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Wanderer im Kaukasus
ОглавлениеAnno 1009 post Christum natum
Kairos schüttelte sich. Der Wind war eisig. Zwei Jahre waren ins Land gegangen, seit er seine Heimat zum letzten Mal gesehen hatte; vor gerade einmal zwei Monaten war er einem grausamen Tod im Barbarenland entronnen; Zwei Tage waren vergangen, seit die swanetischen Hirten ihn und seinen Begleiter verlassen hatten und zu ihren Leuten zurückgekehrt waren. Die Ehrfurcht – oder war es Mitleid? – war ihnen förmlich aus dem Gesicht gesprungen. Der junge Mann wusste jedoch selbst, wie verwegen die Reise war, die er mit seinem mehrere Jahrzehnte älteren Gefährten angetreten hatte: Den Strobilos –oder „Tausend Berg“, wie sie ihn hier nannten – wollte dieser besteigen. Seit heute Morgen kämpften sie sich eben diesen Berg hinauf, und doch wollte der verschlossene Alte, der sich Kairos einst mit dem Namen Iagos vorstellt hatte, nicht damit herausrücken, was er hier, fernab jeder Menschenseele, zu finden gedachte. Immerhin beteuerte er bei jeder Rast, dass sie nie und nimmer einen der beiden Gipfel würden erklimmen müssen. Ein schwacher Trost: Sie befanden sich auf dem höchsten Berg des Kaukasus! Unwillig stemmte er sich gegen die Steigung des Pfades, den Iagos einschlug, und der eigentlich diesen Namen nicht verdiente; Das raue Herbstwetter hielt eisern dagegen. Der Himmel war wolkenverhangen und vor zwei Stunden hatte es nach Regen ausgesehen – es war beim allmächtigen Gott weder die Jahreszeit noch das Wetter, um zu zweit mit lächerlichen Kurzschwertern bewaffnet durch Barbarenland zu wandern! Doch Kairos schuldete dem Alten einen Gefallen, genau genommen sein Leben: Ohne ihn würde sein Schädel irgendwo auf einem Pfahl in der Steppe nördlich des Kaukasus stecken und wehmütig gen Süden starren.
Kairos kam aus ärmlichen Verhältnissen, war ein anständiger armer Schlucker gewesen. Seine gute Mutter hatte ihm stets eingebläut: „Armut ist keine Ausrede für Unrecht und Reichtum kein Freischein!“ Nur einmal, da hatte ihm ein hübsches Mädchen namens Epifania den Kopf verdreht: Der Duft ihrer glänzend schwarzen Locken machte ihn betrunken, wenn er nur an sie dachte, ihr helles, klares Lachen verschaffte ihm Träume von Engeln und der Gottesgebärerin – und ihre abgründigen großen braunen Augen ließen in ihm den Glauben an Hexerei aufflammen. Dieser Erscheinung wollte er etwas bieten. Vielleicht war Liebe ja eine bessere Ausrede für Diebstahl, vielleicht auch nicht. Genau einmal hatte Kairos seine Grundsätze missachtet und die Hände nach einer hübschen Perlenkette ausgestreckt. Und genau dieses eine Mal hatte man ihn erwischt.
Anstelle von Auspeitschungen, Knüppelhieben oder gar Verstümmelungen jedoch erhielt der junge Mann eine Vorladung zum Strategos von Trapezunt! Ob er ein gläubiger Mann war, hatte der hochgewachsene byzantinische General ihn gefragt. Kairos bejahte dies eifrig, beteuerte unter frommen Tränen seine Reue und die Einmaligkeit seines Vergehens. Da erklärte ihm der Strategos mit mildem Lächeln, er werde ihm einen Auftrag erteilen, um seine Reue vor dem Allmächtigen zu bekunden: Kairos solle als Kundschafter im Königreich des umtriebigen Bagrat II. von Armeniakon Neuigkeiten sammeln über dessen Pläne, über dessen Unterstützung durch die Bevölkerung, und anschließend bei aller gebotenen Vorsicht auch Erkundungen in der Steppe nördlich des Kaukasus anstellen. Käme er zurück mit wertvollen Neuigkeiten, wäre nicht nur sein Verbrechen gesühnt – er würde sogar zum Akriten erhoben, einem Grenzsoldaten mit eigenem Stück Land! Dass der Glanz dieses Titels längst abblätterte, dass das versprochene Land mager und winzig noch obendrein war, das bekam er von wohlmeinenden Freunden zu hören, wann immer er es wagte, von seinem Auftrag zu erzählen. Doch Kairos hielt an seinem Plan fest, aus naiver Hoffnung auf etwas Glück vielleicht, oder einem unbestimmten Gefühl, dass der Allmächtige selbst ihn auf diesen Weg geschickt hatte. Rückblickend war er sich nicht mehr so sicher.
