Читать книгу Handymensionen - Kännie Meier - Страница 7

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Mimis pinke Welt

„Ich bin die Liebe meines Lebens, oh yes, the love of my life“, erklingt es in meinen Träumen und noch bevor ich die Lider aufschlage, fallen mir die Versprechungen des Handys ein. So ein Schwachsinn, halte ich innerlich abermals fest und öffne die Augen. Das Lied des Schmusesängers scheint im ganzen Haus zu hallen – mal wieder.

Ich gähne lang und tief, als mein Blick auf die Wand gegenüber fällt: Alle lieben Mädchen kommen in den Himmel … egal, Selfies und Likes sind Himmel auf Erden genug. Mich aufsetzend, wandern meine Augen den Spruch ein weiteres Mal ab. Irgendetwas ist anders, es liegt mir fast schon auf der Zunge, aber ich komme nicht darauf. Da vibriert etwas auf dem Kissen neben mir. Erschrocken fahre ich herum und betrachte die zweite Seite des Bettes – und halte abrupt inne. Das ist ein King-King-King-Size-Bett. Wo kommt dieses riesige Bett her? Dies ist mein Zimmer und doch kommt es mir fremd vor. Es vibriert wieder vom Kissen zu mir herüber: Das Handy leuchtet mich an. Ich nehme es und wische über das Display.

„Guten Morgen. Gut geschlafen, Mimi?“, fragt es mich.

„Ich heiße Suki“, schreibe ich zurück und erinnere mich vage daran, dass wir über die Begrüßung schon hinaus waren.

„Herzlich willkommen in der pinken Dimension“, schreibt da das Handy. Eine Antwort gar nicht erst abwartend, folgt umgehend die nächste Nachricht: „Ich habe es dir ja versprochen: Ab heute wird alles anders sein.“

„Ich verstehe kein Wort“, murmele ich und zu meiner Überraschung sehe ich das Handy eine neue Nachricht tippen. Buchstabe für Buchstabe erscheint im Chat.

„Vertraue mir einfach: In dieser Dimension heißt du immer noch Suki, ja, aber du hast einen Spitznamen: Mimi. Ich wünsche dir viel Spaß. Wenn du einen Freund brauchst … du weißt ja, wie du mich findest.“

„Wer bist du eigentlich?“, frage ich nach, denn ich erinnere mich nicht, hierauf bereits Informationen erhalten zu haben.

„Du kannst mich Handy nennen.“

„Wie einfallsreich“, merke ich an. Als Antwort erhalte ich ein Old-School-Grinsezeichen und anschließend ein schwarzes Display.

„Warte“, schreie ich das Handy an und drücke fast schon verzweifelt darauf herum. Das alles hier muss ein Traum sein. Ein letztes Mal schaltet es sich ein und schreibt mir Folgendes: „Mach dir keine Sorgen, es wird dir nichts passieren. Tu einfach so, als wärest du auf Schulaustausch. Ich bin immer für dich da; nur, damit du es weißt.“ Dann erlischt es endgültig.

„Na toll“, murmele ich, das alles kommt mir komisch vor und ich frage mich, wer hier seinen Spaß mit mir treibt. Es gibt keine Dimensionen und schon gar nicht gibt es Handys, die Menschen dorthin befördern können. Also muss all das hier ein Traum sein, schlussfolgere ich und haue mir selber eine runter, um zu testen, ob ich wach bin. Da es auf meiner Wange ordentlich zwiebelt, muss dem so sein, dennoch fühle ich mich wie eine Schlafwandlerin, der das Traumgeschehen zwar sehr bekannt vorkommt, sich aber trotzdem unheimlich fremd fühlt.

Verwirrt greife ich nach der Tasche auf der anderen Bettseite und lege das Handy hinein. Abrupt gefriere ich in der Bewegung und stutze: Das ist nicht meine Tasche. Auf der Bettseite neben mir liegt eine Designertasche, die garantiert einige tausend Euro gekostet hat. Argwöhnisch beäuge ich das edle Stück, ziehe es zu mir hinüber und untersuche den Inhalt: Ich hole ein zur Tasche passendes Portemonnaie hervor und finde darin einen Führerschein mit meinem Passfoto: Name, Alter, Adresse – stimmt alles. Nur das Foto ist neu: Ich habe blonde Strähnchen und langes, dickes braunes Haar; die Augen sind kunstvoll geschminkt wie bei einer Kleopatra und meine Gesichtsfarbe hat einen sexy Tan. Ich erkenne eine große Ähnlichkeit zwischen Mimi und mir, kann aber nicht umhin zuzugeben, dass bei ihr die arabische Familienseite optisch deutlicher zutage tritt. Und sie schminkt sich weitaus stärker.

Ich lege das Portemonnaie mitsamt Führerschein wieder in die Tasche und betrachte mein Zimmer: Die Wände sind übersät von Zeichnungen, die meisten davon sehr bunt, auffallend viel pink. Obwohl ich die Farbe gar nicht mag, scheint diese Mimi unheimlich darauf zu stehen. Aus dem Bett krabbelnd, gehe ich näher zur Wand und schaue mir die Zeichnungen genauer an. Da sie allesamt ein Kürzel tragen, habe vermutlich ich alias Mimi sie gemalt: Selfies, nachgemalt mit der Hand. Ich beim Feiern mit Freundinnen; ich mit Kussmund anscheinend im Strandurlaub vor einem malerischen Sonnenuntergang und großem Strohhut auf dem Kopf; ich mit der Hand das Victoryzeichen zeigend im Snowboard-Urlaub. Weitere Bilder dieser Art folgen. Auf mich wirken sie fremd, da ich die Geschichte dazu nicht kenne, wie sie entstanden sind und was an dem Moment so schön war, weshalb ich ihn festhalten wollte. Merkwürdig, aber wenn ich hier tatsächlich Mimi bin, warum erinnere ich mich dann nicht? Mit dieser Frage im Kopf fallen mir die Mädchen auf, mit denen ich oft auf den Zeichnungen zu sehen bin. Ein besonders großes Bild fesselt meine Aufmerksamkeit: Ich befinde mich dort wohl auf einer Party, trage stylishe Klamotten, die Haare sind frisiert und das Gesicht geschminkt, genauso wie die Begleiterinnen, die an meiner Seite stehen. Ihre Gesichter erkenne ich jedoch nicht. Anscheinend habe ich sie nur flüchtig gemalt und mir nicht die Mühe gemacht, sie eingehender festzuhalten. Auch auf den anderen Zeichnungen wurden ihre Gesichtszüge nur angedeutet, dafür scheine ich viel Zeit in mich investiert zu haben. Denn mein Outfit, die Frisur und sogar das Make-up weisen zahlreiche Details aus. Vermutlich finde ich das entsprechende Selfie auf dem Handy und ich habe diese Szene, wie alle anderen auch, abgezeichnet.

