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Schickimickimimi und der Schulloser

Die Sonne ist bereits untergegangen und nur vereinzelt höre ich noch Vögel zwitschern. Ich liege abends auf der Terrasse auf einer Sonnenliege, chille und leite das Wochenende ein. Da mir leicht kühl ist, habe ich seinen Hoodie angezogen. Er riecht gut, also, das Kleidungsstück. Aber wenn es riecht wie er riecht, dann riecht auch Ryan gut. Schnell schiebe ich diesen Gedanken beiseite, denn Mareike hat recht: Er ist der Schulloser, zumindest aus unserer Sicht. Keine von uns würde mit ihm etwas anfangen, weil er nicht zu unserer Clique gehört. Wir, der Girl‘s Club, gehören zu den Angesagten der Schule: Wir legen Wert auf ein stylishes Auftreten und lassen uns nur mit Jungs derselben Gesellschaftsschicht ein. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob nur ich diejenige bin, die sich auf Max einlässt oder er sich auch auf mich. Seit fast einem Jahr sind wir zusammen, haben uns aber schon ein paar Mal getrennt. Meistens habe ich die Trennung ausgesprochen, wenn er sich zu wenig um mich gekümmert hat. Für eine Weile hat er sich dann bemüht, doch seit einigen Wochen, wenn nicht sogar Monaten, ist es anders.

Ich ziehe das Handy aus der Tasche des Hoodies hervor, um eine Nachricht an ihn zu tippen. Wir hatten per Chat festgehalten, uns am Wochenende zu treffen, aber keine Einigung wegen der Uhrzeit erreicht. Morgen ist Samstag und die Girls sind ebenfalls mit ihren Boyfriends verabredet, bis auf Mareike, die Single ist. Ich habe keinerlei Lust, alleine zu Hause abzuhängen und sende vorsorglich auch ihr eine Nachricht, falls Max nicht zeitnah antwortet, was bei ihm momentan häufiger passiert. „Hast du morgen schon was vor?“, frage ich sie. Es dauert nicht lange und sie hat die Nachricht gelesen. Auch Max hat meine Nachricht gelesen, doch nur sie antwortet: „Sorry Honey, aber ich bin verabredet. Mit einem total süßen Typen, auf den ich schon total lange scharf bin.“

Ich runzele die Stirn, denn davon hat sie gar nichts erzählt, was untypisch für sie ist, da Mareike sonst keinen Hehl aus ihren Errungenschaften macht.

„Wer ist es denn?“, hake ich neugierig nach.

„Eine Lady genießt und schweigt“, erhalte ich zur Antwort. Dazu ergänzt sie ein Mobfie, das geheimnisvoll den Zeigefinger auf die Lippen legt. Ich stutze und frage mich, was die Geheimniskrämerei bedeutet, als Max mir antwortet. Es ist merkwürdig, aber seine Worte treffen mich eiskalt: „Morgen habe ich keine Zeit. Wir hatten ja auch nichts Festes ausgemacht. Ich melde mich, ok?“

Das klingt nicht nach einer liebevollen Beziehung, aber das kenne ich schon von ihm. Schnell gehe ich in Gedanken meine Alternativen durch. Im Laufe unserer gemeinsamen Zeit habe ich schon so einiges ausprobiert: schmollen, lächeln, sachte meckern, locker bleiben, Wutanfälle. Mir fällt nichts ein. Mein Gehirn spuckt keine Lösung aus. Die Türglocke reißt mich aus den Gedanken. Leise fluchend erhebe ich mich – welcher Idiot kommt auf die Idee, jetzt noch vorbeizukommen? – und gehe zur Tür. Es klingelt aufs Neue.

„Ich komme ja schon“, rufe ich deutlich genervt und reiße die Haustür auf: Ryan steht davor. Schelmisch grinsend, mustert er mich.

„Ich möchte meine Jacke abholen“, sagt er höflich.

„Welche Jacke?“, frage ich richtig dumm zurück und möchte mir am liebsten mit der Hand vor die Stirn langen, um die Gehirnzellen anzukurbeln.

„Diese da“, antwortet er und zeigt auf mich oder vielmehr gesagt, auf den Hoodie, den ich soeben trage. Gut, für mich ist das ein Pullover, aber er scheint das Kleidungsstück wie eine Jacke anzusehen.

„Soll ich reinkommen oder willst du dir den Hoodie gleich hier vom Leib reißen? Ich bin übrigens für beides offen.“ Irre ich mich oder ist er kurz davor, sich vor Lachen auf dem Boden zu kringeln?

„Fühle dich bloß nicht bestätigt“, kontere ich und trete beiseite. Mit einer Handgeste bitte ich ihn ins Haus.

Er tritt ein. „Womit denn?“, hakt er nach und lächelt. Ich erwidere das Lächeln – bis ich merke, was ich mache: Ich lächele den Schulloser an, doch der Schulloser riecht gut und schockartig wird mir klar, dass ich nicht nur in seinem Hoodie, sondern auch in Jogginghose vor ihm stehe. Nicht einmal meine Haare sind frisiert. What a shame. Nach dem Abschminken habe ich sie quasi auf den Kopf geworfen und sie schlicht mit einem Haargummi fixiert. So würde ich die Schule niemals auch nur betreten. Trotzig beschließe ich, dass mir das bei einem wie ihm durchaus egal sein kann und überbrücke meine aufkommende Unsicherheit, indem ich die Tür schließe und vorausgehend in die Küche eile.

„Ihr habt ein schönes Haus“, sagt er und folgt mir. In der Küche öffne ich den Kühlschrank.

„Willst du etwas trinken? Wasser, Tee, Kaffee“, ich zögere, bevor ich skeptisch ergänze, „Alkohol?“ Zur Antwort lacht er laut und antwortet: „Einen Kaffee hatten wir heute schon und Alkohol trinke ich nicht. Ich bin mit dem Motorrad hier. Wasser wäre gut.“ Er zieht sich die Lederjacke aus und ich, die das Gefühl hat, in einem Déjà-vu zu sein in Anbetracht seines Anblicks, wende schnell den Blick ab. Nicht falsch verstehen: Ich bin keine Jungfrau mehr, denn eine Beziehung ohne Sex schloss Max von Anfang an aus, aber die heftige Art, mit der mein Innerstes auf Ryan reagiert, ist nicht dieselbe körperliche Reaktion, die ich von Max her kenne. Das verwirrt mich. Ich fühle mich wie eine alberne Kuh in einem kitschigen Hollywood-Liebesfilm, der zudem schlecht geschauspielert ist. Und ich bin die trottelige Hauptdarstellerin, die sich nur mühsam davon abhalten kann, stotternd alles aus den Händen fallenzulassen oder sogar deppert gegen die nächstbeste Tür zu rennen, obwohl zwischen ihm und ihr im Grunde gar nichts Funkenerregendes passiert ist. Doch wieso fühle ich mich dann so?

