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Kapitel 2: Kinderspiele

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Am ersten Festtag strahlte die Sonne und von der Küste kam ein milder Wind. Auf dem Versammlungsplatz von Ntho fuhrwerkten einige der Männer, rund um den Dorfbrunnen hinter dem Junghaus quasselten die jungen Frauen, während sie ein Auge auf die Kleinsten hatten. Der erste der vier Festtage war der betriebsamste: Wer nicht aus heiterem Himmel einen schweren Sack in die Hände gedrückt bekommen und bis zum Abend schuften mochte, der machte einen großen Bogen um den Versammlungsplatz. Für Yi, Di und mich hatte der Tag mit üblen Kopfschmerzen begonnen – Di steckte sie von uns immer am besten weg. Halbherzig schlossen wir uns Dis Onkel Yagyi an, der Freunde für ein Ballspiel zusammengetrommelt hatte. Yagyi war jünger und schmächtiger als Di, doch Rotschöpfe waren sie beide. Das Spiel fand östlich vom Südfeld statt, in der Nähe von der alten Kirsche, unter der die Hirten oft beisammen saßen. Heute war Dodex allein damit betraut, über die Schafe zu wachen. Ob aus Sorge um sie oder aus Neid, weil er nicht wie die meisten anderen von der Arbeit entbunden war – bald vertrieb er uns wortgewaltig und seinen Stab schwingend von der Weide.

Di rülpste. „Mehr schaff‘ ich nicht!“ Der Mittag war gekommen und kein Wölkchen stand am Himmel. Von der Küste blies ein milder, lauwarmer Wind. Wir lagen auf dem Dachboden des alten Lagerhauses und schlugen uns die Bäuche voll mit honigsüßen Flohbeeren, frisch gebackenem, herrlich weichem Brot und allem, was die Vorräte sonst noch hergaben. Naßyi beharrte darauf, dass während seiner Wache der Dachboden des Lagerhauses gelüftet wurde – so waren wir über eine Regentonne und Räuberleiter durch das kleine Dachbodenfenster auf der Nordseite einstiegen, ohne dass Naßyi uns bemerkt hätte.

„Ich auch nicht“, ächzte ich. „Was machen wir mit den Kernen?“ fragte Yi und streckte uns eine pralle Handvoll der runden, hellbraunen Kerne hin. Sein Grinsen verriet, dass er die Antwort bereits kannte. Der Dachboden hatte drei Fenster: Auf der Nordseite, über der Pforte nach Westen hin, und auf der Südseite – drei Fenster für drei schwerbewaffnete Unholde! Wir teilten die klebrigen Kerne durch drei – die Spucke an unseren Händen scherte uns nicht – bezogen an den Fenstern Stellung und schleuderten unsere Geschosse auf ahnungslose Vorbeieilende. „Naßyi muss taub sein, dass er immer noch nichts merkt!“ kicherte Yi. „Ishainra redet mit ihm“, berichtete Di vom Fenster über der Pforte. Der alte Naßyi hatte viel übrig für die jungen Mädchen. So ging unser Streich eine ganze Weile gut: Werfen, Ducken, Werfen, Ducken… bis Yi Deena traf – und sich beim Ducken an einer Kiste den Kopf stieß. „Bäh, der ist ja voller Spucke!“ hörten wir die jüngere Enkelin des Ältesten rufen, „Was hast du da oben zu suchen, Thaneschl‘i?“ Deena – sie konnte eine echte Spielverderberin sein! Zu allem Überdruss nannte sie uns seit Neuestem nicht nur bei unseren vollen Namen, sondern übte auch die Aussprache der Aufseher. „Vielleicht will sie wie ihr Opa Älteste werden!“ scherzten wir gern.

Es verging kaum ein Atemzug, da sprang im Erdgeschoss die Pforte auf. Rasch kamen wir an meinem Fenster zusammen, sprangen hinaus in einen Haufen Heuballen und nahmen Reißaus. „Daneschdi!“ brüllte Naßyi uns hinterher – mit einem Rotschopf als Freund wird man einfach immer erkannt!