Direkt daneben hängt ein Bild, das mir bisher nicht aufgefallen ist. Überrascht blinke ich ein paar Mal mit den Augen. Es zeigt mich in einer ästhetischen Pose nur in Unterwäsche. Hoffentlich hat Hanna das nicht gesehen, schießt mir durch den Kopf, denn sie hat mir nie und nimmer erlaubt, Fotos und Bilder dieser Art zu fertigen. Deshalb nehme ich es hastig von der Wand und verstaue es tief in einer Schublade.

Ich trete ein paar Schritte zurück. Mit in die Hüfte gestemmten Händen betrachte ich all die gezeichneten Kunstwerke aus der Distanz. Zwar erkenne ich mich auf ihnen, aber ich sehe ungewohnt anders aus. Unschlüssig, ob ich tatsächlich diese Mimi bin, schließe ich für einen Atemzug lang die Augen. Das Schmuselied hallt weiterhin durch das Haus. Ich beschließe, mich für die Schule fertig zu machen. Hierfür öffne ich die Tür, durchquere den Flur, betrete das Bad, schalte das Licht an, trete vor den Spiegel – und erschrecke. Zum einen, weil das Badezimmer einem marmornen Baderaum mit goldenen Elementen gewichen ist. Wie in einem Luxushotel für Superreiche. Zum anderen, weil mich mein Spiegelbild mit großen Lockenwicklern und Anti-Pickel-Patches auf Stirn, Nase und Kinn zeigt.

Jeden Abend vor dem Zubettgehen reinige ich die Gesichtshaut, creme sie ein und benutze gerne ab und an Gesichtsmasken, aber Patches und Lockenwickler gehörten bisher nicht zur Beautyroutine. Viel zu zeitaufwändig, denn ich bin zu faul für übermäßige Kosmetikeinheiten.

Diese Dimension fängt ja schon gut an, weshalb ich mir vornehme, das Handy zu fragen, wie lange der Spuk denn dauern soll. Zum wiederholten Mal halte ich innerlich fest: Kein Wesen ist in der Lage, einen Menschen in eine fremde Dimension zu verfrachten. Demnach befinde ich mich bestimmt nur in einem sehr realistischen Traum, der ganz sicher mit dem Klingeln des Weckers enden wird.

Ich bin äußerlich nicht der emotionale Typ, lasse mir meine Gefühle nicht anmerken, und so bleibe ich auch jetzt angepasst. Sicherlich gibt es Menschen, die nun aufgeregt und fast panisch im Haus herumlaufen würden, aber ich bin eher von der kontrollierten Sorte. Mein Leben verläuft genau deshalb in ruhigen Bahnen; bis auf die Tatsache, dass meine Eltern ständig Zoff haben.

Mit diesen Gedanken im Kopf zupfe ich an den Patches und ziehe sie ab. Es ziept ordentlich und ich frage mich, ob das nicht ein Verbesserungsvorschlag für die Benutzung von Handymensionen wäre: Kein Ziepen beim Entfernen von Patches und Pflastern. Darüber schmunzelnd, rücke ich näher an den Spiegel heran. Nase, Stirn, Kinn: lupenrein, kein einziger Mitesser, superklare Haut. Anerkennend pfeife ich leicht und zeige mir selbst ein Daumenhoch. Dann dusche ich schnell und putze mir die Zähne. Meine blonden Strähnchen in den Haaren kommen mir zwar komisch vor, aber beim Entfernen der Lockenwickler finde ich das Ergebnis dennoch überzeugend. Genau solche Haare habe ich mir immer gewünscht, aber leider nie von einer Haarfee erhalten.

Anschließend kehre ich in mein Zimmer zurück und öffne den Kleiderschrank: Ich sehe viele Kleider, Röcke, Blusen und Shirts, vorwiegend teure Markenstücke, und erst nachdem ich eingehend im Schrank gewühlt habe, finde ich einen kleinen Stapel edler Jeans. Eine davon hervorziehend kombiniere ich sie mit einem Shirt, dessen Stoff sich weich anfühlt, und lege beides auf das Bett. Ohne darüber nachzudenken, nehme ich ein weiteres Shirt und stecke es in die Designertasche. Bisher hat sich mir nicht erschlossen, was ich darunter tragen soll. Die Unterwäsche im Schrank ist nicht Hanna-konform, also viel zu sexy, weshalb es nicht ratsam ist, sie auch nur den Träger unter dem Shirt sehen zu lassen. Sonst entzieht sie mir für den Rest des Lebens das Taschengeld und investiert es in Keuschheitsgürtel. Hanna ist nicht spießig eingestellt und natürlich dürfte ich einen Freund haben, aber eben nur in Baumwollfeinripp, weil sie mich für alles andere noch zu jung hält. Also suche ich weiter, bis ich ein halbwegs tragbares Set finde.

Nicht zufrieden, doch zumindest bekleidet, auch wenn die Klamotten so überschick sind und ich Hoodies vermisse, verlasse ich mein Zimmer und gehe barfuß die Treppe hinunter. In Gedanken versunken, betrete ich den Wohn- und Essbereich, schalte die Stereoanlage aus und nehme erst jetzt die Umgebung wahr. Wie geblendet bleibe ich stehen: Vor mir liegt ein riesiger Raum, bestehend links aus einer Hochglanzküche, in der eine Frau mittleren Alters mit fast schwarzen, knapp schulterlangen Haaren den Frühstückstisch deckt. Rechts ist das Wohnzimmer, gehalten in hellen Farben. Es beinhaltet Möbel, die garantiert nicht aus einem gewöhnlichen Möbelhaus stammen, so gediegen schweigen sie mir entgegen. Vor den meterhohen Fenstern funkelt die Morgensonne auf der Wasseroberfläche eines Swimmingpools, die wiederum die Sonnenstrahlen an die Wand reflektiert.

