Читать книгу Yag aus Ntho - Künstlername: Blaustein - Страница 6
Glühwürmchen in der Wüste
ОглавлениеDie Wüstenluft schlug über ihm zusammen wie eine Sturmflut kochenden Wassers. Keuchend rollte Yag sich am Boden zusammen. Als eine Kugel aus Stoff, so lag er im Sand unter dem stumm glühenden Zyklopenauge dieses fremden und feindseligen Himmels. Die Augen des alten Mannes waren zwei rosa Flecken in der Dunkelheit. Er öffnete sie einen Spalt breit, um sich umzusehen – weit und breit nichts, niemand. Nur ein zähflüssiger Ozean aus Luft, die nicht geatmet werden wollte, zog mit verächtlicher Trägheit über totem Grund hinweg, umspielte leichthin die wenigen ockerbraunen Felsbrocken, die sich über die Ödnis verteilten; Yag, den schweren Rucksack auf dem Rücken, war einer von ihnen.
Hol das Tuch aus dem Rucksack! Yags Herz pochte beunruhigend schnell. Dieser Zeitsprung war nicht sein erster, nicht der zehnte, fünfzigste. Vielleicht der letzte? Er strich mit der Hand über den Sand und zog sie zischend zurück. Böser Sand. „Geh!“ schien er zu flüstern, jedes verfluchte Korn, nicht zuletzt das glühende Sandkorn am Himmel, „Geh oder stirb.“
Wir gehen, wohin wir wollen... Langsam, mit möglichst geringem Kraftaufwand, zog Yag das alte Leinentuch hervor. Blasse Farbflecke fielen durch die zahllosen Flicken auf sein Gesicht, als er es über seinem Kopf ausbreitete. Er trank eine Zungenspitze des warmen Wassers, verstöpselte das kleine Fläschchen in seiner Seitentasche und zupfte die Enden seines Sonnensegels zurecht. Kleine Bleikugeln in den Ecken sorgten dafür, dass ein leichter Windstoß es nicht forttragen konnte. Wind brauchst du hier nicht zu fürchten… Yag lachte in sich hinein. Um einen Sandsturm sollte er wohl kaum bitten.
Yag schloss die Augen; um dem schmerzhaften Licht zu entkommen; um nachzudenken. Hör auf den Sand – du musst fort von hier! Hier würde er sie in der Tat nicht finden, wahrscheinlich niemanden. Hier gab es nur Staub, Steine und Tod. Aus seinem Rucksack wühlte er ein flaches rundes Lederbündel hervor. Die Scheibe, die daraus zum Vorschein kam, glänzte wie schwarzer Feuerstein. Sie war schon aus dem höchsten Fenster eines Turmes auf Kopfsteinpflaster gefallen und hatte keine Schramme davon getragen. Sie war vor den entsetzten Augen eines jüngeren Yag in einen Hochofen gestürzt, und das einzige, was später barst und splitterte, war die Schlacke, aus welcher er die Scheibe befreite. Nicht vor Beschädigung schützte der Lederfetzen sie, sondern vor Blicken; vor Blicken, die gierig über die geheimnisvollen Buchstaben, Piktogramme und Abbildungen wanderten, mit welchen die Scheibe übersät war. Kreideweiß verliefen sie innerhalb dreier konzentrischer Kreise. Yag fuhr mit seinen schwieligen Händen über den innersten Kreis. Eine dämonische Fratze prangte dort mit geschlossenen Augen, umgeben von herrschaftlichen Ornamenten. Das Maul des Wesens, dessen Körper sich mit noch mehr Kopfschmuck im zweiten Kreis befand, grinste frech, dabei schien es zu schlafen.
Dieses Maul hatte ihm den Weg nicht nur an diesen Ort gewiesen. Der Quyagh Ŭatal war kein exotisches Schmuckstück, die konzentrischen Kreise nicht einfach eine hübsch anzusehende ordnende Struktur für aufregende, zum Träumen einladende Bildchen, die Bildchen wiederum keine bloße Kurzweil für reiche Sammler oder mächtige Herrscher. „Der Quyagh Ŭatal ist eine Waffe“, erklang eine Stimme in Yags Kopf, „Die mächtigste von allen vielleicht.“ Die Stimme seines Lehrmeisters war längst nur noch eine überwucherte Inschrift im Gedächtnis des Alten: Klang, Lautstärke, Melodie – all das suchte Yag in seinem Kopf vergeblich.