Am Rande des Westfeldes, wo die Brücke über den Grünbach führt, kamen wir zum Stehen. „Mit vollem Bauch Weglaufen ist echt übel“, keuchte Yi. Auch Di und ich hielten uns die Bäuche. „Schaut mal da!“ flüsterte Di plötzlich. Mit einem Kopfnicken deutete er in Richtung Südufer. Dort hockte Yagdi wie versteinert und starrte in den Fluss. „Lasst uns abhauen, bevor er uns bemerkt!“ flüsterte Yi. „Zu den Tümpeln?“ fragte ich. Di nickte und grinste boshaft. „Aber vorher hat der Fettsack seine Abreibung verdient!“ Bevor Yi oder ich unserem Freund Einhalt gebieten konnten, hatte Di sich an Yagdi angeschlichen. Mit einem lauten Schrei schubste er den dicken Jungen in den Fluss – oder versuchte es zumindest: Ohne einen Mucks fiel Yagdi vornüber in den Uferschlamm und blieb dort liegen. Mit geröteten Augen und Schlamm im Gesicht sah der dicke Junge zu Di auf. Dann setzte er sich wortlos wieder an die Stelle, an der er zuvor gesessen hatte. Achselzuckend kehrte Di zu uns zurück. „Was ist denn mit dem los?“ sagte er ein wenig kleinlaut.

Die Tümpel gab es nur im Sommer. Nur dann schwoll der Grünbach vom Schmelzwasser aus dem Graugebirge so stark an, dass er das kleine Waldstück nahe der Küste überflutete. Gräben und Erdlöcher entwurzelte Bäume liefen dann voll mit dem jadegrünen Eiswasser. Die Mittagssonne und die im Wind raschelnden Baumkronen warfen ein zitterndes Muster aus Licht und Schatten auf das überschwemmte Unterholz. Jeder von uns stach fachmännisch mit einem Stock in die Wasserlöcher, um ihre Tiefe zu prüfen. Das Loch, das eine riesige Horneiche ins Erdreich gerissen hatte, war breit und tief genug zum Baden. Wir warfen unsere Kleider über ihren Stamm und sprangen unter Geschrei hinein. Das trübe Nass brannte wie kleine Nadelstiche. Schnell krochen wir japsend wieder heraus. Dass wir nun noch mehr froren, scherte uns wenig. Sorglos streiften wir unsere Kleider über und durchkämmten dieses Zauberreich. Hier verschmolzen das Rauschen des Meeres und das Glucksen des Grünbachs mit den Geräuschen unsichtbarer Waldbewohner zu einem vielstimmigen, fiebrigen Gemurmel. Keiner von uns sprach ein Wort. Bald schon konnte ich Yi und Di nicht mehr sehen. Nur ihre schmatzenden Schritte im durchtränkten Waldboden verrieten noch, dass sie da waren. Ich hatte es nicht eilig, sie zu finden. Etwas Vertrautes lag in der Luft, das ich nicht greifen konnte.

Zwischen den Wurzeln eines Baumes machte ich eine Entdeckung: Dort wuchs eine Blume, die ich noch nie zu zuvor gesehen hatte – selbst in Tax Garten nicht, wo mehr Kräuter wuchsen, als man sie im Umland fand! Rot leuchteten ihre großen, runden Blütenblätter. Die Narbe war dunkelbraun und sah aus wie ein dicker, haariger Käfer. Etwas an der Blume weckte meine Erinnerung an einen Traum der vergangenen Nacht.

Ich folgte ihr schon eine ganze Weile – schon immer? Nie bekam ich sie zu Gesicht! Nur ein Zipfel ihres glühend roten Kleides zwischen den Bäumen nährte immer wieder meine Hoffnung. ‚Wer bist du?‘ dachte ich. Ihr Lachen erfüllte den Wald, hell und klar.