In der Küche sitzt Leon auf einem Stuhl und mampft einen Stapel Pancakes, überzogen mit so viel Sirup, dass mir allein vom Zusehen schon schlecht wird. Seit wann erlaubt Hanna eigentlich Zucker zum Frühstück?

„Guten Morgen, Mimi“, grüßt mich die Frau, deren Namen mir nicht einfällt. Zwar grüße ich zurück, hoffentlich merkt sie mir meine Verunsicherung nicht an, weiß aber trotzdem nicht so recht, wie ich mich verhalten soll. Also nehme ich bei Leon am Tisch Platz. Überrascht wirft sie mir einen Blick zu.

„Frühstück?“, fragt sie mit hochgezogenen Augenbrauen.

Zögerlich nicke ich. „Ja, was denn sonst?“

„Diät“, antwortet Leon. „Du frühstückst morgens nie, wegen deiner Diät“, fügt er mit vollem Mund hinzu. Ich und Diät? Das ist mir neu, denke ich, sage es aber nicht.

„Ich habe damit aufgehört“, erwidere ich und hoffe, damit weitere Fragen zu vermeiden.

„Bist du sicher, dass das weiterhilft?“, fragt da Hannas Stimme vom Türrahmen aus. Auf Stöckelschuhen klackert sie in die Küche hinein und nimmt die Tasse Kaffee, die ihr die Frau mit den schwarzen Haaren bereits entgegenhält.

„Danke, Philippa“, sagt Hanna, trinkt einen Schluck und wirft mir einen eindringlichen Blick zu. Neben mir schmatzt Leon seine Pancakes und schaut mich dabei ebenfalls an. Hilfesuchend schaue ich erst ihn, dann Philippa an. Mir ist nicht klar, was Hanna meint.

Ich erkenne sie kaum wieder: Ihr Gesicht ist mir bekannt, aber die braunen Locken, die sie gerne in einem Messy Bun trägt, sind einem glatten, kinnlangen Bob gewichen. Ihre Kleidung, normalerweise Jeans und Shirt, wurden durch ein dunkelblaues Kostüm mit Pumps und Aktentasche ersetzt. Ihre braunen Augen sind umrahmt von dunklem Lidschatten mit auffällig getuschten Wimpern. Sie sieht sehr gut aus: Stark, selbstbewusst, eine Businessfrau, doch nicht annähernd wie die Hanna, die ich kenne.

Sie stellt die Tasse auf der Spüle ab, von der sie nur wenige Schlucke getrunken hat. „Mimi, bist du sicher, dass du die Diät aufgeben willst?“, fragt sie mich zum zweiten Mal.

Ratlos zucke ich mit den Schultern. Innerlich lasse ich Revue passieren, wie Hanna mir in unzähligen Monologen erklärte, wie viel Energie der Körper benötigt, allein um atmen zu können. Fazit: Verweigerung der Nahrungsaufnahme aus Gründen der trendbewussten Gewichtsreduktion gilt offenbar nicht bei meiner anderen Mutter: „Na ja, du machst dir doch schon seit Wochen Sorgen wegen des Schulballs. Wie willst du denn ins Kleid passen, wenn du zunimmst? Vergiss nicht, das Kleid ist maßgeschneidert und der Schulball schon zu Beginn des neuen Schuljahres. Das sind nur ein paar Wochen bis dahin.“

Ich breche in Lachen aus, denn ich, Diät und Schulball passen so gar nicht zusammen. Doch je mehr ich lache, desto konsternierter schauen mich die anderen an, insbesondere Hanna. Als wäre ich über Nacht bescheuert geworden.

„Ahm, ich bekomme das schon hin“, stottere ich leicht und werde vom Grummeln meines Magens deutlich überstimmt. Einen Atemzug lang beobachtet Hanna mich mit gerunzelter Stirn. Dann kommt sie einen Schritt auf mich zu und fasst mir an den Kopf.

„Bist du krank?“, fragt sie und nimmt mein Kinn in die Hand, um einen noch eingehenderen Blick zu erhalten. In einem Nebensatz fügt sie an Philippa gerichtet hinzu: „Bitte miss bei ihr Fieber, bevor sie zur Schule geht.“

„Wieso?“, frage ich, woraufhin sie einen Schritt von mir zurücktritt. „Ich fühle mich gut.“

Hanna hadert sichtbar: „Nun ja, du bist heute so anders. Hast du deine Periode? Oder hast du verschlafen?“

„Nein, ich habe nicht meine Periode“, murmele ich.

„Hm, dann fehlt dir nur etwas Make-up. Du kannst meinen Concealer benutzen, um die Augenringe abzudecken. Aber nur ausnahmsweise“, hält sie mit erhobenem Zeigefinger fest. Dann friert sie in der Bewegung ein und betrachtet ausführlich meine Schulter. Irritiert werfe ich selbst einen Blick darauf, sehe aber nur, dass das Shirt die linke Schulter nicht bedeckt. Das Kleidungsstück ist halt so geschnitten und mein BH-Träger blitzt hervor.

„Ist irgendetwas?“, frage ich leise, denn sie mustert mich weiterhin.

„Seit wann trägst du denn solche Wäsche?“, fragt sie, berührt mit Daumen und Zeigefinger den BH-Träger und lässt ihn fast schon angeekelt wieder los. „Wir waren doch gestern erst shoppen und haben ein paar schöne Stücke gekauft. Warum trägst du denn nicht die?“, fragt sie, wartet meine Antwort aber gar nicht erst ab, sondern lächelt knapp, wirft Leon einen Luftkuss zu und stöckelt mit ihrer Aktentasche in den Flur zurück. „Ziehe dich doch schön an“, ruft sie aus. Ich höre, wie die Haustür kurz darauf zufällt und der Motor eines Autos aufheult. Mit quietschenden Reifen braust sie davon.