Du verlierst dich. Mit routinierten Handgriffen verdrehte er den innersten Kreis um 180 Grad. Die scheinbar statische Fratze erwachte zum Leben: Blau leuchtend öffneten sich die Augen, über die wulstigen Lippen schob sich träge eine lange, spitze Zunge, auf welcher kleine Punkte in scheinbar willkürlicher Anordnung ebenfalls blau aufleuchteten. Geräuschlos kam die Zunge zum Stillstand. Die schwarze Kreisfläche im äußersten Ring, auf welche die Zungenspitze nun wies, erglühte zuletzt.
Wann immer er sein Leben den Auskünften der schwarzen Scheibe anvertraute, flackerten die Gefährten vor Yags innerem Auge auf; Gefährten, die sich ihm anvertraut hatten – die er für immer zurück gelassen hatte. Wie Kairos, wie Salaumur, wie sie…
Yag kniff sich in die Wange. So leicht, in fernen Erinnerungen zu versinken. Die Höllenglut ringsum vergessen… Er musste fort von hier und dafür brauchte er sein Hirn im Hier und Jetzt. Die Ringe des Quyagh Ŭatal drehten sich nach seinem Willen hin und her, während dicke heiße Schweißtropfen von Yags Nasenspitze auf die Scheibe hinabstürzten und stumm zerplatzten.
Wenige Handgriffe später hatte Yag sein Ergebnis. „Vier Wochen“, flüsterte der alte Mann. Kleine Tore öffneten und schlossen sich ständig irgendwo und zu jeder Zeit, unbemerkt von Mensch und Tier. Manche waren so klein, dass allenfalls eine Taube hindurch passte, manche öffneten sich nur für den Bruchteil einer Sekunde, doch irgendwo öffneten sich ständig welche. Das Tor zu einem anderen Leben steht nicht ewig offen... Yag war kein Dummkopf. Er besaß Vorräte, die für einen Monat ausreichen würden. Doch sein Körper war alt geworden. Er musste Schatten finden. Ohne diesen würden die üppigsten Vorräte ihn nicht retten.
Mit einem langen heiseren Stöhnen erhob sich Yag. Der Sprung vom Tausendberg in dieses Nichts von Landschaft saß ihm noch in den Knochen. Nicht jeder Sprung fühlte sich an wie eine Wagenfahrt auf Pflasterstein mit verbundenen Augen – häufig schon hatten erst Gerüche, Geräusche und andere Sinneseindrücke der neuen Umgebung auf einen Wechsel von Ort und Zeit schließen lassen. Dieser Sprung jedoch hatte ihn gerädert. Es hilft nichts. Hier darf die Reise nicht enden.
Der Fleck im Sand lag bereits einige Stunden hinter ihm. Soviel sagte ihm der blutrote Himmel. Yag hatte eine Handvoll rotbrauner Steinbrocken aufgelesen und damit den Weg markiert, den er zurückgelegt hatte. So zog sich eine felsige braune Schlange hinter ihm her. Das Flickentuch hatte Yag sich als Schleier umgebunden. Mittlerweile klebte es ihm am Kopf wie eine zweite Haut. Dicke Schweißströme rannen um seine Augen. Yag blinzelte. Ein milchiger Schleier vernebelte ihm die Sicht. Die letzte Abwechslung war vor ungefähr einer Stunde – oder waren es zwei? – ein faustgroßer Stein irgendwo rechts in seinem Sichtfeld gewesen. Ob er einen verschwommenen rostbraunen Flecken in der Landschaft bemerkte oder einen scharf konturierten Felsbrocken, machte wahrlich keinen Unterschied. Yag hielt einen Augenblick inne und sammelte sich gedanklich. „Drei Wochen und hundertfünfundfünfzig Stunden“, flüsterte er. Der Horizont antwortete mit einem flackernden Zwinkern.
Es war dunkel geworden. So dunkel! Vor vielleicht einer Stunde, vielleicht mehr, war die Sonne wie tiefrot glühendes Eisen im Sand abgetaucht, und nun herrschte bereits tiefste Finsternis. Die Sterne leuchteten matt und grau, als hätte jemand Yags Schweißtuch über das Himmelszelt gespannt – eine schwache Hilfe also. Noch strahlte der Sand seine gespeicherte Wärme ab. Was auch immer in dieser lebensfeindlichen Umgebung hausen mochte – dies mussten die besten Stunden sein, um hervorzukommen. Yag holte den Quyagh Ŭatal hervor. Unter den Lederlumpen verdrehte er die Ringe, bis sich das hellblaue Licht explosionsartig in die Dunkelheit ergoss. Es musste bis zum Nimmerfaden sichtbar sein! Yag faltete sein Flickentuch auf die Hälfte und legte es über sich und die Scheibe. Das improvisierte, blau leuchtende Ein-Mann-Zelt war natürlich trotz des großen Felsen, welchem er Zuflucht genommen hatte, weithin sichtbar – doch nun würde Yag immerhin etwas oder jemanden kommen sehen. Zufrieden mit seiner Lösung studierte der Alte die Symbole, die nun einen Fingerbreit über der Scheibe in der Luft flimmerten. Er seufzte.
