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Der Mann der tausend Häute

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Tag 260 des 24. Triumphjahres von Novocast, 14:30

Przn eilte den Flur des Triumphes hinunter zum Bureau des Ufergh. Es waren wichtige Neuigkeiten, auf die nur der glorreiche Führer von Novocast, Ufergh Zrsher, reagieren konnte – und die nur er, Przn, der Djemb des Geheimdienstes, überbringen durfte. Der Flur des Triumphes unterschied sich von den anderen Fluren allein durch die vollständig intakte Beleuchtung. Es war ein Betontrakt wie jeder andere in dieser quadratischen, unterirdischen Anlage von Novocast. Und wie in jedem anderen Flur dieser Zuflucht vor der Wüstensonne musste der hochgewachsene Przn sich ein wenig bücken. Er war keiner der Männer aus der Kampftruppe des Ufergh, der „Korte des Triumphs“ – allesamt gedrungene Kerle mit niedrigen Stirnen und einer sonnengebräunten Haut. Przn war das exakte Gegenteil. Er war kein Krieger, er war die Intelligenz. Die Männer des Ufergh respektierten ihn nicht – doch sie fürchteten ihn, trauten ihm alles zu, was ihre begrenzte Fantasie sich erdenken mochte. Den Mann der tausend Häute nannten sie ihn. Sollten sie nur.

Przns knotige weiße Linke klopfte an die Stahltür des Triumph-Bureaus. „Herein!“ ertönte die gedämpfte Stimme des Ufergh.

Der Ufergh Zrsher saß hinter seinem stählernen Schreibtisch in der Mitte des Raumes. Das Bureau hatte denselben Schnitt wie die Kabinen der vier Unterführer, der Triumphbrüder, und mit Schreibtisch und Steckregalen aus Stahl eigentlich auch die gleiche Ausstattung. Die Bescheidenheit von Stahl und Beton erstickte im Bureau des Ufergh hingegen unter einer Anhäufung von Beutestücken aus all den Triumphen des glorreichen Ufergh. Przn nannte es gewöhnlich das „Trophäen-Bureau“ – zu sich selbst, denn außer ihm würde niemand den Witz verstehen. Die wichtigsten Trophäen reihten sich dicht an dicht auf dem Schreibtisch: Ein sogenannter Globus, der eine kugelförmige Erde zeigte, bedeckt von riesigen Wassermassen – für Zrsher der eindrücklichste Beweis für die Verlogenheit der Technokraten.

„Przn, alter Freund!“ rief Zrsher mit ausgebreiteten Armen. „Wie gut, dass mein wandelndes Gedächtnis endlich da ist – gerade eben habe ich an den Tod von Yu denken müssen. Du sammelst ja fleißig all die Perlen meines Lebenswerks?“

–„Jawohl, Erlauchtester“, erwiderte Przn botmäßig. „So fleißig, dass ich unter ihrem Gewicht beinahe zusammenbreche.“

Zrsher entstammte einem verarmten Minen-Cast aus den äußeren Regionen. In einer Zeit, da die Techno-Casts durch Bequemlichkeit und Zerstrittenheit von einer Krise in die nächste schlitterten und ihren Partnern immer weniger zu bieten hatten, war Zrsher von einem Techno-Cast zum nächsten gereist, stets im Versuch, in den Hierarchien der Technokraten aufzusteigen, sie durch Schläue und Wissen zu beeindrucken. Wie Zrsher beteuerte, lehnte er jedoch aus Ekel vor ihrem Hochmut alle Ämter ab, mit dem sie ihn hatten abspeisen wollen, und kehrte mit vier Gleichgesinnten zu seinem alten Minen-Cast zurück. Hier habe der Wüstengott Zrsher seine Huld erwiesen: Die fünf Männer, Zrsher und die vier Gefährten, von denen Drei heute Brüder des Triumphes waren, fanden drei Kisten mit hochentwickelten Plasmagewehren nebst einem großen Vorrat Munition, halb verschüttet und herrenlos im Wüstensand. Im Minen-Cast blieb niemand am Leben, der Zrshers Truppe nicht in den Krieg folgte; einen Krieg, der vier Techno-Casts völlig unvorbereitet traf und die drei übrigen nach schweren Kämpfen in Ruinen verwandelte – und Zrsher zum selbsternannten Ufergh machte, zum König des Aschehaufens.

Yu war der letzte Technokraten-Führer gewesen, Anführer des Techno-Casts Atlan, desselben Casts, von wo Przn auf Zrshers Seite gewechselt war – und ein klein wenig beim Sturm der Anlage mitgeholfen hatte…

„‘Ich gratuliere, Zrsher‘, hat er gesagt“, begann der Ufergh. Er war aufgestanden und stolzierte in Denkerpose um seinen Schreibtisch herum. Aus dem Krieger war ein ausgesprochen fetter Mann geworden, dessen schwarze Haarpracht von einst nun für die Ewigkeit auf seine Glatze tätowiert war. Er trug rund um die Uhr seine braune Miner-Weste, auf welche die Embleme der unterworfenen Casts gestickt waren. Über das Emblem seines Minen-Casts war ein Löwen-Gesicht gestickt – das Zeichen des Ufergh.

