage ich und habe Mühe, das Zittern in den Fingern zu unterdrücken. Ich verschreibe mich ein paar Mal und brauche zahlreiche Anläufe, um diese eine Frage zu formulieren.

„Hat sie doch gerade gesagt“, schreibt das Handy zurück. Dann erscheint ein Kreis, der sich langsam mit milchiger Farbe füllt und schließlich von einer Auswahl kleiner Figuren, hauptsächlich bestehend aus Gesichtern und maximal Händen, ersetzt wird. Mir ist, als beobachte ich eine andere Person, die auf meinem Handy nach einer bestimmten Figur sucht und in der Auswahl scrollt, um ihren Gefühlszustand hinzuzufügen. „Mobfies“, lese ich und frage mich, was das sein soll. Mob von englisch Mobile phone, was bei uns das Handy ist? Und fie das Ende von Selfie? Äußerst merkwürdig, wie ich zugeben muss.

„Ich wähle mal ein Mobfie, damit du weißt, wie ich gerade drauf bin. Und sie hat deinen Namen eben gesagt“, ergänzt mein fremder Chatpartner und ziemlich zeitnah erscheint eine Figur, die mich schelmisch angrinst und merkwürdigerweise Mareike äußerst ähnlich sieht.

„Wer?“ Nun bin ich erst recht verwirrt. Wovon schreibt das Handy?

„??“ Es antwortet in Form verwirrter Fragezeichen.

„Von wem sprichst du?“, tippe ich schnell ein und merke zu spät, dass das Handy gar nicht spricht, sondern wie ich bloß schreibt.

„Ich schreibe von der intriganten Dumpfbacke schräg hinter dir.“

Vorsichtig werfe ich einen Blick über die Schulter hinweg auf Mareike und ihr Gefolge: Sie quatschen, ihre Handys liegen unbenutzt vor ihnen auf dem Tisch.

„Nein, sie sind nicht diejenigen, die dir gerade schreiben.“

Hastig atme ich ein. „Wer bist du? Was soll das?“, frage ich erbost und verlasse den Chat, um die Einstellungen aufzurufen. Die Kamera muss aktiv sein, weshalb der fremde Schreiber den Klassenraum sieht. Zu meiner Überraschung finde ich jedoch keine Einstellungen. Es gibt sie in diesem Handy schlicht und ergreifend nicht. Das Ding ist total nutzlos, nur der Chat funktioniert.

„Wer ich bin und was das alles soll, wirst du noch früh genug erfahren.“ Ein lachendes Mobfie mit Teufelshörnern rundet die letzte Nachricht ab. Und dann erlischt das Display. Nervös fahre ich mit dem Zeigefinger darauf auf und ab, doch nichts passiert: Es ist tot.

Entgegen meinem Vorsatz bringe ich das Handy nicht zum Fundbüro. Kaum zu Hause angekommen, lese ich einen innen an die Eingangstür geklebten und handgeschriebenen Zettel von Hanna: Ich soll auf Leon aufpassen, weil sie erst später nach Hause kommen wird. Babysitting; große Klasse, denke ich ironisch. Aber ich füge mich und bleibe daheim, obwohl ich ursprünglich vorhatte, zu Emilia zu fahren. Leon sieht fern, wobei ich ihn sicher nicht unterbrechen werde. Solange er abgelenkt ist, nervt er mich nicht.

Am frühen Abend kommt schließlich Hanna nach Hause und schon anhand ihrer stampfenden Schritte im Flur wird mir klar, dass der Tag wohl nicht besser wird. Schlecht gelaunt schnauzt sie herum, weil wir unsere Schuhe nicht ordentlich im Schuhschrank abgelegt haben. Generell mag sie es nicht, wenn wir die Schuhe abstreifen und im Flur liegen lassen, doch heute führt es zu einem Donnerwetter bis uns die Ohren schlackern. Um die Wogen zu glätten, stehe ich auf und räume den Eingangsbereich auf. Doch Hanna ist nicht zu besänftigen, stürmt ins Wohnzimmer und meckert als Nächstes, weil Leon fernsieht. Ich kehre dorthin zurück, bleibe aber im Eingang stehen.

„Da bitte ich dich einmal, auf ihn aufzupassen und dann passiert das“, motzt sie mich an und schaltet ungeachtet der Proteste meines kleinen Bruders den Fernseher aus. Ich höre, wie sich im Flur die Haustüre öffnet: Moaz kommt herein, streift achtlos die Schuhe ab und knallt die Tür zu. Er rauscht grußlos an mir vorbei und bleibt vor der Couch stehen.

„Was sollte das denn eben?“, sagt er laut und zeigt mit dem Daumen über seine Schulter hinweg zur Haustür. Ich verstehe nur Bahnhof, aber meine Eltern scheinen zu wissen, welcher Film soeben läuft. Jedenfalls schreit Hanna: „Die Scheidung ist noch nicht einmal beantragt und du vergnügst dich schon mit einer anderen.“

„Ich darf ja wohl machen, was ich will“, schreit er zurück.