Selbstverständlich gab es weitere Tore, die von hier aus zugänglich waren. Doch was nützte es, sicher ein Tor zu erreichen, wenn man auf der anderen Seite hoch in den Wolken oder inmitten des Erdreichs ausgespuckt wurde? Nur rund ein Zwanzigstel der Tore boten für intelligentes Leben einen Austritt mit Überlebenschancen. Dies war eine Information, die Yag nicht am eigenen Leib überprüft, sondern mithilfe des Quyagh Ŭatal herausgefunden hatte. So öffnete sich irgendwo hinter ihm gerade ein mannshohes Tor – nur eben fünfhundert Meter über dieser verfluchten sandigen Einöde! Yag hatte noch im Dschungel von Ka’uura ausgerechnet, dass er von hier aus seinem Ziel beträchtlich näher kommen würde… hier, mitten im Nirgendwo, hatten sich seine Berechnungen bestätigt: Das Tor lag vier Wochen in der Zukunft und einige Tagesmärsche entfernt; zehn Meter über dem Erdboden zwar, doch der Quyagh Ŭatal hatte es als erreichbar eingestuft, wahrscheinlich über eine Felsformation. Es war jedoch ein Leichtes, ein derartiges Ergebnis in einer Tempelruine zu erhalten, umgeben von tropfnassen Palmen und Früchten so zahlreich, dass ein Einzelner Bauchschmerzen bekommen musste! So präzise die Auskünfte des Quyagh Ŭatal auch sein mochten – eine Seekarte war noch kein Steuermann, und ein Steuermann musste essen und trinken.
Du musst etwas essen und trinken. „Schon gut“, knurrte Yag. Es tat gut, wieder sprechen zu können, ohne brennende Lava einzuatmen. Yag verstaute den Quyagh Ŭatal wieder im Rucksack und wühlte ein Fladenbrot hervor. Es stammte noch vom Anfang der gemeinsamen Wanderung mit Kairos, war steinhart und hatte mittlerweile jeglichen Geschmack eingebüßt, konnte dafür aber im Falle eines Kampfes gut als primitiver Schild dienen. Der Alte brach gerade geräuschvoll ein Stück von dem wehrhaften Gebäck ab, als er ein Geräusch in seinem Rücken vernahm. Schützend hielt Yag das Brot vor sich und lauschte – Stille. Vorsichtig und möglichst geräuschlos schob er sich ein Stück Brot in den Mund und ließ es dort aufweichen. Zwischen der Herstellung des Fladenbrotes und seinem jetzigen Standort lagen den Berechnungen des Quyagh Ŭatal zufolge vier bis fünf Jahrtausende – ein wenig Speichel konnte da nicht schaden. Yag betrieb diese Gedankenspiele um seiner lieben Seele willen. Welten rauschten im Strom der Zeit an ihm vorbei – er hatte aufgehört, sich für die Einzelheiten zu interessieren, an welche die Einwohner der Welten, die er durchquerte, sich so gerne klammerten: All die kleinen entscheidenden Unterschiede, welche sich folgerichtig aneinander reihten und so ständig neue Dimensionen aufspannten und andere auslöschten. Der Sinn seiner Reisen, seines ganzen Daseins, entglitt ihm mit jedem Sprung, so wie ihm sein eigenes Alter längst zur missliebigen Rechenaufgabe geworden war. Daran festzuhalten, wofür war es gut? „Morgenrot...“ murmelte er. Es muss mehr sein.
Da – schon wieder ein Geräusch! Yag erhob sich. Mit der Linken zückte er ein kleines Edelstahlmesser, das er aus einer der weiter entwickelten Zivilisationen hatte mitgehen lassen. Ein Brotmesser für Kinder – aber Stahl war Stahl.
„Wer ist da?“ knurrte Yag. Die Tätowierung in seinem Nacken kribbelte. Jemand hatte seine Worte gehört – und verstanden.