Zur Ablenkung nehme ich ein Glas aus dem Schrank und fülle es mit Wasser. Ich stelle es vor ihn auf den Tisch und befülle für mich auch eins. Schnell beschließe ich, nicht hier in der Küche zu bleiben, sondern mit ihm auf die Terrasse zu wechseln. Dort ist es wenigstens nicht so hell, denke ich.

„Lass uns rausgehen“, sage ich knapp und gehe bereits vor. Mit dem Wasserglas in der Hand und der Lederjacke über dem Arm folgt er mir.

Wir setzen uns gegenüber auf die Terrassenmöbel und ich stelle das Glas auf einem kleinen Tischchen ab.

„So gefällst du mir übrigens besser“, sagt er, nachdem er einen Schluck getrunken hat, und stellt ebenfalls das Glas auf den Tisch. „Die viele Schminke steht dir nicht.“

Das Licht in der Küche scheint durch das Fenster hinaus auf die Terrasse, wodurch wir nicht völlig im Dunkeln sitzen. Dem Himmel sei Dank, aber Hanna ist nicht zu Hause und Leon übernachtet bei einem Freund. Urplötzlich wird mir bewusst, mit Ryan ganz alleine zu sein. Das Gefühl, welches sich daraufhin in meinem Bauch ausbreitet, lässt mich nervös werden.

„Das ist wohl Geschmackssache“, erwidere ich langsam und ungewohnt diplomatisch.

Ryan legt die Lederjacke auf einen der Stühle, steht auf und setzt sich zu mir auf die Sonnenliege. Ich ziehe die Beine ein. Mit der Hand umfasst er mein Kinn.

„Stimmt“, murmelt er und betrachtet mich eingehend. „Aber zu dir passt es trotzdem nicht.“ Er rückt näher und ehe ich mich versehe, küsst er mich sanft. Innerlich explodiere ich und lasse es geschehen. Was mache ich hier eigentlich?, protestiere ich in Gedanken, als Ryan ein Stück von mir abrückt. Das war es schon?, denke ich enttäuscht, bevor ich mich selbst stoppen kann. Ich verstehe auf einmal, wie wenig Romantik mit Rosen und Pralinen zu tun hat, sondern damit, wie zwei Menschen miteinander fühlen. Denn obwohl er kein Geschenk mitgebracht hat, spüre ich dennoch mein Herz aufgeregt schlagen.

„Eigentlich bist du eine arrogante, blöde Schnepfe“, höre ich ihn da sagen. „Ich konnte dich nie leiden“, fährt er fort, „aber seit heute Morgen bist du so anders.“

Üblicherweise höre ich Komplimente anderer Art, denn ich bin es gewohnt, stets mit dem coolsten Jungen zusammen zu sein, der von seinen Freunden meinetwegen beneidet wird. Doch auf eine nicht zu beschreibende Art und Weise hat Ryan recht, auch wenn ich es nicht gerne zugebe. Also, dass ich seit heute Morgen irgendwie anders bin, meine ich natürlich, nicht, dass ich eine Schnepfe bin.

Zärtlich wischt er mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und rückt näher. Ich komme ihm entgegen und wir küssen uns erneut. Ich lege meine Arme um ihn und schmiege mich an ihn, woraufhin er mich um die Taille fasst und auf seinen Schoß zieht. Ich habe noch nie mit einem Jungen so geknutscht wie mit ihm und will nicht aufhören. Er anscheinend auch nicht, denn soeben lässt er mich rückwärts auf den Rücken gleiten. Ich öffne den Reißverschluss des Hoodies, worunter ich nur einen BH trage, und ziehe sein T-Shirt hoch. Er legt sich auf mich. Ich spüre seine Haut auf meiner und berühre seinen Rücken mit der Hand. Auf einmal höre ich eine Stimme rufen: „Mimi? Bist du zu Hause?“ Die Haustür knallt zu. „Wem gehört das Motorrad?“, folgt als nächste Frage.

Mist, denke ich, lasse ein letztes Mal meine Zunge in seinen Mund gleiten und verschließe hastig den Hoodie. Gerade noch rechtzeitig, denn das Licht auf der Terrasse schießt an und Hanna tritt durch die Tür ins Freie.

„Oh“, sagt sie nur und betrachtet Ryan und mich zusammen auf einer Sonnenliege sitzend.

„Hallo Mom“, antworte ich. „Ähm, das ist Ryan. Wir sind auf einer Schule.“

Ihre Augen verengen sich.

„Wir kennen uns bereits“, sagt Ryan und erhebt sich. Er nimmt seine Lederjacke vom Stuhl und mein Herz fühlt sich schwer an. Mir wird klar, dass er drauf und dran ist zu gehen.

„Richtig“, erwidert Hanna kühl und beherrscht. Denn in diesem Moment ist sie nicht mehr nur meine Mutter, sondern vorrangig die erfolgreiche Staatsanwältin; mir schwant Böses.

„Du wirst ihn nicht mehr wiedersehen“, befiehlt sie. „Er gehört wohl kaum zu unserer Gesellschaftsschicht.“

„Mom, wir sind hier nicht in einer Seifenoper, ich bin alt genug, selbst zu entscheiden“, erwidere ich in einem gelangweilten Tonfall, obwohl ich merke, wie mir das Herz zerbricht. Reiß dich zusammen, das war nur eine unbedeutende Knutscherei mit dem Schulloser, raunt mich eine unfreundliche innere Stimme an.

„Zum einen bist du in einer Beziehung, junge Dame, und zum anderen will ich so jemanden nicht als Schwiegersohn haben“, schnauzt Hanna und verschränkt provokativ die Arme. Das Gespräch ist beendet.

Ryan lacht laut, fasst sich an den Kopf und schüttelt diesen spöttisch. Dann nickt er mir zum Abschied zu und geht tatsächlich.

„Geh auf dein Zimmer“, befiehlt sie, als wäre ich noch zehn Jahre alt. Aber da ich keine Lust mehr auf ihre Visage habe, befolge ich ihren Befehl sogar.