Leon springt wortlos auf und rennt aus dem Wohnzimmer. Beide schauen ihm erschrocken hinterher. Nun mit einer ruhigeren Stimme, wendet sich Moaz mir zu: „Mama und ich müssen miteinander etwas besprechen. Lass uns mal allein, ja?“

Zur Antwort nicke ich nur und verlasse das Wohnzimmer. Ich durchquere den Flur und gehe die Treppe hoch. Zwischenzeitlich höre ich Hanna sagen: „Jetzt spiele hier bloß nicht den Supervater, um mich zickig aussehen zu lassen.“

„Dafür sorgst du schon selber“, höre ich ihn antworten, gehe in mein Zimmer und schließe schnell die Tür. Aus dem Raum nebenan dringen Stimmen und Musik zu mir durch: Leon scheint einem Hörspiel zu lauschen.

Nachdenklich setze ich mich auf das Bett. Von unten schallt hinauf, wie sich meine Eltern gegenseitig anbrüllen: Anscheinend hat er schon eine Neue und Hanna hat ihn zusammen mit ihr in der Stadt gesehen. Er kontert, ihr könne das egal sein, ihre Ehe sei schon lange vorbei. Aber ihr ginge es bloß darum, mal wieder den Ton anzugeben. Das Geschrei hört nicht auf. Innerlich klinke ich mich aus. Je heftiger ihre Streitereien mit der Zeit wurden, desto mehr blendete ich alles andere aus. Ich kann für meine Eltern nicht die Therapeutin spielen und ihnen bei der Lösung ihrer Probleme helfen. Anfangs tat es fürchterlich weh, wenn sie sich stritten und ich hatte richtig Mühe, die aufkommende Angst, mein ganzes Leben in Scherben zu sehen, zu unterdrücken. Doch mit der Zeit habe ich gelernt, damit zu leben. Und warte ab, bis sie aufhören zu schreien. Mittlerweile gehen sie sich größtenteils aus dem Weg: Sie bleibt hier bei uns, er flüchtet auf die Arbeit. Ein knappes Jahr zuvor war es noch anders. Da unternahmen wir am Wochenende als Familie etwas zusammen: Picknick, Vergnügungspark, Inline-Skaten, Paintball spielen oder im Luftkanal fliegen. Das war richtig cool. Damals hatte ich ein Bild dazu gemalt, das nun an der Wand hängt und meine Aufmerksamkeit fesselt: wir alle in diesen Fluganzügen mit Schutzbrille, lachend. Ja, damals lachten wir gemeinsam; heute lacht, wenn überhaupt, jeder für sich. Denke ich daran, fühlt es sich an, als trüge ich einen dicken und unverdaulichen Klumpen in der Magengegend. Schnell schiebe ich die unangenehmen Gedanken beiseite und seufze: Ich würde alles für einen magischen Spruch geben, der mein Leben wieder schön zaubert. Ich würde am nächsten Morgen aufwachen und alles wäre ein einziger Superlativ: Meine Eltern wären meinetwegen schon geschieden, mein Bruder nicht so eine wandelnde Nervensäge und ich wäre cool und beliebt in der Schule.

Wie aus dem Nichts höre ich ein Summen aus meiner Tasche, die auf dem Bett liegt. Ich öffne sie und fische das Handy hervor: Es blinkt.

„Siehst du? Du brauchst einen guten Freund.“ Ich lese die Nachricht noch einmal und runzele die Stirn. Weitere Worte folgen: „Jemand, der dir helfen kann.“

„Womit?“, frage ich. Im Wohnzimmer rummst etwas an die Wand, Glas zersplittert.

„Dich aus deiner Misere zu befreien.“

Fast schon amüsiert, pruste ich. „Ich kann ja diese Zeitzone überspringen und in die Zukunft reisen“, schreibe ich mit einem ironischen Unterton zurück.

„Fast“, antwortet das Handy.

„Bitte?“

„Drücke einfach auf den pinken Button.“

„Worauf?“, entgegne ich verwirrt, frage mich, welcher Button gemeint sein soll.

„Der pinke Button“, antwortet das Handy. Wie durch Zauberhand schließt sich der Chat und ich sehe das Display mit den farbigen Tasten. Die pinke Taste wird ein Stückchen größer und funkelt. Ich drücke darauf. „Und was soll das bringen?“, frage ich, da nichts passiert.

„Wirst schon sehen“, antwortet es im Chat. „Es wird ab morgen alles anders sein. Schlaf gut.“

Laut lache ich auf: so ein Schwachsinn. Morgen ist lediglich Schule und das Hamsterrad dreht sich weiter. Nicht mehr und nicht weniger. Nur die nahenden Sommerferien sind ein Lichtblick.

Das Display des Handys erlischt. Und ich lege mich schlafen.

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