„Waffe runter – hab‘ ‘nen geladenen Bohrer1-5!“ antwortete eine gedrückte, männliche Stimme. Er ist bewaffnet, doch seine Stimme zittert... Yag ließ widerwillig sein Kindermesser in den Rucksack fallen. Der Jemand trat näher und schaltete eine Lampe auf seiner Bohrer1-5 an. Im gelben Flackern der Leuchtdiode erkannte Yag eine vollständig vermummte Gestalt – und ein „Gewehr“, das ihm so noch nicht untergekommen war. Er kannte wohl diese wuchtigen Dinger, die Goldzähne fraßen und sie unter großem Knattern und Getöse über der Erde verteilten, oder jene fiesen Exemplare, die nur kleine Splitter ausspuckten und ihr Opfer zerfetzten. Dieses hier war dagegen schlank, gerade mal so lang wie der Unterarm des Jemand. Kleine Lämpchen auf der Innenseite der Waffe erregten Yags Aufmerksamkeit. Wann immer ein Irrer ein neues Todesspielzeug erfindet: Sie werden ihn schreiend durch die Straßen treiben und ihn voll gerechtem Zorn niedertrampeln – doch sein Spielzeug werden sie behalten… „Wir sind Zwerge auf den Streitwagen von Riesen“, murmelte Yag.
„Ufergh oder Rebellen?“ fragte der Jemand.
– „Unbeteiligter!“
„Spaßvogel! Was machst du hier?“ der Ton des Jemand war eisig, doch er kam näher. Ja, Yag – was machst du hier?
–„Ich bin… ein Sammler. Auf der Durchreise…“
„Hier gibt es keine Unbeteiligten!“ knurrte der Jemand, „Bist du ein Mann des Ufergh oder nicht?“
Der Ufergh? Yag hatte sich abgewöhnt, verdächtige Fragen wie diese zu stellen. Menschen konnten sehr überzogen reagieren, wenn man eine Frage wie „Für den König oder die Städte?“ mit einer Gegenfrage wie „Was ist ein König?“ beantwortete… Der Art und Weise nach zu urteilen, wie der Jemand das Wort „Ufergh“ ausspuckte, gehörte er zu der anderen Seite.
–„Nein, bin ich nicht“, erwiderte Yag. Der Vermummte nickte zufrieden. „Dann gehörst du also zu uns.“
„Zu welcher Abteilung gehörst du?“ fragte nun eine zweite Stimme. Weiblich diesmal. In Feierlaune sind sie beide nicht…
–„Zu meiner eigenen“, erwiderte Yag und fügte sogleich hinzu: „Hört zu, ich will weder euch etwas Böses noch dem Ufergh – ich bin allein auf der Durchreise!“
Die Jemande lachten leise. „‚Auf Durchreise‘ im Territorium des Ufergh, Väterchen!“ erklärte der weiblich klingende Jemand, „Wenn es wahr ist, was du sagst, wird er schon ziemlich bald dir etwas Böses wollen...“ Der andere Jemand ergänzte: „Den Ufergh schert es wenig, ob du ihm was Böses willst, glaub uns, Alter!“ Dieser Ufergh klingt nach einem echten Mistkerl…
–„Darf ich fragen, was ihr dann hier zu suchen habt, wenn ihr den Uf…“
„Nein.“ Wieder dieser eisige Tonfall. Die beiden waren nicht zum Spaß hier. Die Jemandfrau drängte bereits: „Wir sollten weiterziehen, Bole. Er scheint ungefährlich.“ Der Jemand mit dem Titel, Decknamen oder Rufnamen „Bole“ brummte skeptisch. „Könnte ein Spion vom Triefauge sein…“ Die Jemandfrau seufzte. „Dann können wir ihn nicht am Leben lassen!“ Die beiden mit Bohrern bewaffneten Stoffballen sahen abwechselnd Yag und einander ein. „Komm schon Bole, so ein alter Kerl – ein Spion?“ –„Weißt du’s, Yssa?“ blaffte Bole. Einen unerträglichen Augenblick lang herrschte angespanntes Schweigen. Dann seufzte Bole. Mit dem Finger malte er einen Pfeil in den Sand und beleuchtete diesen mit der Diode seines Bohrers. „Mach‘, dass du von hier fort kommst, alter Mann! Hier wird’s bald sehr hässlich!