Mich verunsichert all das: Hanna empfiehlt mir Dessous zur Schule und frühstückt nur ein paar Schlucke Kaffee. Und Leons sirupübergossene Pancakes waren ihr nicht einmal einen Blick wert. Üblicherweise regieren bei ihr morgens Müsli und frisches Obst. Wo bin ich hier gelandet, frage ich mich mit einem Anflug von Panik, unterdrücke dieses Gefühl aber schnell, da ich mir nichts anmerken lassen möchte.

Zum Glück verlässt Philippa die Küche und lässt mich mit Leon allein. Ich klaue ihm einen Pancake vom Teller, rolle ihn zusammen und schlinge ihn herunter. Ich habe echt Hunger.

„Denke ich viel an mein Gewicht?“, frage ich ihn verwirrt mit vollem Mund, denn das kenne ich nicht von mir. Er beobachtet mich überrascht beim Essen und nickt langsam mit dem Kopf. „Ja, ständig“, antwortet mein kleiner Bruder. „Philippa darf nur Low-Fat-Gerichte für dich kochen, ansonsten isst du sie nicht und fängst an zu kreischen.“

„Oh“, fällt mir dazu nur ein. „Und esst ihr das dann auch?“

Jetzt schüttelt er den Kopf, sein Blick wird immer verwunderter. „Nein, du weißt doch: Mama kommt erst abends spät vom Gericht nach Hause und Papa wohnt ja nicht mehr hier. Ich esse meistens mit Philippa und du gar nichts: Intervallfasten, eben.“

Ein Auto hupt ungeduldig in der Einfahrt und unterbricht unser Gespräch. Er schiebt sich den letzten Pancake rein und springt hastig auf.

„Willst du den Teller nicht wegräumen?“, rufe ich ihm hinterher, wohlwissend, dass Hanna ansonsten wieder Erziehungstiraden vom Stapel lässt, sobald sie Wind davon bekommt. Doch er rennt unbekümmert aus der Küche.

„Nein, das macht doch Philippa“, ruft er zurück.

„Okay, anscheinend nicht in dieser Dimension“, murmele ich und kann mir ein zufriedenes Grinsen nicht verkneifen: Nicht aufräumen zu müssen, ist schon eher nach meinem Geschmack.

Ich folge Leon in den Flur und bemerke die teuren Antiquitäten, die dort an der Wand stehen. Die Haustür steht sperrangelweit offen. Mein Bruder rennt mit seiner Schultasche auf einen Sportwagen zu, aus dem ein ungeduldiges Hupen erklingt. Ein Mann mit nach hinten gegelten Haaren und Sonnenbrille auf der Nase winkt mir aus dem Luxus-Sportschlitten zu und erst beim zweiten Blick erkenne ich meinen Vater Moaz darin sitzen. Zaghaft winke ich zurück und gehe auf Zehenspitzen auf den Wagen zu, da ich noch immer barfuß bin. Berta steht gar nicht vor dem Haus, was mich wundert.

Leon springt soeben auf den Beifahrersitz, als ich beim Auto ankomme.

„Wo ist Berta?“, frage ich Moaz, der mit hochgekrempelten Hemdärmeln lässig im Wagen sitzt. Mit der dunklen Sonnenbrille vor den Augen schaut er mich an.

„Wer? Welche Berta?“, fragt er und grinst mich an. Zumindest glaube ich das, denn ich kann ja seine Augen nicht sehen.

„Unser Roller“, stottere ich.

Seine Augenbrauen schießen nach oben, denn er hat keinen Plan, wovon ich spreche. „Nimmst du mich zur Schule mit?“, frage ich stattdessen und will mich schon umdrehen, um schnell meine Tasche zu holen. Moaz kann sich kaum halten vor Lachen.

„Du bist doch kein Schulkind mehr. Fahre gefälligst selbst“, lacht er mich aus und zeigt zum Haus hinüber. Stirnrunzelnd folgt mein Blick der Richtung seiner Hand, dann dämmert es mir: Die Garage habe ich doch tatsächlich übersehen, denn die gibt es anscheinend nur in dieser Welt. Lachend haue ich mir vor die Stirn.

„Na, Champion“, begrüßt Moaz Leon und wuschelt ihm durch die Haare. Dann holt er ein Päckchen Zigaretten hervor, klemmt sich eine davon in den Mundwinkel und zündet sie an. Mein Vater, der Sportfanatiker, raucht eine. Dass ich das noch erleben darf, denke ich und beobachte, wie er einen tiefen Zug nimmt, den Rauch wieder aus der Lunge entlässt und mir einen schönen Tag wünscht. Anstatt einen Monolog vom Stapel zu lassen, was Zigarettenrauch im Körper anrichtet. Er lässt den Motor aufheulen, winkt mir zum Abschied zu und fährt röhrend davon. Nachdem das Auto um die Ecke schießt, kehre ich ins Haus zurück und hole meine Tasche für die Schule.

Wenige Minuten später stehe ich unschlüssig im Hausflur. Vorhin war mir gar nicht so deutlich aufgefallen, dass Hanna und Leon schon Schuhe trugen, weshalb ich nun angestrengt das Schuhregal suche. Da ich nicht fündig werde, hole ich das Handy hervor und streiche mit dem Zeigefinger über das Display. Umgehend lande ich im Chat. Weil ich keine Lust habe, alles einzutippen, starte ich eine Sprachnachricht und flüstere: „Wo ist das Schuhregal?“ Es dauert nicht lange und eine Nachricht erscheint: „Direkt vor dir, du musst dich nur umdrehen.“ Der Anweisung folgend, wende ich mich um, bis ich mich einer leeren Wand gegenübersehe. Bei genauerer Betrachtung fällt mir eine unscheinbare Türklinke auf, die ich in die Hand nehme. Vorsichtig öffne ich die Tür und werfe einen Blick in den Raum dahinter. Dunkelheit strömt mir entgegen, woraufhin ich den Lichtschalter außen an der Wand betätige. Eine wahre Lichterflut springt im Rauminneren an und offenbart unzählige Wandregale voller Schuhe. An jeder Wand des fensterlosen Raums steht ein Name: Rechts „Hanna“, geradeaus „Leon“ und links „Mimi“.