Im Zimmer angekommen, lasse ich mich auf das Bett sinken. Keine Ahnung, welcher Teufel meine Mutter eben geritten hatte – falls sie überhaupt noch geritten wird, denke ich bösartig – oder woher sie und Ryan sich kennen. In Gedanken durchlebe ich die Knutscherei noch einmal, spüre seinen Körper auf meinem und ahne: Ich will mehr davon. Ich war wie auf Autopilot mit ihm. Max ist mir in diesem Moment schnuppe, denn wenn er sich nicht um mich kümmert, ist er es letztlich selbst schuld. Ryan hat mir etwas gegeben, was ich bisher von keinem Jungen bekommen habe: wahres Verlangen. Doch hier fangen die Probleme an, denn ich weiß nichts über ihn, das Schuljahr ist vorbei und ich habe keine Ahnung, was ich machen soll. Mareike um Rat zu bitten, kommt nicht infrage. Auch die anderen Girls kann ich schlecht einbeziehen, da sie Ryan überhaupt nicht eroberungswert finden. Frustriert schlüpfe ich unter die Decke und ziehe sie mir über den Kopf.

Am nächsten Morgen sitze ich beim Frühstück. Nicht nur, dass ich Philippas erstaunten Gesichtsausdruck schon wieder ignorieren muss, weil ich an zwei Tagen in Folge in der Frühe esse, nein, währenddessen schreibe ich sogar eine Nachricht an Max: „Kein Problem, ich habe heute auch schon etwas vor.“

Das war’s. Kein Abschiedsgruß, keine Floskel, nichts. Nachdem ich die Nachricht versendet habe, schmunzele ich, denn Gelassenheit habe ich bisher nicht als Beziehungstaktik versucht. Seit gestern denke ich jedoch nicht so viel an ihn und die Nachricht von eben ist nur eine kleine Racheaktion für nebenbei. Denn Ryan geht mir nicht aus dem Kopf. Ein Rätsel hat sich ergeben: Wo nur verbringen Schulloser ihre Freizeit? Ehrlich gesagt, habe ich mich damit bisher nie befasst. Gibt es hierzu eventuell ein Tutorial auf WeViddy?, frage ich mich.

„Ich gehe die Post holen“, sagt Philippa und ich nicke; als ob es mich interessiert. Warum muss sie ihre Aufgaben kommunizieren? Was kümmert es mich, womit sie ihr Geld verdient? Doch als sie zurückkommt, legt sie einen Flyer vor meine Nase auf den Tisch.

„Warum wirfst du das nicht weg?“, fahre ich sie an. „Da steht dein Name drauf, Mimi“, antwortet sie. Danach wendet sie sich dem Entsafter zu, um neuen Orangensaft zu pressen. Hanna hasst es, wenn es morgens keinen frischen Saft zum Frühstück gibt, auch wenn wir diesen dennoch selten trinken.

Ich blicke hinunter und sehe meinen Namen auf dem Flyer: Suki. Nicht Mimi, sondern Suki. Vor mir liegt ein Flyer für ein Konzert in einem Klub, von dem ich bisher noch nie gehört habe, geschweige denn jemals freiwillig reingegangen wäre: Harold’s. Schon der Name klingt ätzend, dennoch suche ich ihn online und finde heraus, dass dort Livekonzerte gespielt werden. Heute von der Band „Jumpers“. Diese Band sagt mir gar nichts und auf der Homepage des Klubs wird kein Foto abgebildet. Ich frage mich, wer den Flyer in unseren Briefkasten gesteckt hat und beschließe, dies heute herauszufinden, denn ich habe ja sonst nichts vor.

Unschlüssig stehe ich abends vor dem Klub und zögere, diesen zu betreten. Ich zupfe den Hoodie zurecht, den ich wieder trage. Die Location ist noch nicht einmal von außen mein Ding. Nichts ist schick, ich sehe keine coolen Leute und auf dem Parkplatz hängen viele Menschen mit ihren Motorrädern ab. Einige Minuten zuvor, als ich mit dem pinken Sportwagen dort hielt, glotzten sie mich dementsprechend ungläubig an. „Ich hole mir auch ein Bike in der Farbe“, hatte einer gewitzelt und brachte die Umherstehenden zum Lachen.

Dennoch stehe ich nun am Eingang und bezahle die Eintrittsgebühr. Die Rockmusik, die mir entgegen dröhnt, kann ich schon jetzt nicht leiden. An der Bar kaufe ich mir eine Limo. Auf dem Glas ist der Fettfleck eines Fingers zu sehen, weshalb ich ein Taschentuch hervorhole und das Glas putze, bevor ich es mit den Händen berühre. „Igitt“, murmele ich und halte nach einem freien Tisch Ausschau. Am Rande der Tanzfläche finde ich einen, gehe hinüber und inspiziere die Sitzfläche des Stuhles. Da diese nicht verschmutzt zu sein scheint, setze ich mich vorsichtig auf den Rand. Unauffällig schaue ich mich um: Wie peinlich es doch wäre, in solch einem Schuppen gesehen zu werden. Glücklicherweise kommt mir hier niemand bekannt vor. Erleichtert trinke ich etwas von der Limo. Soeben wird der heutige Liveact angesagt, woraufhin das Publikum in Jubel ausbricht. Als die Band die Bühne betritt, muss ich vor Überraschung zweimal hinsehen: Mit einer Gitarre in der Hand hält Ryan auf einen Barhocker in der Mitte der Bühne zu, wohingegen seine Bandkollegen hinter weiteren Instrumenten Platz nehmen. Sie stimmen den ersten Song für eine Akustiksession an. Ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus, denn ich hatte nicht gewusst, dass er in einer Band ist. Bis gestern war es mir vollkommen egal, dass es ihn gibt.

Er spielt und singt die ersten Töne. Seine Stimme klingt tief und warm. Die vielen Mädels vor der Bühne himmeln ihn mit großen Augen an und singen jede Zeile mit. „Sieh mal einer an! Der Schulloser ist ein heimlicher Star“, murmele ich und nippe an der Limo. Obgleich ihn die weiblichen Wesen deutlich anschmachten, erzeugt es in mir keinerlei Eifersucht. Denn er hat gestern mit mir geknutscht und dann den Flyer in meinen Briefkasten gesteckt. Er will mich also heute Abend hier haben. Mir war bisher gar nicht bewusst, dass Schulloser so sexy sein können und lasse mich von der Musik davontragen.

Fast zwei Stunden später verlassen er und seine Band die Bühne, um den Platz für den nächsten Liveact zu räumen. Eine Pause setzt ein. Leise spielt derweil Rockmusik im Hintergrund und ich überlege, wie lange ich noch bleiben werde.