„Was hast du gefunden?“ fragte Di. Ich hatte ihn nicht kommen hören. „Nichts“, erklärte ich. Auch Yi stieß nun zu uns. Ich warf einen Blick in meine Brusttasche: Da steckte die Blume, versteckt neben dem Splitter meines Djekani. „Was machen wir als nächstes?“ fragte Yi, und so erzählte ich den beiden von meiner Idee, ein Baumhaus im toten Wald nahe der Küste zu bauen. Yi sträubte sich. Für unseren Freund Yi war der Dienst auf dem Feld eine Befreiung gewesen. Mit den kräftigen Burschen vom Feld zusammen in der Sonne zu schwitzen schützte ihn vor seinem Bruder und seinem Vater. „Nutzlos wie Treibholz“ nannte Naßdi seinen jüngeren Sohn gern – seit einem Jahr wusste Yi, dass das nicht stimmte. Jeder unserer Vorschläge, von dem Yi glaubte, die Feldburschen könnten ihn kindisch oder albern finden, veranlasste ihn seitdem zu immer demselben gespielten Protest, an dessen Ende er doch einlenkte und mitmachte. Diesmal machte ich ihm die Sache schmackhaft, indem ich ihn zum Herrn unserer Festung erklärte: „Du beschützt das Land, hast eine hübsche Frau und viele Kinder...“ Daran fand Yi Gefallen. „Bist du wieder der Hexenmeister und mein weiser Berater?“ Ich nickte. „Ein toller Burgherr wärst du...“ schnappte Di. Er wartete gern, bis wir uns etwas ausgedacht hatten und wollte dann dasselbe, „Du würdest doch ständig irgendwelchen Mädchen nachjagen, während die Feinde sich in die Burg schleichen...“ Yi grinste. „Ich hätte überhaupt keine Feinde!“ Bevor Yis Angeberei zu einer Rauferei zwischen den beiden führte, schlug ich vor: „Sei du doch der Hüter des Waldes! Du bist ein tapferer Krieger, der das Land auskundschaftet und aus dem Schatten heraus alle Feinde erschlägt!“ Di war hin und her gerissen. „Keine Lust!“ sagte er schließlich und rannte davon.

Yi zuckte mit den Schultern. „Der kommt zurück… Nun, ich habe beschlossen, dass wir eine prächtige Festung errichten müssen. Weiser Hexenmeister Yag: Welchen Ort haltet Ihr für am besten geeignet?“ Teilt Eure Weisheit mit mir!“

–„Weiser Chopaech!“ verbesserte ich ihn. Yi rollte mit den Augen. „Musst du immer einen anderen Namen tragen? Ist Chopaech auch ein Blindfisch?“ Ich schüttelte heftig den Kopf. „Nein! Er kann mit dem Wind reden und ihm Befehle geben, indem er Zaubersprüche von seinen Tafeln abliest!“ Yi grinste schief. „Wenn du mich in der Nähe meines Feldes triffst, hältst du davon aber die Klappe, ja?“ Dann warf er sich in die Brust und nahm wieder die Rolle des Burgherren ein. „Nun denn, weiser Chopaech: Ich will Euch sagen, welche Stelle ich für die beste–“

Die Rede des stolzen Burgherren wurde unsanft unterbrochen, als eine Schlammkugel sein Gesicht traf. Johlend brach Di aus der Deckung hervor. „Belagerung!“ brüllte er, und eine Handvoll glitschigen grünen Schlamms verfehlte mich nur knapp. Ohne Erbarmen holten wir zum Gegenschlag aus. Alle vier Fäuste bewaffnet mit triefendem Matsch, jagten wir den Angreifer durchs Unterholz, bis er aussah wir ein Schlammkrieger aus dem Meeresreich des Bagi. Bald schon lösten sich die Fronten auf und immer derjenige wurde zur Zielscheibe, der noch die wenigsten Treffer abbekommen hatte. Schmährufe, Schlachtgebrüll und die Schreie Getroffener übertönten nun das Meer und den Grünbach. Die Vögel des Waldes hatten längst empört das Weite gesucht. Wir rasten durch den Wald wie Irre, stürzten in kleine Tümpel, schlugen uns an Baumstämmen oder niedrigen Ästen – und waren doch unverwundbar, Jäger und Gejagte in Einem.