Nun, Kairos brach vor zwei Jahren auf, bahnte sich, von Abasgia am Schwarzen Meer ausgehend, seinen Weg ins Landesinnere, häufte sorgfältig und gewissenhaft Informationen in seinem Kopf an. Allabendlich sagte er diese vorm Einschlafen auf – denn schreiben hatte er nie gelernt und seine rudimentären Lesekenntnisse brachten ihm damit auch nichts. Den verstohlenen Blicken junger Frauen widerstand er tapfer – eine kleine Ikone der Gottesgebärerin, eine Gabe des Strategos, war das einzige Weibsbild, welchem er in dieser Zeit bisweilen sein Herz öffnete. Er hatte aufregende Gerüchte aufgeschnappt von den Ambitionen des abchasischen Herrschers. Mit wachsender Aufregung musste Kairos seine kühnen Hoffnungen niederringen, je mehr wichtige Neuigkeiten er aufschnappte.
Schließlich jedoch musste er miterleben, wie Bagrat II. sich zum König der Könige ernannte und nun Bagrat III. hieß. Was er bis dahin als geheime Neuigkeiten angehäuft hatte, wurde so auf einen Schlag offiziell und wäre bis zu seiner Rückkehr in Trapezunt längst altes Gewäsch.
Kairos knurrte unwillig bei dem Gedanken daran. „Rasten?“ Iagos war stehen geblieben und brüllte gegen das Pfeifen des Windes an. Der junge Soldat schüttelte den Kopf. Vor dem Alten würde er sich keine Blöße geben. Das erwies sich jedoch als echte Herausforderung. Iagos legte eine stramme Marschgeschwindigkeit vor – und schien nicht aus der Puste zu kommen. Irgendetwas musste ihm schier unerschöpfliche Energie verleihen, die Iagos jeglichen Witterungen und Gefahren trotzen ließ. Darauf angesprochen, was das sei, hatte Iagos nur leise erwidert: „Morgenrot.“ Danach hatte er stundenlang geschwiegen – und Kairos betete inständig, dass der Alte die Strapazen dieser Reise nicht für einen letzten Sonnenaufgang in schwindelerregender Höhe auf sich nahm. Kairos hakte dennoch nicht nach, denn Ehrenschuld war Ehrenschuld.
Frustriert über den Fehlschlag seines ersten Auftrages, bahnte sich der junge Mann seinen Weg in chasarisches Territorium, das Land zahlreicher barbarischer Stämme und marodierender Reiter. Doch schon als die Sonne zum zweiten Mal zur Mittagszeit über dem Kaukasus stand, fiel er – allem Ehrgeiz zum Trotz ein grüner Junge – einer Gruppe finster drein schauender Reiter in die Hände. Kairos verstand kein einziges Wort ihrer kehligen Sprache, sie verstanden ihn nicht – oder wollten ihn nicht verstehen. Stattdessen plünderten sie sein Gepäck und ließen ihn geknebelt am Rande ihres Zeltlagers liegen – unter freiem Himmel. Während die Barbaren sich zu rauen Gesängen und dem Klang fremdartiger Instrumente betranken, machte Kairos Bekanntschaft mit dem alten Iagos. Dessen Zelt war nur wenige Schritte weit von Kairos erbärmlichem Nachtlager entfernt. Der Flammenkegel des Lagerfeuers streckte sich zum finsteren Nachthimmel aus, als der Gefangene in einem kleinen Zelt ein blaues Licht bemerkte. Ein göttliches Zeichen, dachte er, und schrie und stöhnte so laut, wie er es durch seine speichelgetränkten Knebel nur vermochte. Sofort verschwand das Licht – und eine Gestalt verließ mit hektischen Schritten das kleine Zelt.
Iagos hatte sich bei den Kriegern als Zauberer, Traumdeuter und Wahrsager verdingt, als Dolmetscher, Fährtenleser und Schatzsucher, erfuhr Kairos später. Just in dieser Nacht schien der Alte der rauen Gesellschaft der Barbaren jedoch überdrüssig geworden zu sein – oder in Kairos den rechtschaffenen, frommen Rhomäer erkannt zu haben, dessen Wert jeden Mann in diesem Lager zehnfach aufwog. Was es auch war: Eben noch in zerfetzten Lumpen frierend im Dreck liegend, fand sich Kairos einen Wimpernschlag später auf dem warmen, sattellosen Rücken eines Pferdes wieder, neben ihm reitend der Alte mit einem gewaltigen Rucksack. Bald schon erstickte der Hufdonner die Wutschreie aus dem Zeltlager. Das Schnauben der kräftigen Tiere erfüllte ganz die Dunkelheit, weder der Alte noch Kairos sprachen ein Wort.