“ Dann schaltete er seine Lampe aus. Yag schulterte noch seinen Rucksack, da hörte er die Schritte der beiden schon nicht mehr. Sie schlichen in die entgegengesetzte Richtung von dem Pfeil im Sand. Ein gutes Zeichen, oder nicht? Erleichtert atmete Yag auf. Für eine nächtliche Begegnung mit bewaffneten Jemanden war das ein glimpflicher Ausgang! Er war todmüde und hungrig und durstig, doch dem berüchtigten Ufergh begegnen wollte er nun sicher nicht mehr. Oder doch? Was wusste er schon von den Konflikten dieser Welt? Vielleicht waren Bole und Yssa ja zwei freundliche und umgängliche Terroristen, die gerne Fleischbällchen aßen, früher einmal davon träumten, Schauspieler zu sein, die ihre Eltern oder andere geliebte Menschen verloren hatten, die aus der Geschichte ihres Leids die Rechtfertigung schufen, anderen Leid zuzufügen. Entscheidend war, dass Yag diese Geschichte nicht kannte und nicht kennen lernen wollte. Deshalb marschierte er weiter. Die Richtung, die Bole ihm vorgegeben hatte, würde Yag ein Stück weit nördlich an seinem Ziel vorbei führen – doch er könnte seine Route ja später noch korrigieren. Ungern wollte er erfahren, was aus dem Lauf so eines Bohrers herauskam…
Er mochte hundert Schritte weit gekommen sein, als ein roter Blitz in seinem Rücken aufleuchtete, nein, ein Dutzend! Yag wandte sich um – und ließ sich gerade noch rechtzeitig fallen, bevor eine glühende rote Kugel von der Größe einer Murmel dort vorbeirauschte, wo vor wenigen Sekunden sein Kopf gewesen war. Wie ein todbringender kleiner Komet zog sie eine Spur roten Lichts hinter sich her und landete in einiger Entfernung zischend im schwarzen Sand. Weitere Geschosse flogen aus der Richtung heran, in welche Yssa und Bole geschlichen waren. Regungslos kauerte Yag im Sand. Nah, zu nah, explodierte eine weitere rote Todesmurmel in einer hässlichen, tiefroten Lichtwolke. Eine Frauenstimme schrie. Irgendwo, tief vergraben in seiner Erinnerung, juckte eine alte Wunde. Yag wimmerte leise. „Steh auf und renn!“ Es war Yssa. „Renn um dein Leben, alter Mann!“ Furcht und Trauer verliehen ihrer Stimme etwas Menschliches. Es war eine schöne Stimme. Vielleicht weinte sie unter der seltsamen Brille, die ihre Augen bedeckte. Dann war sie schon fort. Alle Heimlichkeit schien aufgegeben – Yag konnte jeden ihrer hastigen Schritte im Sand hören. Höre auf sie, Yag – auf sie oder deinen alten Freund! Da war wieder dieser Nebel in seinem Kopf – dieser süße, betäubende Dunst, der aus der Vergangenheit hervor sprudelte. Weitere Todesmurmeln rauschten wie Mückenschwärme an ihm vorbei – mordlustige Glühwürmchen in einer erbarmungslosen Wüstennacht – auf der Jagd nach der Jemand-Yssa. Eine der Kugeln fand ihr Ziel. Eine Lichtwolke loderte auf, und hinterließ einen schwachen roten Schimmer. Kein Schmerzensschrei, kein zu Boden stürzender Leichnam. Waren dies Bohrer im Einsatz? Yag raffte seine Kraftreserven zusammen, sprang auf und nahm die Beine in die Hand; immer im Zickzack – die Dunkelheit schien den Raubtieren dieser Wüste ja keine Schwierigkeiten zu bereiten. Sein Atem rasselte. Drei Geschosse flogen an ihm vorbei. Der Rucksack schlug Yag rhythmisch auf sein Hinterteil.
Dann kamen keine Schüsse mehr. Nur Schritte. Schnellere Schritte. Yag zog das Tempo an. Kleine türkisfarbene Punkte tanzten auf seiner Netzhaut, wo die Geschosse aufgeblitzt waren. Übelkeit kroch aus dem Bauch zu seinem Schädel hinauf. Übelkeit und Dunkelheit. Ihm schwindelte.
Er hatte gar nicht gespürt, wie er in die Knie gegangen war. In einem Kreis hatten sie ihn umstellt – Gewehrlichter flackerten überall ringsum auf. „Wer bist du?“ rief ein Jemand im Befehlston. Alles drehte sich. Die Lichter kamen näher. „Na los, raus mit der Sprache!“ Ja, wer bist du? Die Sterne blinkten matt. Ein gelber Blitz zuckte auf und traf Yag. Ob er es noch aussprach oder nur dachte, war nicht mehr zu sagen: „Ich bin Yag aus Ntho.“ Dann fuhr ein Schmerz durch seinen Körper, wie von einem Aufprall aus großer Höhe, und er verlor das Bewusstsein.