„Du bist also tatsächlich hier“, sagt er und steht unvermittelt vor mir, zieht einen Stuhl beiseite und setzt sich zu mir an den Tisch. Ich senke die Augen zum Boden und schaue ihn von unten an. Meine Wimpern habe ich zu Hause nachlässig getuscht. Nur ein bisschen, da ich in diesem Harold’s niemanden von Wichtigkeit vermutet hatte. Nun bin ich froh, mich nicht mehr geschminkt zu haben, da er erst gestern bemerkt hatte, dies nicht zu mögen. Den ganzen Tag habe ich an ihn gedacht. Allerdings habe ich nicht damit gerechnet, dass der Flyer von ihm stammt. Er lehnt sich im Stuhl zurück und betrachtet mich.

„Warum sollte ich denn nicht hier sein?“, erwidere ich und werfe ihm einen weiteren koketten Blick zu.

Ryan lächelt, fährt sich mit der Handfläche über das Gesicht, rückt dann näher an mich heran und nimmt meine Hand. „Lass das“, sagt er leise und schaut mir in die Augen. Mir wird etwas mulmig zumute und ich wende den Blick ab. „Was denn?“, frage ich ihn.

„Das da“, antwortet er. „Diese Fassade, die du ständig präsentierst.“

„Du meinst die Schminke? Das macht jedes Mädchen“, erwidere ich und mime die Coole. Doch Ryan schüttelt den Kopf. „Nein, die Schminke meine ich nicht. Ich meine dieses Mimi-Getue, dieses kokette, schmollende, arrogante Mädchen, das du am liebsten von dir zeigst.“ Er lässt meine Hand nicht los.

„Aber so bin ich nun einmal“, sage ich, rücke mit dem Stuhl näher, lege meine Wange gegen seine Schulter und schaue ihn an. Er lässt meine Hand los und streicht mir über den Arm. „Nein“, antwortet er nur, steht auf und verlässt den Tisch.

„Ryan, warte“, rufe ich schnell, woraufhin er sich zu mir umdreht. Verlegen lächele ich, dieses Mal ohne jegliche Absicht. Ich stehe nun selbst auf und gehe zu ihm, stelle mich vor ihn und streiche ihm über die Arme.

„Keine Spielchen, ich mag ehrliche Mädchen“, lächelt er und küsst mich sachte auf die Lippen. Mein Herz hüpft. Ich nicke, lächele und erwidere den Kuss. Er nimmt mich in den Arm und drückt mich an sich, als wäre es nie anders zwischen uns gewesen.

Nach ein paar Minuten verlassen wir zusammen den Klub. In einem Kiosk kaufen wir eine Flasche Wasser und Schokolade. Ich hatte damit gerechnet, er würde auf Alkohol bestehen, doch Ryan winkt nur ab. Für die Jungs in meiner Clique ist der Abend erfolgreich, wenn der Alkohol fließt, dementsprechend verwundert mich Ryans Reaktion. Er scheint echt anders zu sein, aber ich beginne, es zu mögen.

Gemeinsam gehen wir schweigend in der lauen Sommernacht spazieren. Ryan hält meine Hand. Wir biegen in einen Park ab, der sich einen kleinen Hügel hocherstreckt. Der Park ist sehr idyllisch und führt letztendlich zu einem Schloss, welches am Tag eine wahre Touristenattraktion ist. Doch jetzt, bei Nacht, sind wir hier ganz für uns. Auf dem Hügel angekommen, setzen wir uns nebeneinander auf eine Parkbank und teilen uns das Wasser.

„Ist dir kalt?“, fragt er. Ich schüttele den Kopf, nehme seinen Arm und lege ihn über meine Schulter. Dann kuschele ich mich etwas näher an ihn, während ich die Flasche in der Hand halte. Mir fällt auf, wie leicht es mit ihm ist. Mit Max habe ich noch nie so gekuschelt. Er findet das lächerlich. Schnell schiebe ich die Gedanken an Max beiseite und widme meine Aufmerksamkeit meiner Begleitung.

„Warum dachtest du, ich würde nicht in den Klub kommen?“, frage ich ihn. Er zuckt mit den Schultern, bevor er antwortet: „Weil ich dich bisher so eingeschätzt habe, andere Locations zu mögen. Außerdem habe ich dich dort noch nie gesehen.“

„Stimmt“, halte ich fest und werfe einen Blick in den Sternenhimmel. „Es ist komisch, noch gestern früh kannten wir uns eigentlich nicht, obwohl wir schon seit Jahren zur selben Schule gehen“, murmele ich. „Wie schnell sich das Leben ändern kann“, murmelt er zurück und küsst meine Haare. „Woher kennst du meine Mutter?“, wechsele ich abrupt das Thema. Ryan seufzt. „Mein Vater wurde wegen Betrugs verurteilt, hatte aus Geldgier krumme Geschäfte abgeschlossen. Sie war die Staatsanwältin und ich hing an jedem Verhandlungstag vor dem Gericht ab. Einmal sprach ich sie sogar an, sie solle meinen Vater in Ruhe lassen. Wahrscheinlich hatte sie mich damals mit ihm in einen Topf geworfen und ihr Urteil über mich gefällt.“

Unerwartet muss ich lachen, denn das ist typisch Hanna. „Ja, sie ist sehr stolz und gibt niemals zu, einen Fehler begangen zu haben. Sie ist nicht ohne Grund Staatsanwältin. Aber hatte dein Vater die Strafe denn nicht verdient?“, frage ich nach.

„Klar, aber das Strafmaß war trotzdem überirdisch. Ich war damals noch nicht sechzehn, mein Vater war mein Held und seinen Helden will man nicht im Knast sehen. Aber wahrscheinlich war es das Beste für ihn: Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.“

Wir unterhalten uns noch viele Stunden lang, erzählen uns gegenseitig unser Leben. Ich beschreibe den Rosenkrieg meiner Eltern bei ihrer Scheidung. Wie mein Vater seitdem nur noch mit Frauen, kaum älter als ich, zusammen ist, ich ihm oft genug auf Partys begegne und meine Mutter trotz Scheidung darüber flucht, als würde er sie betrügen. Die Zeit vergeht und steht dennoch still für mich. Ryan stellt viele Fragen, die zeigen, dass er mir eingehend zuhört, was mich sehr überrascht. Egal, was ich erzähle, Max kommentiert alles mit „Aha“, „Ochja“, „Na sowas“ und gibt auf Rückfragen meinerseits Antworten, die überhaupt nicht zum Inhalt passen, weshalb ich oft genug damit beschäftigt bin, Möglichkeiten zu finden, seine Aufmerksamkeit zu behalten.