Am Waldrand nahm der Wahn sein Ende. Lachend und Schlamm spuckend begruben wir das Kriegsbeil und beschlossen, uns in der Sonne trocknen zu lassen.

Nördlich der Brücke, ein Stück flussaufwärts, neigten fünf alte Weiden sich über den Grünbach. Durch ihre Krümmung waren sie nach oben geöffnet wie Kinderwiegen, was ihnen in Ntho den Namen „Wiegeweiden“ eingebracht hatte. Begeistert stellten wir fest, dass noch niemand sie an diesem Sonnentag belegt hatte. Schlotternd warfen wir unsere nassen Tuniken und Hosen über die Zweige der Weiden, wuschen uns die Gesichter am Flussufer und machten uns in dreien der Wiegeweiden lang.

Der Wind war nicht mehr als Streicheln oder ein geflüstertes Gutenachtlied und die Umarmung der Sonne hatte uns schläfrig gemacht. „Ich habe darüber nachgedacht, was du gestern gesagt hast, Yag“, sagte Yi plötzlich. Er lag so tief in der Weide, dass wir nur seine Füße sahen. „Was meinst du?“ Yi setzte sich auf. „Na, was du gefragt hast. Ob wir lieber in den Süden oder in den Norden gehen würden.“ Verlegen rutschte ich in meinem Baum hin und her. „Ach das… das war nur Unsinn!“ Yi sah mich mit todernster Miene an. „War es das?“ Wusste Yi etwas von Eisbluts Gast? Hatte ich mich gestern verplappert? Meine Erinnerungen waren unklar… „Ich meine, was wollen wir hier?“ fuhr Yi fort, „Eisblut und die ganzen Alten haben das hier alles aufgebaut… und was bleibt für uns? Was bauen wir auf, wenn wir keine Baumhäuser mehr bauen?“

–„Also, Papa hat mir versprochen, dass ich sein Nachfolger werden darf!“ mischte Di sich ein. „Soll ich dir sagen, was mein Papa mir versprochen hat?“ giftete Yi zurück. Er riss einen Zweig von seiner Weide ab und schleuderte sie erfolglos in Richtung des Grünbachs. „Du kennst sie: meinen Vater, meinen Bruder, den ganzen lahmen Haufen in ihren bequemen Häuschen. Niemanden schert‘s, was ich will.“

–„Doch, uns!“ beteuerte Di. Ich schloss mich ihm an: „Genau, Yi! Weißt du, gestern war so ein Tag, da wollte ich auch irgendwohin weglaufen. Aber dann hat Tax mir erlaubt, sein Lehrling zu werden. Weißt du, warum?“ Yi schwieg. Er stierte auf den schmalen Streifen des weiten Meeres, den wir von hier aus sehen konnten. „Weil er unser Freund ist – und deiner auch! Und wir sind doch auch Freunde!“ Di nickte. „Und das bleiben wir auch, egal, was kommt!“

–„Deswegen“, fuhr ich fort, „Musst du uns sagen, was du willst! Und dann können wir dabei helfen. Vielleicht hätte ich Tax gestern nicht gefragt, wenn ihr beiden nicht dabei gewesen wärt!“