Erst, als sie zur Mittagszeit des neuen Tages ihren Gewaltritt beendeten, stellte Kairos fest, dass der Alte fließend Koine sprach, so sauber wie die Vornehmsten aus Konstantinopolis. Und doch sah Iagos weder wie ein Oströmer aus noch wie einer der Barbaren – zwar trug er einen ansehnlichen Bart, doch war sein ganzes Erscheinungsbild zu wild und ungepflegt, zu fremdartig die vielfach geflickten Kleidungsstücke und die Gegenstände, die an Schnüren von seinem Rucksack baumelten. Seine starken Wangenknochen und sein breiter Mund hoben ihn selbst von jenen berittenen Kriegern ab – die nun, wie Iagos mit schalkhaftem Blick bei ihrem ersten gemeinsamen Mahl erklärte, nicht mehr beritten waren. Von dem Alten erfuhr Kairos nun auch viel Wissenswertes über dieses Barbarenland, etwa, dass jene Krieger sich Kiptschaks nannten und auf der Suche nach Land für ihr Volk waren. Der junge Römer hatte sein Leben – und endlich „wertvolle Neuigkeiten“, die ihm keiner mehr nehmen würde!
Kairos hielt inne. Nicht zum ersten Mal auf ihrer Reise betrachtete der alte Iagos seine rätselhafte schwarze Scheibe. „Was sagt Euch das Astrolabium? Wie weit ist es noch?“ fragte der Römer. Iagos schwieg sich über das wundersame Objekt aus, daher hatte Kairos es Astrolabium getauft – nach jenem metallischen Navigationsinstrument, das er einmal bei einem reichen Kaufmann gesehen hatte.
„Ich bin dem Ziel zum Greifen nah“, erklärte Iagos mit feierlicher Stimme. Kairos runzelte argwöhnisch die Stirn. Iagos fuhr fort: „Dort hinter dem Hügel befindet sich die Schwelle zu meiner weiteren Reise.“ Der Alte dreht durch. Kairos schluckte hastig ein hartes Stück Brot hinunter. „Ihr sagt ‚Ich‘, ‚meine Reise‘…“, bemerkte er. Der Alte lächelte geheimnisvoll. Etwas unbeholfen breitete er die Arme aus und drückte den verdutzten Kairos an seine in vier Schichten Stoff verpackte Brust. „Ich danke dir für dein Geleit, junger Freund. Du magst es nicht glauben, aber du hast mir damit einen größeren Dienst erwiesen als ich dir. Ja, ich wäre lieber tot, als diesen Pfad nicht vollenden zu können, der vor mir liegt.“
Kairos löste sich aus der Umarmung und musterte seinen Begleiter irritiert. „Bei dem allmächtigen Vater-“, beteuerte er, „hier trennen sich unsere Wege nicht! Eher sterbe ich nachträglich den Tod, vor dem ihr mir bewahrt habt, als Euch, meinen Retter, dem Erfrieren in der Wildnis auszuliefern!“ Ein unergründlicher Ausdruck huschte über das Gesicht des alten Iagos. „Du bist ein anständiger Kerl“, befand er. „Dein Gesalbter, oder wer auch immer dafür zuständig ist, soll dir ewiges Leben schenken – nein, kein gütiger Gott würde solch ein Geschenk machen. Möge er dein sterbliches Leben vor Glück überquellen lassen!“ Iagos klopfte dem jungen Mann auf die Schulter. „Wenn du mich weiterhin begleiten willst, will ich es dir nicht verbieten! Aber lass mich kurz austreten – wir hätten vorhin an diesem kleinen Bächlein rasten sollen…“ Erleichtert ließ Kairos sich auf einem Felsbrocken nieder, kramte ein weiteres Stück Brot aus seinem Gepäck und wartete geduldig auf Iagos. Erst jetzt fiel ihm auf, welche Höhen sie bereits erklommen hatten: Im Westen erstreckten sich unter unverändert grauem Himmel die Täler und Berge des Kaukasus. Hier also hatte Ethon dem erbarmungswürdigen Prometheus die stets nachwachsende Leber aus der Brust gerissen – hierhin führte Iagos rätselhafte Scheibe sie. Kairos lachte in sich hinein. Wozu brauchte ihn der Alte überhaupt? Immerhin war er schon mit den Barbaren gut fertig geworden – da würde er doch sicher nicht vor den Geschichten zurückschrecken, die man sich über Gebirgsvölker wie die Swanen erzählte? Nein, dafür war der alte Iagos zu gerissen… Kairos sprang auf. Wo war das Gepäck seines Begleiters? „Austreten?“ rief Kairos ungläubig. Der junge Mann warf sich seinen Rucksack über und rannte bergauf, „Iagos!“ rufend, „Freund!“
Keuchend erreichte Kairos die Hochebene, die Iagos zweifellos gemeint hatte. „Freund!“ Sein letzter Ruf erstarb im Heulen des Windes. Dann erblickte er den Alten. Er stand auf einem Felsvorsprung und sah hinab in den tödlichen Abgrund. „Hodegetria…“ murmelte der Römer und trat vorsichtig an den Felsvorsprung heran.