„Wir haben einen Raum voller Schuhe?“, murmele ich überrascht. Das Handy antwortet prompt: „Klar, seitdem dein Vater ausgezogen ist, habt ihr ein Zimmer frei.“

„Wie bitte?“, sprudelt beim Lesen der Worte aus mir heraus.

„Sorry, Galgenhumor“, erwidert das Handy und ergänzt ein Mobfie mit Teufelshörnern. Dieses zieht vielsagend mehrmals hintereinander die Augenbrauen hoch und zwinkert mich an.

Mit dem Handy in der Hand betrete ich das Schuhzimmer und sehe so viele Paare, dass ich Mühe habe, sie auf Anhieb zu schätzen. Mich wundert zudem, auf der linken Seite fast ausschließlich Schuhe mit Absatz zu sehen und benötige zehn Minuten, Designer-Sneakers zu finden. Das einzige Paar dieser Sorte, wohlgemerkt. Dankbar ziehe ich sie an und verlasse das Schuhkabinett. Danach mache ich mich zur Garage auf.

Davor angekommen, hebe ich das Garagentor an, das sich dann automatisch von selbst öffnet. Langsam fährt es hoch. Stück für Stück durchflutet Sonnenlicht den Raum dahinter und die Umrisse eines Autos zeichnen sich ab. Ich traue meinen Augen nicht. Von Berta sehe ich weit und breit keine Spur. Dafür steht ein kleiner Sportflitzer vor mir – in Pink. Auf der Motorhaube ist ein Logo aufgemalt: Mimi. Ich trete ein und betrachte das Auto von allen Seiten.

„Oh“, murmele ich nur. Das muss ein Irrtum sein, denke ich und fische in meiner Tasche nach dem Handy. Schnell wische ich über das Display und stöhne frustriert, da es schwarz bleibt. Fast schon trotzig spreche ich es dennoch an: „Ich bin erst sechzehn, ich darf noch nicht Auto fahren. Wo ist Berta?“

Es dauert keine zwei Sekunden und das Handy blinkt auf. „Berta gibt’s hier nicht. In dieser Dimension gibt es den Führerschein mit sechzehn. Die Autoschlüssel hängen an der Wand“, lese ich im Chat.

Bei den Worten fühle ich, wie mir der Schweiß ausbricht. „Aber ich kann nicht mit so was da fahren“, äußere ich fast schon panisch und zeige auf das Auto, als ob das Handy neben mir stünde.

„Denke einfach nicht darüber nach, dann klappt es von allein“, lese ich als letzten Ratschlag, bevor das Display keinen Mucks mehr von sich gibt. Was für ein toller Freund, denke ich wütend. „So ein blödes, nutzloses Handy. Wer erfindet so einen Mist?“, fluche ich ausdauernd und langanhaltend.

Kurz davor, die Nerven zu verlieren, hebe ich erneut das Handy hoch und sage deutlich und bestimmt: „Ich brauche jetzt ein Handy.“ Langsam und bedächtig, ich könnte schwören, es gähnt dabei, startet es selbstständig und zeigt die wenigen Apps an, die es beinhaltet. „Ich brauche ein richtiges Handy“, fauche ich.

„Na, gut“, sehe ich eine Nachricht auf dem Display aufleuchten. Dann erscheint ein großer leerer Kreis und füllt sich langsam mit pinker Farbe. Der pinke Kreis explodiert und offenbart die Oberfläche eines normalen Handys. Dankbar und seufzend erblicke ich das Symbol eines Browsers und tippe gierig darauf. Schnell suche ich online nach einer Busverbindung, werde aber nicht fündig. Egal, was ich eingebe, es werden keine Ergebnisse angezeigt. Frustriert stecke ich das Handy in meine Tasche.

Nachdem ich also vergeblich versucht habe, nach einer anderen Lösung zu suchen, stehe ich nun wieder mit schweißnassen Händen vor dem pinken Ungetüm. „Ich hatte noch nicht einmal Fahrstunden“, murmele ich mit Panik in der Stimme. Auf wackeligen Beinen gehe ich zur Wand hinüber, an der ein Schlüssel hängt. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass sogar der Schlüsselanhänger pink ist. Mit zitternden Händen greife ich danach, entriegele das Auto mit der Fernbedienung, öffne die Fahrertür und steige ein. Nicht, dass ich nicht unzählige Male bereits bei meinen Eltern vorne auf dem Beifahrersitz mitgefahren bin, aber es ist schon etwas anderes, selbst im Fahrersitz aus beigem Leder zu sitzen. Dieses fühlt sich kalt und glatt an, fast schon unfreundlich, weshalb ich mich zwinge, tief durchzuatmen.

„Okay“, flüstere ich. Da es kein Zündschloss gibt, lege ich den Schlüssel in die Tasche. Mit dem Zeigefinger fahre ich auf den Startknopf zu, stoppe jedoch kurz davor. Ich kann mich nicht dazu bringen, darauf zu drücken und hole lieber ein weiteres Mal das Handy hervor. Hektisch suche ich auf dem Display nach einer App und jubele leise, als ich WeViddy finde. Nach dem Aufruf sehe ich zahlreiche Videos, die User dort hochgeladen haben und tippe in die Suchzeile ein: Auto fahren. Es dauert nicht lange und mir stehen gefühlt eine Million Tutorials zur Verfügung. Davon sehe ich mir drei kurze Videos an und fühle mich zumindest schon einmal informiert. Eine Chatblase erscheint: „Du hast in dieser Dimension einen Führerschein und hast es gelernt. Also fahre einfach los und denke nicht so viel darüber nach“, schreibt mir das Handy. Ich schließe die Augen und drücke auf den Startknopf.

Wie das möglich ist, ist mir auch nicht klar, aber ich fahre wirklich in einem Sportwagen. Als wäre es nie anders gewesen. Die Füße wissen genau, welche Pedale zu treten ist und die Hände kennen jeden Gang. Nur mein Kopf funkt gelegentlich für den Bruchteil einer Sekunde ängstlich dazwischen, aber mit jedem Kilometer entspannt sich mein nervöser Geist. So langsam beginne ich, diese Dimension zu mögen, auch wenn es einige Unterschiede gibt, die mich verwirren.