Eine schwarze Locke hing Yi über das rechte Auge. Es schien ihn nicht zu stören. „Ich will weg von hier“, sagte er. „Wohin?“ fragte ich, „In den Freien Norden?“ Yi schnaubte verächtlich. „Was soll ich denn bei den Dreckfressern?“ Die Augen unseres Freundes leuchteten auf. „Nein, in den Süden will ich, in die Nebelstadt! Du hast doch gehört, was Danex über die große Stadt erzählt: So viele hübsche Mädchen wie Blumen auf der Wiese, sagt er, und duften tun sie auch nach Blumen, nicht nach Arbeit, und Tausende von Nek, die in feinen Kleidern herumlaufen und was zu sagen haben. Den ganzen Tag kannst du Spiele und Wettkämpfe ansehen zwischen riesigen Ungeheuern und niemand muss im hartgefrorenen Boden nach Rüben graben… oder mit zwanzig anderen um einen kleinen Ofen sitzen und sich über seine Freiheit freuen.“

Als Yi endete, spürte ich, wie die kalte Klaue von gestern Abend erneut nach meinem Herz griff. Was, wenn Yi Recht hatte und es für uns alle im Norden nur Hunger gäbe? Was, wenn er nicht Recht hatte – und trotzdem nicht mit allen anderen in den Norden ginge, sondern in den Süden?

Yi kam meinen Gedanken zuvor. „Wenn ich in den Süden gehe, kommt ihr dann mit?“ fragte er völlig ernst. Ich schluckte. „Ich komme mit“, sagte ich. Yi lächelte und wendete sich zu Di hinüber. „Was ist mit dir?“ Doch er bekam nur ein Schnarchen zur Antwort. Grinsend machte Yi sich in seiner Weide lang. „Wie auch immer“, sagte er gähnend, „Planen wir das alles an einem anderen Tag...“ Es dauerte nicht lange, da hatte der Schlaf erst ihn übermannt und schließlich auch mich.

Sie tänzelte unbeschwert durch den Wald. Obwohl ich es war, der ihrem roten Saum nachjagte, gab sie doch den Schritt vor: Pirschte ich mich langsam durch das Dickicht, verlangsamte auch sie ihren Schritt. Rannte ich drauf los, rannte auch sie – und summte und lachte noch dabei! In nicht allzu großer Entfernung hörte ich das Meer rauschen – ‚Hier endet das Versteckspiel!‘ hoffte ich. Schon überschritt sie die Waldgrenze und Sonnenlicht umgab ihre Silhouette wie ein glühender roter Kranz. Ich nahm die Beine in die Hand und stürmte zum Wald hinaus. ‚Warte!‘ rief ich.

Am Waldrand, über einem umgestürzten Baumstamm, baumelte ihr rotes Kleid im Wind. Ihr helles Gelächter lockte mich ans Wasser. Da schwamm sie, von der Küste fort, und nur ihr feuchtes Haar ragte noch aus dem Meer hervor. Worauf wartest du noch? dachte ich. Rasch warf ich meine Kleider über einen großen Stein. Meine Füße tauchten gerade in das schäumende Salzwasser ein, da grollte es am Himmel. Ich blickte auf: Ein riesiges, finsteres Loch klaffte dort, mitten im wolkenlosen blauen Himmel. Rund und groß war es und wuchs unaufhörlich, und während die Schwimmende Richtung Horizont verschwand, breitete sich über mir das Loch aus, bis es zehnmal so groß schien wie die Sonne. Bald verformte es sich zu einem riesigen Maul und Gelächter und laute Rufe erklangen aus der Finsternis. Ein Wort ertönte wieder und wieder, bis es sich klar und deutlich von dem Rauschen und Grollen am Himmel abhob: „Aussätziger!“ tönte es, während Dunkelheit den Himmel und alles um mich verschlang und Regen auf mich nieder fiel.