„Erinnerst du dich?“ sagte Iagos plötzlich. Hatte er ihn kommen gehört? „Du hast dich über deinen Namen beschwert. Wie unpassend er sei…“ Kairos zog eine leidvolle Grimasse. Sein Name bedeutete so viel wie „der entscheidende Moment“. Wie oft in den vergangenen Jahren hatte er sein bisheriges Schicksal daran gemessen und es für einen grausamen Witz des gütigen Allmächtigen gehalten? „Zu gut“, erwiderte er. Iagos dachte immer noch nicht daran, sich zu Kairos umzudrehen. „Für das, was deine Augen gleich sehen werden, ist in deinem Leben kein Platz, wenn du glücklich sein willst.“ Die Stimme des Zauberers, Wahrsagers und Traumdeuters, des Schatzsuchers, Fährtenlesers und Dolmetschers war auf unerklärliche Weise entrückt. Das Alter von zwölf Greisen schien aus ihr zu sprechen, die Last eines Berges, die Qualen jenes Titanen, dessen Leber jahrtausendelang den Raubvögeln Nahrung war; ebenso jedoch die Sorglosigkeit eines Kindes beim Spiel. Kairos lief ein Schauer über den Rücken.
„Mein lieber Freund Kairos“, fuhr Iagos fort. „Mein Kairos ist nun gekommen. Bete zu deinem Allmächtigen, dass ich ihn nicht verpasse! Du wirst es an den Felsen dort unten erkennen, wenn deine Gebete kein Gehör gefunden haben… Ich verlasse dich als Freund. Lebe wohl!“
Bevor der arme Kairos begriff, wie ihm geschah, war der Alte schon gesprungen. Stumm, fassungslos fiel er auf die Knie, robbte an den Abgrund, starrte hinab. Da rauschte sein Lebensretter in den sicheren Tod! Eine Träne rann über Kairos Wange und stürzte dem Alten hinterher. Der junge Mann aus Trapezunt wischte sich mit seinem Handschuh über das Gesicht. Als er wieder hinab schaute, war Iagos verschwunden. Nicht hingen seine zertrümmerten Gebeine von den Felsbrocken, nicht ragte sein Körper aus dem garstigen Gestrüpp dazwischen – verschwunden war er, mit Haut und Haar und seinem gewaltigen Rucksack.
Zwei Stunden lang kauerte der arme Soldat an jenem Felsvorsprung, betete, rieb sich die Augen wund und rief den Namen seines Freundes. Doch seine Worte verhallten ungehört. Schließlich verdunkelte sich das Himmelsgrau, Eiseskälte kroch aus den Felsen in seine Knie. Niedergeschmettert trat Kairos die Heimreise an. Wohlbehalten erreichte er später Trapezunt, erstattete dem verblüfften Strategos Bericht, wurde mit einem kargen, aber doch ausreichenden Stück Grenzland versehen, heiratete eine hübsche junge Frau und wurde ein glücklicher Vater. Im Strudel der dahinfließenden Zeit verblasste die Erinnerung an seine denkwürdige Reise zum Tausendberg. Manchmal gewann der Gedanke in ihm Oberhand, er habe das alles nur geträumt. Erst, als er selbst ergraut war und seinen Enkelkindern wild ausgeschmückte Geschichten über seine Abenteuer als Kundschafter erzählte, kehrte Farbe zurück in die Bilder von damals – die Flucht unterm Sternenhimmel des Barbarenlandes, ihr Aufenthalt bei den Stämmen des Kaukasus, schließlich ihre letzte gemeinsame Reise. Immer häufiger kam es dann vor, dass Kairos, sooft er sein Landgut verließ und bei seiner Familie in Trapezunt einkehrte, am Ufer des Schwarzen Meeres stand und nur das Wasser betrachtete. Dann nahm er einen Stein, der ihm geeignet schien, wartete auf den entscheidenden Moment – und warf ihn in das schimmernde Blau. Er sah zu, wie der Stein die dunkle Wand durchbrach und in die Tiefe sank. Manchmal, selten, fragte er sich, hinter welcher Wand sein seltsamer Freund wohl verschwunden sein mochte – denn ein Engel des Allmächtigen war er gewiss nicht gewesen. Dann ging Kairos, der Römer, glücklich heim. Alles in allem hatte er im Leben doch eine Menge Glück gehabt.