Ganz anders Ryan: Ich fühle mich wohl in seiner Gegenwart, ohne Wenn und Aber, Tricks und Strategien. Offen sagt er, was er denkt und fühlt, wie er sein Leben in Songtexten verarbeitet. Er erzählt mir, wie er sich selbst schwor, immer mehr Sein als Schein zu sein, nachdem sein Vater verurteilt worden war. Wieder kommt mir Max in den Sinn, seine Begeisterung für schnelle Sportwagen und deren technische Details. Unvermittelt schießt mir eine Frage in den Kopf: Ob ich mir wohl deshalb den pinken Sportflitzer zum letzten Geburtstag gewünscht habe? Um ihm zu gefallen? Schnell verwerfe ich den Gedanken an Max und wende mich wieder Ryan zu. Es ist Sommer, es sind Ferien; ich will mein Leben genießen.

Am nächsten Morgen wache ich auf, weil unten die Musik viel zu laut spielt: „Ohne mich, my life is over. Without me, yes, mein Leben ist vorbei“, säuselt der Schmusesänger und leise fluchend richte ich mich auf. Der Wecker zeigt eine für das Wochenende menschenunwürdige Zeit von acht Uhr früh an, wohingegen jemand im Haus schon mehr als wach zu sein scheint. Rasch ziehe ich mir ein überlanges T-Shirt an, stehe auf und wanke aus meinem Zimmer. Gähnend steige ich die Treppe hinab und gehe zur Wohnzimmertür hinüber. Das Schmuselied dudelt ununterbrochen, wozu Hanna in der Mitte des Raumes Yogaübungen ausführt, die aussehen, als hätte sie Gummiknochen. Sie bemerkt mich, löst sich aus einer Haltung, erhebt sich und schaltet mit einer Fernbedienung die Stereoanlage aus.

„Guten Morgen“, grüßt sie mich lächelnd. „Seit wann bist du zu Hause?“, fragt sie und lässt ihren Oberkörper aus dem Stand hinabsinken. Sie legt ihre Hände vor den Zehenspitzen auf dem Boden ab.

„Ich war gegen vier Uhr wieder hier“, erwidere ich und hoffe, sie horcht nicht weiter nach.

„Mit den Mädels unterwegs?“, fragt sie mit gesenktem Blick, sich auf die Dehnübung konzentrierend.

„Ja“, lüge ich ohne rot zu werden und fahre fort, die Wahrheit zu sagen, damit die Anfangslüge glaubwürdiger wird: „Die Mädels fahren heute mit ihren Boyfriends in den Urlaub und wir haben zum Abschied gefeiert.“ Dass ich mit Ryan unterwegs war, muss die erfolgreiche Staatsanwältin ja nicht wissen. Die erhebt sich und streckt sich in die Höhe. Blöd nur, da sie mich nun dabei ansehen kann.

„Ach, hat Mareike neuerdings einen Freund? Ich dachte, sie wäre Single?“, fragt Hanna und dehnt sich noch etwas mehr.

„Dachte ich auch, aber es gibt wohl einen ominösen neuen Lover“, grinse ich.

„Mmh, spannend“, schmunzelt meine Mutter und wechselt das Thema: „Der Privatjet steht übrigens vollgetankt bereit, wir können gleich nach dem Frühstück nach Ibiza aufbrechen, wie jedes Jahr.“

Oha, das habe ich ja völlig vergessen: der jährliche Ibiza-Sommertrip; Mädels-Time mit meiner Mutter. Einen Luxus, den wir uns leisten können, da sie das Millionenvermögen meiner Großeltern geerbt hat. Jedes Jahr freue ich mich riesig darauf, weil wir dann Ferien in einer luxuriösen Villa genießen, täglich shoppen und in superschicken Restaurants essen gehen. Aber ich habe es wegen Ryan schlicht vergessen und mich für die kommenden Tage mit ihm verabredet. Oha!

Tief Luft holend, wappne ich mich für das, was ich nun verkünden muss. „Diesen Sommer möchte ich zu Hause bleiben.“ Hannas Blick schießt zu mir hinüber. „Was? Warum das denn?“, fragt sie ungläubig, vergisst Yoga für einen Moment und schaut mich unentwegt an.

„Wegen Rodolfo“, flunkere ich schnell und beziehe mich auf ihren Ibizaflirt.

„Wem?“, fragt sie.

„Dem spanischen und vor allem reichen Unternehmer vom Festland“, sage ich stirnrunzelnd.

„Du meinst Alfonso?“, korrigiert Hanna mich.

„Äh, ja, den meine ich. Solange ich dabei bin, wird er sich bei dir nicht vorwagen. Schon letztes Mal lungerte er ständig um uns herum und beäugte mich kritisch, als wäre ich deine Aufpasserin.“ Ich lache bei der Erinnerung daran, denn so hatte es sich in der Tat zugetragen. Auch sie lacht auf und ich fahre fort: „Außerdem hatte Max vorgeschlagen, dieses Jahr spontan gemeinsam in die Karibik zu fliegen, wenn sein Vater den Privatjet nicht braucht“, schwindele ich weiter.

Sie legt sich die Hand aufs Herz. „Dann will ich deinem Glück nicht im Wege stehen“, zwinkert sie und presst die Hände in Schulterhöhe zusammen, um die Oberarme zu trainieren.

„Oder ich deinem Glück nicht“, lache ich und mache mich in die Küche auf. Gott sei Dank war mir das Argument „Ibizaflirt“ so schnell eingefallen. Denn schon lange ist der arme Alfonso richtig heiß auf Hanna und versucht, bei ihr zu landen. Bisher zierte sie sich davor, offen mit ihm zu flirten, weil sie meinte, mir sonst ein schlechtes Vorbild zu sein. Doch nun kann sie sich mit ihm ungehindert jeglicher Vorbildfunktionen in den nächsten Wochen in den Bettlaken wälzen, denke ich amüsiert. Natürlich interessiert es mich nicht, wen sie trifft. Aber sie wird nun nicht mehr auf die Idee kommen, sich zu fragen, mit wem ich meine Zeit verbringe. Und so fahre ich sie nach dem Frühstück zum Flughafen, winke zufrieden dem Privatjet hinterher und begebe mich noch glücklicher auf den Heimweg. Das Haus ist menschenleer und ich habe sturmfrei, da Leon für die Dauer der Sommerferien bei Moaz ist. Der Sommer kann kommen.