„‚Ich gratuliere dir zu all dem Sand, den du nun beherrschst‘, sagte er“, fuhr der Ufergh fort. „‚Du hast die Menschheit an den Rand des Abgrundes gebracht, doch das Anthropinon wird niemals dir gehören.‘“

–„Was habt Ihr auf eine solche Frechheit erwidert, großer Gebieter?“ fragte Przn.

Der Ufergh lachte. „Was Gutes!“ sagte er und grinste über beide Ohren. „Ich sagte: Ich glaube, Ihr habt verloren und ich gesiegt. Mir fehlt es an nichts!“

–„Eine majestätische Antwort“, stellte Przn fest. Der Ufergh pflichtete ihm bei.

„Das hat er auch eingesehen. ‚Ihr seid wahrhaft ein Philosophenkönig‘, hat er gesagt, bevor ich ihn pulverisierte. Recht hat er! Ein Philosophenkönig ist schlau und mächtig zugleich – mit allen Sanden gewaschen… Trifft zu! Schade, dass er das bei all seiner Weisheit erst am Ende erkannt hat: Ich bin der Löwe.“

Die kleinen Fingerchen des Ufergh zeigten auf das aufgeschlagene Büchlein auf seinem Schreibtisch: Es war das einzige Buch, das es außerhalb von Przns Kabine in Novocast gab – ein Bilderbuch mit vielen Tieren aus längst vergangenen Zeiten – und auf der letzten Seite fand sich das Bild des Löwen. Przn hatte für Zrsher die Beschriftung in urglobaler Sprache übersetzt: „Der Löwe – König der Wüste.“

„Ich sehe“, begann Przn, „dass Ihr gerade in der Stimmung seid für majestätisches Walten! Ich habe eine weitere Botschaft von diesem auswärtigen Herrscher, der euch bereits zweimal belästigt hat.“

–„Der scheint ja verdammt einsam zu sein“, knurrte der Ufergh und sank in seinen Korbsessel. „Erstatte ausführlich Bericht, Przn!“ Przn nickte ergeben.

„Er stellt Euch ein Ultimatum, Gebieter: Ergebt Euch und werdet ein Vasall mit beson...“

–„Ergeben?“ polterte Zrsher. „Niemals! Truppenstärke?“ Przn zuckte mit den Achseln.

„Sein Schreiben spricht von hundert Soldaten, fünf bewaffneten Buggys und drei Mörserbikes sowie einem Belagerungsbohrer. Wir sollten vorsichtig sein und eine direkte Konfrontation vermeiden, wenn Ihr mich fragt. Ich habe zwar keine Berichte über eine derartig gewaltige Armee einholen können, doch es klingt…“

–„Der blufft“, sagte Zrsher lapidar und lächelte Przn väterlich zu. „Lass‘ dir das von einem alten Strategen versichern. Wir sind beide in den perfekten Rollen, für die die Wüste uns geschaffen hat, weißt du? Du bist gut in deiner Position, weil du alles und jeden fürchtest – und ich bin gut als Herrscher, weil ich alles und jeden das Fürchten lehre!“

„Weise gesprochen“, erwiderte Przn. Der Ufergh nickte.

–„Sehr weise sogar! Die Männer werden in gelben Alarm versetzt und einige Verteidigungsmaßnahmen treffen, und dann wollen wir die lächerliche Invasion von diesem…“

„… Pyx, Fackelträger von Shuk‘rath, Herr vom ewigen Turm“, ergänzte Przn. Der Ufergh lachte schallend.

–„Was für ein Sandkuchen!“ prustete er. „Wird mir eine Freude sein, diesen Fackelträger abzufackeln und in der Wüste zu verscharren. Sonst noch was?“

Przn legte den Kopf schief. „Wir haben letzte Nacht zwei Rebellen erledigt und einen Gefangenen gemacht.“ Zrsher winkte gelangweilt ab. „Du lässt mich wissen, wenn er was Interessantes zu erzählen hat?“ Der Djemb des Geheimdienstes nickte. Zrsher tat es ihm gleich. „Weggetreten!“

Przn atmete erleichtert auf, als die Stahltür hinter ihm ins Schloss fiel. Die Tage mit diesem Trottel neigten sich ihrem Ende zu, dachte er. Die Tage von Novocast waren gezählt. Der Ufergh, seine Unterführer, die einfachen Soldaten erst Recht – sie waren bequem geworden. Der ganze Apparat war behäbig, ineffizient und eine Beleidigung seiner Intelligenz! Die Schreiben des auswärtigen Herrschers dagegen zeugten von einer straffen, kompetenten Führung, von Sitten, von Technologie, Zivilisation:

„Glanzvoller Zrsher, Ufergh von Novocast und Löwe der Wüste! Seine Erhabenheit Pyx, Fackelträger von Shuk‘rath, Herr vom ewigen Turm, erstattet Euch Grüße und äußert seine Besorgnis über künftige Beziehungen zwischen unseren prosperierenden Gemeinwesen. Seine Erhabenheit zieht es vor, mit ausgestreckter Hand voranzugehen und neue Freunde zu machen. Eine Zurückweisung dieser Vertrauensgeste wäre Anlass für bedauerliche Vorsichtsmaßnahmen...“

Sätze wie diese musste man für Zrsher in kleine, verdauliche Portionen aufteilen. Przn hatte die Portionen so geschaffen, dass er sie in den falschen Hals kriegen musste! Der Djemb des Geheimdienstes würde der offiziellen Antwort des Ufergh eine „inoffizielle“ beifügen – und dann würde Novocast das gleiche Schicksal ereilen wie Atlan…

„Gefreiter Grj mit erstem Gefangenen-Report!“ Der Gefreite war in Novocast aufgewachsen und nicht so dunkelhäutig wie seine Eltern. Przn war überzeugt, dass helle Haut ein Indiz für geistige Überlegenheit war. „Ich höre“, sagte er, ohne den Weg zu seinem Bureau zu unterbrechen.

„Er konnte keine Stammeszugehörigkeit glaubhaft machen, scheint kein Rebell zu sein und auch kein Miner. Er gibt vor, bloß auf der Durchreise zu sein. Wir haben ihn in den dunklen Trakt geworfen und sein Gepäck in Euer Bureau gebracht, Djemb.“

Przn nickte zufrieden. „Gut so. Sag‘ den Männern, dass sie mit den Verhören warten sollen. Ich will erst sehen, was uns da in die Arme gefallen ist...“

–„Jawohl, Djemb!“ bestätigte Grj und bog rechts ab.

Sein Bureau besaß nur einen ausgemusterten Tisch aus der Kombüse und einen faltbaren Hocker, der ihm viel zu klein war. Den sonst peinlich aufgeräumten Schreibtisch bedeckten heute der fleckige, ausladende Reisesack des Gefangenen sowie der Inhalt: Da war eine kleine Schale aus Holz – Przn kannte dieses Material aus seinem Dienst in Atlan. Es war ein Vermögen wert gewesen – als die Handelsnetze der Technokraten noch intakt gewesen waren. Daneben lagen drei Trinkflaschen: eine lederne, eine aus Blech und eine runde aus durchsichtigem Kunststoff – ebenfalls viel wert, sogar hier in Novocast. Auffällig war auch ein stumpfes kleines Messer mit pinkem Kunststoffgriff: Ein schwarzes Tier mit riesigen Ohren war hier aufgedruckt, daneben geschwungene Lettern in urglobaler Sprache. Doch es waren zwei andere Objekte, die sofort Przns volle Aufmerksamkeit besaßen: Ein dickes, in Leder gebundenes Buch in einem Plastikbeutel mit Schiebeverschluss – und eine tellergroße schwarze Scheibe mit kunstvollen Intarsien und einer seltsamen, halbmenschlichen Kreatur, die in deren Zentrum thronte. Er hatte von einer solchen Scheibe gehört, vor langer Zeit. Sie würde sein Freischein zu einer hohen Stellung am Hofe des neuen Herrschers sein – oder mehr… Doch Wissen ist Macht, wusste Przn. Er musste zunächst herausfinden, welche Macht die Scheibe besaß. Przn betätigte die Dienstklingel. Binnen Kurzem pochte Grj an die Tür seines Bureaus.

„Zu Diensten, Djemb!“

–„Brecht das reguläre Verhörprotokoll ganz ab“, befahl Przn. „Ich nehme mir den Gefangenen selbst vor. Bereitet die Zelle neben dem Eingang für mich vor! Unterdessen lasst ihr Jnr täglich ein ausgedehntes Verhör durchführen – aber außer mal ausnahmsweise am Kragen packen verbiete ich Gewalt gegenüber dem Gefangenen!“

Grj stutzt. „Aber Jnr ist ein Idiot“, sagte er, „Er hat keine Erfahrung...“ Przn nickte. „Eben deshalb. Der Gefangene soll sich in Sicherheit wähnen – und nicht mitbekommen, dass ihr die Zelle für mich vorbereitet. Sorgt also dafür, dass Jnr ihm nichts antut!“

Grj nickte. „Wie Ihr wünscht. Sonst noch etwas?“

–„Weggetreten!“ sagte Przn.

Als Grj zur Tür hinaus war, öffnete Przn die Stahlkiste unter seinem Bett. Eine Vielzahl unterschiedlicher Kleider befand sich darin – seine Kostüme. Przn schlüpfte in dreckige, blassgraue, in Fetzen hängende Lumpen. Dann kehrte er zu seinem Tisch zurück und besah die übrigen Objekte aus dem Sack des Gefangenen: ein Proviantbeutel, gebrauchte Stofftaschentücher, ein Schlagring, ein Wanderstock, ein einzelner, winziger Schlüssel…

„Gestatten: Lurch“, sagte Przn mit gespieltem Stottern und verstellter Stimme. „Wer bist du?“

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