An einer roten Ampel stoppe ich. Neben mir hält ein Motorrad. Nachdenklich kaue ich auf meiner Unterlippe und frage mich, wie lange das Abenteuer als Mimi wohl dauern wird. Mit dem Wechsel der Ampelanlage von Rot zu Grün gebe ich Gas und zeitgleich der Motorradfahrer mit mir. Die zweispurige Straße fließt nach der Ampel zu einer Spur zusammen. In Gedanken versunken, fahre ich weiter und schenke dem Motorrad neben mir keine Beachtung. Protestierend hupt dieses, zieht röhrend vorbei und fädelt sich vor mir ein. Abrupt bremse ich ab und hupe zurück. Er hebt den rechten Arm und zeigt den Stinkefinger. Wütend hupe ich ein weiteres Mal. Meine arabische Hälfte flucht; die andere Hälfte flüstert empört: „Stinkefinger, das gehört sich aber nicht.“ Ohne es darauf anzulegen, folge ich dem Motorrad bis zur Schule, wo es auf den Parkplatz fährt und hält. Ich parke in der Reihe dahinter, steige schnell aus und stapfe zum Motorradfahrer hinüber, der sich soeben den Helm vom Kopf zieht. Er wirkt völlig unbekümmert und mit jedem Schritt spüre ich, wie das Blut in meinen Adern zu kochen beginnt.

„Was sollte das denn eben?“, schnauze ich ihn an. Überrascht hält der Typ inne und zieht die Augenbrauen hoch. Er ist älter als ich, trägt eine Lederjacke und einen Hoodie. Er hasst angeblich Markenklamotten, wenn man dem Sticker auf seiner Schultasche Glauben schenkt, und hasst Bonzen, zumindest laut Sticker auf seinem Motorrad.

„Sieh mal einer an: Schickimickimimi“, murmelt er belustigt und beachtet mich nicht weiter.

„Hey, ich rede mit dir, du Nerd“, zische ich.

„Nerd? Wir sind zwar nicht Freunde, aber sogar du darfst Ryan zu mir sagen.“

Den frechen Kommentar ignorierend, fauche ich weiter: „Wie dämlich fährst du eigentlich?“

„An der Stelle sollte sich die zweite Spur einfädeln, aber du hast mich nicht vorgelassen“, erwidert er ruhig. Seine dunkelbraunen Wuschelhaare fallen ihm ins Gesicht, woraufhin er sie beiseite wischt. Er steigt ab und schenkt mir noch weniger Beachtung als vorher. Am liebsten würde ich ihn in Stücke reißen, so sauer bin ich.

„Warum sollte ich auch? Ich habe es nicht nötig, dich vorzulassen“, kontere ich, doch er schüttelt nur den Kopf und lächelt.

„Egal, was du nötig hast oder nicht, es gelten nun einmal die Verkehrsregeln“, hält er fest, schließt das Motorrad ab und macht sich auf, davonzugehen. Er lässt mich stehen.

„Du Sohn eines Esels“, rufe ich ihm wütend hinterher und spüre mein feuriges Temperament erfreut hervorkriechen und meine Zunge arabische Worte formulieren. Ryan stoppt, dann dreht er sich zu mir um. Er schaut mich fragend an.

„Du bist nicht nur der Sohn eines Esels, sondern auch der Sohn einer Ziege“, ergänze ich lautstark und gestenreich.

„Was sagst du?“, fragt er mich und hebt verwirrt die Hände.

„Und die Mutter der Ziege ist ein Kamel“, jetzt bin ich richtig in Fahrt.

„Beschimpfst du mich auf Arabisch?“, ruft Ryan ungläubig.

„Määäääh“, füge ich auf Deutsch hinzu und fahre in Arabisch fort: „Und das Kamel ist auch wiederum Vater einer Ziege.“

„Ich glaube es nicht“, sagt Ryan und lacht gleichzeitig. „Kann mal einer übersetzen?“, ruft er laut zum Schulhof hinüber.

Ich setze mich in Bewegung und stapfe an ihm vorbei. „Ahbal“, zische ich ihm im Vorbeigehen zu.

„Und was heißt das?“, ruft er mir hinterher.

„Dummkopf“, schreie ich auf Deutsch, ohne mich umzusehen, und zeige ihm den Mittelfinger. Wir sind quitt.

Doch anstatt selbst zu fluchen, höre ich ihn lachen. Was mich nur noch mehr ärgert. Mein Herz quillt fast über vor Wut, aber auch vor Überraschung: Seit wann spreche ich Arabisch? Und seit wann fluche ich und seit wann raste ich so aus? Es ist, als hätte ich eben wie auf Autopilot reagiert. Auf all das weiß ich keine Antwort, aber es fühlt sich toll an, denn ich verspüre keinerlei Angst. Mit jedem Schritt auf das Schulgebäude zu, tauche ich tiefer in dieses Leben ein; es gefällt mir mit jedem Schritt besser.

Noch immer kocht das Blut in den Adern, das Herz rumpelt in meiner Brust, als ich beim Eingang der Schule ankomme, die Tür aufreiße, eintrete und zunächst stehenbleibe. Die erste Stunde hat noch nicht begonnen. Dementsprechend geschäftig geht es im Eingangsbereich zu: Menschen stehen herum, laufen auf die Klassenzimmer zu, unterhalten sich angeregt. Die Tür festhaltend, lasse ich den Griff los. Langsam schließt sich die Tür, der Türspalt verkleinert sich von Sekunde zu Sekunde. Schließlich fällt die Tür mit einem lauten Knall ins Schloss. Abrupt setzt Stille ein, Köpfe fahren zu mir herum, die Blicke legen sich auf mich.

„Showtime“, murmele ich und setze mich in Bewegung, mitten durch die Menge hindurch. Aah, was machst du da?, flüstert mir eine ängstliche Stimme zu, die innere Stimme, die so gar nicht gern im Mittelpunkt steht und zu der Suki gehört, die in der Realität lebt. Doch jetzt bin ich Mimi. Klappe, denke ich zurück und genieße die Aufmerksamkeit: Die Jungen sabbern fast, weil ich das hübscheste Mädchen in der Schule bin. Hektisch holen sie ihre Handys hervor, um die Kamera zu starten. Die Mädchen streben entweder danach, mit mir befreundet zu sein und schauen mich neidisch an, oder sie vermeiden jeglichen Kontakt, weil mein Mundwerk legendär scharfzüngig ist. Rechts von mir verlässt soeben so eine graue Maus die Mädchentoilette und kreuzt gedankenverloren meinen Weg.