Leise Kuschelmusik spielt im Hintergrund. Um den Pool herum habe ich Kerzen und Lichter aufgestellt, die romantisch in die Nacht hinausleuchten. Ryan und ich knutschen im Wasser, zwischen uns nur der Stoff der Schwimmsachen. Es fiel mir den Tag über schwer, einen passenden Bikini auszusuchen, den er mögen könnte. Denn das ist ja schließlich mein Anliegen: ihm zu gefallen. In meiner Clique laufen die Mädels entweder in raffinierten oder aber äußerst knappen Bikinis herum. Bei Ryan hingegen habe ich Skrupel, mich so zu zeigen. Wie sagte er neulich? Schickimickimimi. Also suchte ich in den Tiefen des Kleiderschranks nach einem adrettsimplen Exemplar und wurde fündig. Zu meiner Überraschung hatte er sowieso kaum hingesehen, als ich so vor ihm stand, sondern mir die ganze Zeit nur in die Augen geblickt. Wie jetzt auch: Nachdem er mich geküsst hat, betrachtet er mich und streicht mir eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht. „Woran denkst du gerade?“, flüstert er und fährt sanft mit dem Zeigefinger über meine Wange.

„Ich denke, dass normalerweise Mädchen Jungs genau diese Frage stellen“, lächele ich, rücke etwas näher und reibe meine Nase an seinem Kinn. Er lacht auf: „Packen wir nun die Rollenklischees aus? Und als nächstes kommt Schickimickimimi und der Schulloser?“

„Nein, lass uns nicht über so etwas reden“, versuche ich das Thema zu wechseln und schmiege mich an ihn. Er legt die Arme um mich, mein Kopf liegt auf seiner Brust.

„Was würden deine Freunde sagen, wenn sie wüssten, mit wem du gerade Zeit verbringst?“, neckt er mich jedoch weiter.

„Ist mir egal, ich entscheide selbst, mit wem ich zusammen bin“, erwidere ich und küsse seine Brust. Ich verschiebe jegliche Gedanken daran aus meinem Kopf und beschließe, mich heute nicht darum zu kümmern.

„Das heißt, wir sind zusammen?“, fragt er und drückt mich sachte von sich, um mir in die Augen zu sehen.

Ich erwidere seinen Blick. Etwas Merkwürdiges passiert in mir: Auf einmal kommt es mir so vor, als sähe ich ihn zum ersten Mal. Natürlich stimmt das so nicht, denn etliche Male muss ich in der Schule an ihm vorbeigegangen sein, ohne ihn wahrzunehmen. Dennoch sehe ich ihn heute zum ersten Mal. Mein Herz klopft schneller. Geduldig wartet er auf eine Antwort zu seiner Frage.

Ich nicke.

Vogelgezwitscher klingt durch das geöffnete Fenster in mein Zimmer hinein. Die kühle Morgenluft strömt über uns hinweg. Wir liegen im Bett, ich in seinen Armen, meine Augen lasse ich geschlossen, um den Moment noch länger zu genießen. Es fühlt sich schön an, in seinen Armen aufzuwachen, ihn bei mir zu spüren. Ich erinnere mich, wie wir die Klamotten wahllos vor dem Bett verteilt liegen ließen, und durchlebe lächelnd nochmals, was nach dem Baden im Pool geschehen ist. Es war anders, als mit Max. Wie schon gesagt, ich bin keine Jungfrau mehr und wusste also, was passiert, und doch war alles neu. Weil ich es wollte. Weil wir beide es wollten. Aber anscheinend wollte ich es mit Max nicht so sehr, denn es liegen Welten zwischen ihm und Ryan.

Mit der Hand streiche ich über seine Brust, ertaste Haare, statt glattrasierter Haut. Gewöhnlich stehe ich nicht auf Brusthaare, doch bei Ryan gefallen sie mir. Ich spüre, wie er aufwacht, bevor er die Augen aufschlägt. Seine Arme halten mich nun fester und seine Wange berührt meine Haare. Etwas enger kuschele ich mich ebenfalls mit geschlossenen Augen an ihn.

„Und was machen wir heute?“, fragt er beim Frühstück auf der Terrasse. Die warme Morgensonne scheint auf uns hinab und wärmt mein Gesicht. Es ist ein angenehmes Gefühl, doch ich wünschte, nicht beim kleinsten Sonnenschein sofort braun zu werden. Manchmal beneide ich Mädchen mit hellem Teint, doch meine Oma mütterlicherseits pflegte zu sagen: „Die Verpackung lässt sich ändern, aber das Innere bleibt trotzdem gleich.“

Diesen schönen Morgen genießend, fühle ich mich schlicht pudelwohl. Bis auf uns ist das Haus verwaist. Philippa hat Urlaub und wird uns nicht stören, auch wenn dies bedeutet, dass wir uns selbst etwas werden kochen müssen. Aber egal, das wird zu schaffen sein. Es gibt ja zahlreiche Kochtutorials auf WeViddy. Dafür erfreue ich mich daran, ein Geheimnis zu haben: Ich habe einen heimlichen Freund und weder meine Mutter noch der Girl‘s Club wissen von ihm.

Ryan streicht mir über die Wange, weil ich seine Frage nicht beantwortet habe. In der Tat war ich zu sehr in Gedanken versunken und schaue ihn fragend an. Er lacht: „Was machen wir heute?“

„Vielleicht unternehmen wir eine Spritztour und picknicken danach?“, frage ich. Damit wäre das lästige Kochen auch erledigt, denke ich und wundere mich zur selben Zeit über mich selbst. Denn eigentlich stehe ich nicht auf solchen Spießerkram. Ein schönes Wochenende zu erleben, bedeutete bisher für mich, mit dem Privatflieger spontan zu einer Finca oder einer Jacht zu fliegen, aber garantiert nicht gewöhnlich auf einer Picknickdecke in derselben Stadt zu sitzen. Aber gut, warum nicht einmal etwas Neues ausprobieren, denke ich so bei mir und lächele, da er zustimmend nickt.

Kurz vor Mittag starten wir. Hinter ihm auf dem Motorrad sitzend, umklammere ich seine Hüfte und schmiege meine Wange im Helm an seinen Rücken. Verträumt lasse ich mich forttragen.