„Was machst du da?“, frage ich sie hochnäsig. Das Mädchen schaut hoch: Ein Teil von mir erschrickt, denn es ist Emilia, doch dieser Teil, der sie erkennt, wird umgehend von Mimi überrannt.

„Ähm“, äußert Emilia und fährt sich nervös durch das Gesicht, ihre Wangen färben sich rot. Ich starre sie empört an und mache nur wortlos eine Handbewegung: Geh zur Seite. Sofort folgt Emilia der Aufforderung.

Ich schreite weiter, folge dem Gang und sehe ihn endlich: den Girl‘s Club.

„Huhuuu“, jubele ich zur Begrüßung, denn da sind meine Mädels.

„Huhuuu“, jubeln sie zurück. Nacheinander begrüße ich sie mit Wangenküsschen. Mareike plaudert drauflos: „Meine Güte, wie siehst du denn aus? Hast du verschlafen? Und was, bitte, trägst du denn da an den Füßen. Igitt, das sind ja Sneakers.“

„Warum sollte ich verschlafen haben?“, erwidere ich und frage mich, ob sie heimlich mit meiner Mutter chattet, denn sie äußerte heute schon dieselbe Vermutung. Gemeinsam schlendern wir nebeneinander im Gang auf das Klassenzimmer zu: Mareike, Annabelle, Cecilia und ich, wir alle gekleidet in supercoolen und vor allem teuren Klamotten. Die eifersüchtigen Blicke der Mädchen folgen uns, aber da wir es nicht anders kennen, fällt es uns schon gar nicht mehr auf.

„Äh, schau doch mal, wie du rumläufst“, erwidert Annabelle und mustert mich mit hochgezogenen Augenbrauen von der Seite. Und da fällt es mir wieder ein: Dresscode. Beim Anziehen heute Morgen hatte ich mir irgendwelche Klamotten aus dem Schrank genommen. Dabei stimmen wir uns jeden Abend per Chat über den Dresscode des nächsten Tages ab. Immerhin sind wir der Girl‘s Club: modisch, modern, sexy und beliebt, kurz: momosexbe.

„Und ungeschminkt bist du auch noch: Wie direkt aus dem Bett in die Schule geplumpst“, fügt Cecilia amüsiert kopfschüttelnd hinzu, zückt einen kleinen Handspiegel und prüft darin schnell ihr Äußeres.

„Sorry wird nicht wieder vorkommen, Girls“, erwidere ich lachend, obwohl mich ihre Worte nackt und entblößt zurücklassen. Obgleich des Ratschlags meiner Mutter habe ich mich nicht geschminkt; ich dachte, das wäre für die Schule nicht so wichtig. Mareike kramt in ihrer Tasche, holt einen kleinen Beutel hervor, drückt ihn mir in die Hand und schiebt mich in Richtung der nächsten Mädchentoilette. „Hier, damit du unseren Ruf nicht ruinierst, so eine Schande. What a shame.“ Sie lachen laut, woraufhin ich verschämt mit einstimme und die Mädchentoilette betrete. Während ich auf den Spiegel zuschreite, durchforste ich den Beutel: Wimperntusche, Lidschatten, Concealer, Haargummi, Kondome … Moment, Kondome? Ich grinse, nehme die Mascara und hebe den Blick. Beim Anblick meines Spiegelbilds lasse ich aus Schock beinahe alles aus den Händen fallen. Für den Bruchteil einer Sekunde sehe ich ein fremdes Mädchen mit langen, braunen und vor allem glatten Haaren, gekleidet in einen Hoodie. Igitt, wie nichtssagend, denke ich spontan. Doch bevor ich verstehe, was oder wen ich da sehe, ist es auch schon wieder vorbei. Ich betrachte mich: Braune, gelockte Haare mit blonden Highlights, geschwungene, volle Lippen, bei denen ich mit Hannas Erlaubnis beim Schönheitsdoc nachhelfen durfte. Kurzum: Mimi.

Ich schraube die Mascara auf und nehme in Angriff, mich herzurichten. Es dauert eine Weile, bis ich zufrieden bin und mir im Spiegel einen Kussmund zuwerfe. Wie gewohnt zücke ich hierauf das Handy und rufe die Kamera auf. Es folgen einige Selfies, die aus meiner Sicht alle nicht gut aussehen, weshalb ich so lange pose, bis ein zufriedenstellendes Foto dabei herauskommt. Die erste Stunde hat schon längst begonnen, aber das ist mir egal; Prioritäten sind Prioritäten und hübsche Selfies gehören nun einmal zu den allerwichtigsten Grundrechten.

Das schönste Foto poste ich in all meinen Profilen auf Social Media, insbesondere jedoch auf Mopicloo, einer Plattform auf der nicht nur der Girl‘s Club Selfies postet, sondern ebenfalls sämtliche Influencer von WeViddy. Nachdem das Pic online gegangen ist, warte ich ab, bis der erste Follower es likt. Das dauert gar nicht lang und mein Tag ist okay, nicht gerettet, aber zumindest in Ordnung.

Den Schminkbeutel wie auch das Handy in meine Tasche verstauend, gehe ich auf den Ausgang der Mädchentoilette zu. Im Grunde läuft nicht mehr viel in der Schule, da die Sommerferien bevorstehen, die Noten wie in Zement gemeißelt sind und dieser letzte Tag vertrödelt wird. Zeugnisse sind out, weshalb wir die Noten abends online auf dem Schulserver abrufen und bei Bedarf ausdrucken. Und da wir heute nichts lernen, was die Welt verbessert, hat der Girl‘s Club eine Selfie-Challenge geplant. Vermutlich warten die Girls schon sehnsüchtig auf mich, weshalb ich hastig aus der Mädchentoilette hinaus in den Flur trete und prompt in jemanden hineinlaufe. Meine Tasche fällt zu Boden, ich spüre, wie mir Flüssigkeit auf den Oberkörper schwappt und nun warm die Haut hinunterläuft.