Nach mehr als einer Stunde kommen wir an: Ryan hat einen Park ausgesucht, der bekannt ist für seine lauschigen Ecken. An einem kleinen See breitet er die Decke aus und ich hole ein paar Snacks aus seinem Rucksack, die wir zuvor zusammen eingekauft hatten. Üblicherweise kauft Philippa bei uns sämtliche Lebensmittel ein. Deshalb fühlte ich mich zunächst erschlagen, als wir den Supermarkt betraten und ich überhaupt nicht wusste, wo was zu finden ist. Jedoch ließ ich mir nichts anmerken und genoss es sogar, mit ihm dort zu sein; wie ein normales Pärchen.

Auf der Picknickdecke sitzen wir für eine Weile beisammen, schweigen und sind einander genug. Mir fällt auf, dass Ryan nicht ohne Punkt und Komma bespaßt werden will und ich mich in seiner Gesellschaft fallenlassen kann.

„Wie geht es eigentlich nach den Ferien weiter?“, fragt er unvermittelt und nimmt sich einen Snack. Ich runzele die Stirn.

„Was meinst du?“

„Mit uns.“

„Was soll dann sein?“

Ryan lacht leise und zieht mich enger an sich. „Wird der Girl‘s Club deinen neuen Underdog-Freund denn akzeptieren?“

„Ich entscheide selbst, mit wem ich zusammen bin“, antworte ich und küsse ihn auf den Mund, damit er nichts erwidern kann. „Lass uns jetzt nicht darüber reden. Es ist doch gerade so schön“, flüstere ich und küsse ihn wieder. Er umarmt mich und küsst mich zurück. Glücklich kuscheln wir uns liegend aneinander. Die Welt ist schön. Die Ferien sind noch lang.

In den nächsten Wochen verbringen wir jeden Tag miteinander: Wir schlafen, essen, schauen fern, unternehmen viel zusammen. Spielt er in einem Klub, begleite ich ihn und lasse mich von seinen Groupies um den Platz an seiner Seite beneiden. Ich finde Gefallen an diesem Leben. Seine Bandkollegen und Freunde behandeln mich, als wäre ich schon immer da gewesen. Durch Ryan lerne ich viele neue Leute kennen, die ich aus der Schule natürlich nicht kenne. Mit ihnen hängen wir nach Konzerten ab, essen Burger oder gehen ins Kino. Durch das viele Fastfood habe ich etwas zugenommen und passe sicherlich nicht mehr ins Kleid für den Schulball. Dieser findet zum Beginn eines neuen Schuljahres statt und ich diäte mich gewöhnlich schon Wochen vorher auf diesen Tag hin. Vage erinnere ich mich an diesen einen Morgen, an dem Hanna mich genau darauf hinwies. Es scheint vor einer Ewigkeit gewesen zu sein. Doch jetzt mag ich nicht daran denken und sauge jeden Tag auf, als wäre es der Letzte meines Lebens. Ich denke nicht an gestern und morgen, sondern nur an das Jetzt. An Ryan.

Und an Philippa, die aus dem Urlaub zurückgekehrt ist und jeden Tag argwöhnisch Ryans Motorrad vor dem Haus begutachtet, bevor sie den Haushalt macht. Ich habe sie mir zur Brust genommen und ihr klargemacht, dass sie Mom keinen Pieps zu erzählen hat, wenn sie ihre Stelle behalten will. Mein Geheimnis ist also sicher.

Wir sitzen am frühen Abend im Wohnzimmer auf der Couch und schauen Fernsehen. Der Wohnzimmertisch ist übersät mit geleerten Pizzakartons und Chipstüten. An diesem Abend werde ich erstmalig von der Sorglosigkeit der vergangenen Tage eingeholt. Ein Auto brettert die Einfahrt hoch und anhand des Motorengeräusches erkenne ich sofort den Besitzer. Türen knallen in der Einfahrt. Hektisch springe ich auf und unterdrücke rechtzeitig den Impuls, Ryan am Arm hochzuziehen und nach irgendeinem Schrank als Versteck Ausschau zu halten. Erleichtert stelle ich dennoch fest, dass es Baba ist. Moaz ist lockerer als Hanna und wird mich bestimmt nicht verraten. Dann stürmt auch schon Leon trampelnd durch die Haustür in den Flur hinein und bleibt bei unserem Anblick wie angewurzelt auf der Türschwelle zum Wohnzimmer stehen. Für einen Moment starren wir uns gegenseitig an.

„Hi“, grüßt Ryan zuerst und stellt sich vor.

„Hallo“, grüßt Leon schüchtern zurück, was so gar nicht zu ihm passt. Mir bleibt keine Zeit, etwas zu erwidern, da Moaz hinter ihm erscheint.

„Wem gehört das Motorrad mit dem Bonzen Go to Hell – Aufkleber?“, fragt mein Vater und nimmt langsam die Sonnenbrille von den Augen. Einen Atemzug lang herrscht absolute Stille. Dann höre ich Ryan leise lachen und in einer normalen Lautstärke antworten: „Das Motorrad gehört mir. Fühlen Sie sich angesprochen?“ Er geht auf meinen Vater zu und hält ihm die Hand hin, die dieser kraftvoll annimmt.

„Hi, ich bin Ryan.“

„Und ich bin Moaz, der Vater“, erwidert Baba den Gruß und lässt seine Hand los. Er steckt sich die Sonnenbrille ans Hemd und betrachtet erst Ryan und dann mich. „So, ihr zwei seid also“, beginnt er augenzwinkernd, aber ich unterbreche ihn schnell. „Baba, bitte. Was macht ihr eigentlich hier?“

„Ich wollte meinen Tennisschläger holen“, piepst Leon leise, dreht sich um und stürmt die Treppe hinauf.

„Beeile dich, ja? Du solltest schon lange im Bett sein, Champion“, ruft Moaz ihm hinterher und wendet sich uns wieder zu. „Dasselbe könnte ich dich fragen. Bist du nicht mit Hanna auf Ibiza?“ Sein Blick fährt nichtsahnend durch das Wohnzimmer und bleibt beim Berg der Pizzakartons hängen.

„Wer hatte denn so viel Hunger?“, fragt Baba und schaut mich belustigt an, weil ich wie ertappt daneben stehe. Schnell lenke ich vom Tatort ab und beantworte seine erste Frage. „Keine Lust auf Ibiza“, antworte ich und geselle mich zu den beiden in den Flur.

„Kann mir vorstellen, warum“, grinst Moaz und fügt hinzu: „Wie habt ihr euch kennengelernt?“

„In der Schule“, antworte ich knapp.