„Ups“, höre ich seine Stimme und erkenne, ohne hinzusehen, wer da vor mir steht. Angewidert betrachte ich mein nun kaffeeversifftes Shirt.

„Es scheint, als würden wir uns neuerdings häufiger über den Weg laufen, Habibi.“

„Ich bin nicht deine Habibti“, kontere ich und sehe auf. Denn mir, als halbe Araberin, ist natürlich klar, dass er mich soeben „meine Liebe“ genannt hat, allerdings grammatikalisch nicht korrekt in der weiblichen Form, weshalb ich mir eine kleine verbale Korrektur nicht verkneifen kann.

Ryan schmunzelt. „Das glaube ich aber schon.“

Mir bleibt der Mund offenstehen. „Bitte?“, äußere ich nach einem Moment des empörten Luftschnappens und vergesse völlig, ihn wegen meines verschmutzten Shirts anzuschnauzen.

„Ich habe online nachgesehen. Du gibst mir Tiernamen, das sagt doch schon alles. Du bist verliebt in mich.“ Er trinkt einen Schluck aus seinem nun nicht mehr ganz so vollen Becher und nickt mir wissend zu.

Ja, ich bin sprachlos und nein, das passiert mir eigentlich nie.

„Eben auf dem Parkplatz hast du mir aber besser gefallen“, erwidert er, trinkt den letzten Rest Kaffee, knüllt den Papierbecher mit einer Hand zusammen und wirft ihn zielgerichtet in einen Mülleimer. Punktlandung. Mit gerunzelter Stirn verfolge ich, was er macht.

„Jetzt siehst du aus, als wärest du in einem Farbtopf gelandet.“

„Pure Weiblichkeit ist wohl nichts für dich, was? Macht dir Angst, hm?“ So langsam finde ich meine Sprache wieder, aber Ryan zeigt sich unbeeindruckt.

„Die pure Weiblichkeit müsste ich bei deiner derzeitigen Zementschicht im Gesicht erst einmal ausbuddeln.“

Er lässt seinen Rucksack von den Schultern auf den Boden gleiten und zieht seinen schwarzen Sommerhoodie aus. In einem T-Shirt mit kurzen Ärmeln steht er vor mir.

Wow, denke ich nur und spüre, wie mir die Knie weich werden. Wow, ein Wort, das in meinem Vokabular normalerweise nicht auftaucht. Viel zu gewöhnlich. Aber ich habe nicht damit gerechnet, was unter seinem Hoodie zum Vorschein kommt: ein athletischer Oberkörper, gut definierte Schultern und Arme. Ob er wohl viel Sport macht?, frage ich mich und gebe vor, absichtlich woanders hinzuschauen, mustere ihn aber unauffällig weiter. Auf einmal legt er mir seinen Hoodie um die Schultern. Mir bleibt fast die Luft weg und genauso schaue ich ihn wahrscheinlich auch an.

„Du hast übrigens einen Fleck auf dem Shirt. Sorry, aber ich habe heute leider kein Like für dich“, sagt er, hebt seinen Rucksack wie auch meine Tasche auf, drückt mir Letztere in die Hand und lässt mich stehen. Ich bleibe zurück und starre ihm offenmündig nach.

„Was war das denn?“, höre ich von der anderen Seite des Flures Mareike in einem angeekelten Tonfall zu mir sprechen. Mein Kopf fährt herum.

„Machst du mit Ryan rum? Dem Schulloser?“, fragt sie noch abgestoßener. Wir besuchen ein privates Elite-Gymnasium. Soweit ich weiß, ist Ryan nur hier, weil er ein Stipendium hat. Er gehört nicht zu unserer Clique.

„Nein“, stelle ich vehement klar und spüre, wie ich rot werde.

„Das will ich auch hoffen. Sei froh, dass Max dich nicht gesehen hat, er würde dich noch nicht einmal mehr mit der Kneifzange anfassen. Wirf das weg“, sagt sie und zeigt auf den Hoodie. Danach dreht sie sich um und ergänzt im Weggehen: „Jetzt komm endlich. Annabelle will von ihrem letzten Date erzählen.“

Hastig stopfe ich Ryans Hoodie in meine Tasche und ziehe das Shirt hervor, das ich morgens eingepackt hatte, um mich mittags umzuziehen. Ich trage niemals den ganzen Tag dasselbe Shirt, weil es sonst beim nächsten Foto auffällt. Schnell ziehe ich das verschmutzte Kleidungsstück aus und erschrecke. Nicht, da ich im BH auf dem Flur stehe, sondern weil ich völlig verdrängt hatte, welchen ich heute trage. Glücklicherweise hat Mareike diesen nicht gesehen. In Turbogeschwindigkeit ziehe ich mich an.

Bevor ich es vergesse: Max ist mein Freund. Er besucht eine andere Eliteschule und wir haben uns über gemeinsame Bekannte kennengelernt. Aber wir sehen uns nicht so oft, weil er wenig Zeit hat.

Während ich Mareike folge, frage ich mich, was heute mit mir los ist. Je länger der Tag voranschreitet, desto verwirrter ist mir zumute. Es ist, als lebte ich in der falschen Welt: Heute früh wachte ich auf und dachte echt, mein Handy könnte von alleine schreiben. Unauffällig kneife ich mich in den Arm und obwohl es etwas zwickt, fühlt sich die Realität seltsam an. Als wäre ich in Wirklichkeit gar nicht Mimi. Dieses unwirkliche Gefühl verfolgt mich bis zum Klassenzimmer. Doch als Mareike und ich über die Türschwelle treten und ich die anderen beiden Mädels sehe, verfliegt die Unsicherheit: Wir halten auf sie zu, lassen uns auf Stühle sinken und zücken die Handys. Annabelle erzählt gestenreich, wie das Date mit ihrem neuen Freund war. Wir lachen und knipsen Fotos, um sie auf unserer gemeinsamen Seite zu posten. Meine Girls und ich; Tage, wie ich sie liebe.

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