„Sie hat mir ihre Liebe gestanden“, erwidert Ryan etwas ausführlicher. Ich werfe ihm einen gespielt bösen Blick zu.

Mein Vater zeigt sich interessiert: „Tatsächlich? Mimi ist eigentlich nicht gefühlsduselig. Was hat sie denn gesagt?“

Ryan lacht: „Es lag eher an den Tiernamen, die sie mir gegeben hat.“

Verwundert zieht Moaz die Augenbrauen hoch und fragt höflich nach: „Eine besondere Gattung von Spitznamen oder wie darf ich das verstehen?“

Schnell stelle ich klar: „Es waren keine Tiernamen, sondern eher Verwandtschaftsbezeichnungen.“ „Auf Arabisch“, ergänzt Ryan und legt den Arm um mich.

Moaz hat verstanden: „Sohn eines Esels, Ziege und so weiter?“ Nickend bestätigt Ryan dies und beide brechen gleichzeitig in Lachen aus.

„Ich freue mich, dass ihr euch so gut versteht“, merke ich ironisch an und füge an meinen Vater gerichtet hinzu: „Ich hoffe, du bleibst nicht lang?“ Daraufhin brechen wir alle in Lachen aus. Als Leons Kinderzimmertür laut ins Schloss fällt, macht sich Moaz wieder zur Haustür auf.

„Schön, dich kennengelernt zu haben“, ruft er Ryan zum Abschied zu, der ebenfalls so etwas in die Richtung erwidert, zum Abschluss winkt und ins Wohnzimmer zurückkehrt. Ich folge gemächlich meinem Vater zur Haustür hinüber.

Leon läuft lautstark die Treppe wieder hinunter. Gerade rechtzeitig, sonst wäre mein kleiner Bruder womöglich noch dagegen gerannt, öffnet Moaz die Tür und Leon rennt durch sie hinaus zum Auto. Mein Vater knufft mir zum Abschied ans Kinn und sagt leise: „Weiß die Staatsanwältin von ihm?“ Er zeigt zum Wohnzimmer hinüber. „Soll sie mir die Sache mit den Bienchen und den Blümchen erklären?“, necke ich zurück.

„Ganz und gar nicht“, er lächelt mich an, „aber du weißt, wie sehr deine Mutter Geheimnisse mag.“ Mit den Fingerspitzen deutet er Anführungsstriche an, da Hanna alles mag, nur das nicht.

„Wie konnte ich das nur vergessen, obwohl ihr euch genau deshalb habt scheiden lassen?“, erwidere ich und spiele auf seine Affäre an, die nach gut einem Jahr des Versteckspiels öffentlich wurde. Hanna war zu Hause ausgerastet, weil selbstverständlich sowohl Nachbarn wie auch Kollegen im Gericht über sie tuschelten. Als sie sich eines Nachts deshalb stritten, hörte ich klar und deutlich, wie sie schrie, so ein Ehemann sei ganz und gar nicht für sie geeignet. Kurze Zeit später war er dann auch schon ausgezogen.

Moaz lächelt sanft und ich finde, er sieht unerwartet traurig aus. „Habt ihr euch eigentlich jemals geliebt?“, frage ich leise und habe auf einmal Angst vor der Antwort. Warum erschließt sich mir nicht so genau, dennoch ängstigt mich ein mögliches Verneinen.

Zu meiner Erleichterung nickt er. „Sehr, aber wir konnten nicht mehr miteinander reden. Wir waren irgendwann zu unterschiedlich und haben den Zeitpunkt verpasst, es zu merken. Deine Mutter war früher anders, viel weicher und zugänglicher. Irgendetwas hat sie mit der Zeit verändert und ich habe es nicht gemerkt.“ Er atmet tief ein und aus. Dann sagt er etwas lauter: „Ich finde, er ist nett, aber ob ihr zueinander passt und es hält, liegt auch an dir, Mimi.“ Er tätschelt mir die Schulter und ist auch schon zur Tür hinaus. Auf jeden Fall frage ich mich, warum Moaz diese merkwürdigen Worte zu mir sagt, habe aber keine logische Antwort parat. Und so schüttele ich verwirrt den Kopf, beobachte ihn dabei, wie er den Motor startet, mir zuwinkt und davonbraust. Mit einem Achselzucken schließe ich die Haustür und kehre zu Ryan ins Wohnzimmer zurück.

Zu Beginn der vorletzten Ferienwoche kommt Ryan abends freudestrahlend zu mir. In der Tür stehend, hebt er mich hoch und wirbelt mich herum.

„Wir haben es geschafft!“, jubelt er und lässt mich herunter. Ich kapiere gar nichts und schaue ihn dementsprechend an, worüber er lachen muss.

„Wie du mich ansiehst, Suki. Meine süße Suki“, sagt er und gibt mir einen Kuss. Längst habe ich mich daran gewöhnt, dass er mich lieber beim Vornamen nennt, als meinen Spitznamen zu verwenden.

„Du sprichst in Rätseln“, antworte ich lachend und presse mich an ihn. Er legt die Arme um mich.

„Wir haben einen Plattenvertrag bekommen“, sagt er zwischen zwei Küssen.

„Nein“, schreie ich und spüre, wie sehr ich mich für ihn freue. Vor lauter Überraschung bin ich einen Schritt zurückgewichen.

„Komm wieder her“, sagt er und zieht mich zu sich. „Doch“, flüstert er mir ins Ohr. Ich löse mich wieder von ihm und ziehe ihn an der Hand in die Küche, wo wir es uns mit Getränken am Küchentisch gemütlich machen.

„Wir haben jetzt sogar einen Manager, der schon nächste Woche eine Promotour machen will.“

„Cool“, sage ich.

„Es gibt nur einen Nachteil“, ergänzt Ryan langsam und zieht eine Fratze. Ich schaue ihn fragend an.

„Ich werde für den Rest der Ferien nicht da sein. Wir werden mit ihm zusammen so eine kleine Tour machen und damit wir uns auch wirklich auf die Arbeit konzentrieren, sollen die Freundinnen zu Hause bleiben.“

Ich ziehe ein Gesicht und mir ist die Enttäuschung wohl anzusehen, denn Ryan nimmt meine Hand.

„Ist nur für eine Woche, dann bin ich wieder da.“

Damit ich nicht zu nörgeln beginne, wechsele ich schnell das Thema: „Ich bin deine Freundin?“, frage ich kokett.

„Habe ich das jemals bestritten?“, fragt er zurück und schaut mir tief in die Augen. Wir beschließen, etwas früher schlafen zu gehen.

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