Prustend fuhr ich hoch. „Wo hast du deinen Djekani gelassen, Blindfisch?“ Ich rieb mir das Wasser aus den Augen und sah in die Gesichter der Feldburschen Daneglex, Danegdesch, dazu Danegdex und nicht zuletzt Daneglesch, Yis fünf Jahre älterem Bruder. Sie alle waren grobe, gehässige Kerle, und selbst Yis Bruder ähnelte meinem Freund nur in der Farbe der Haare und Augen: Sein Blick dagegen war nicht einladend und freundlich, sondern stets misstrauisch und lauernd wie ein Raubtier. Auch jetzt verriet seine Miene, dass er zum nächsten Sprung bereit war. In seiner Rechten hielt er seinen Djekani und Flusswasser tropfte noch daraus. Ich wischte mir die letzten Tropfen vom Kinn und murmelte: „Der ist zerbrochen.“ Die vier lachten. „Ach, sag‘ bloß!“ rief Daneglex, „Du weißt schon, was man mit Leuten anstellt, die die Bräuche mit den Füßen treten?“ Daneglex sprach das Wort „Bräuche“ so gestelzt aus, dass klar war, wie wenig diese ihn scherten. „Verbannung! Gefängnis!“ fügten Danegdex und Danegdesch der Reihe nach hinzu. „Es war nicht meine Schuld!“ protestierte ich. Yis Bruder schüttelte langsam den Kopf. Mit gespieltem Ernst sagte er: „Wir können dir das nicht durchgehen lassen. Weitere Strafen werden folgen, aber als Allererstes bewegst du jetzt deinen verbannten kleinen Hintern aus dieser Weide.“ „Ja, husch husch!“ johlte Daneglex.

„Mach‘ doch keinen Ärger, Zwo!“ schaltete Yi sich ein. Er rief seinen Bruder bei dessen Spitznamen, um diesen versöhnlich zu stimmen; wenig überraschend mit mäßigem Erfolg: „Spiel‘ du mal nicht den Dorfältesten, Bettnässer!“ blaffte Daneglesch, ohne seinen kleinen Bruder eines Blickes zu würdigen. Yi lief rot an und entgegnete etwas, wovon ich ihm abgeraten hätte: „Das ist zehn Jahre her! Fällt dir nichts Besseres ein?“ Das Hohngelächter der vier Burschen wurde nur noch ärger. Auch Di mischte sich nun ein: „Und du… und du solltest nicht von Bräuchen reden. Heute ist ein Festtag und ihr…“

–„Und wir wollen uns ausruhen!“ ergänzte Danegdex, „Also hopp, raus mit euch!“ Di sprang auf. „Ihr seid Chænŭaroja, wisst ihr das?“ Danegdesch und Danegdesch sahen einander an. „Wisst ihr, was er da redet?“ fragte Danegdesch. Die übrigen Drei schüttelten den Kopf. „Seht ihr?“ ereiferte sich Di. „Ihr wisst gar nichts! Ihr seid wie die drei Kerle, die den schrecklichen alten Mann überfallen wollten.“ Die Burschen prusteten vor Lachen. „Den schrecklichen alten Mann, ja?“ Yi versank vor Scham in der Weide, Di jedoch ließ sich nicht abbringen von seiner Ansprache: „Ihr würdet nicht so lachen, wenn ihr ihm gegenübersteht! Dann würdet ihr euch in die Hosen machen und nicht so große Töne spucken.“ Yi und ich tauschten Blicke aus. Wie würden wir ohne Prügel und ohne Di in den Rücken zu fallen von hier weg kommen? Unterdessen kriegte Daneglesch sich wieder ein. Er wischte sich eine Träne aus dem Auge und sagte: „Weißt du, Rotschopf, du solltest nicht jedes Märchen glauben, dass dieser alte Kräuterkauz euch erzählt. Der hängt den ganzen Tag alleine in seinem Garten herum und kommt auf keinen klaren Gedanken mehr.“

–„Ihr habt doch nur Angst vor den Chranaxen, sonst würdet ihr einfach nachschauen gehen!“ rief ich dazwischen. Wie Yis Bruder über Tax redete, machte mich wütend. Der aber schaute nur ungeduldig zum Himmel empor. „Wenn ihr so tapfere Kerle seid, dann könnt ihr ja selbst nachsehen. Ich schlage euch was vor: Wenn ihr mir einen Beweis bringt, dass ihr einen Chranax gesehen habt – einen echten! – dann überlasse ich euch diese Weiden für immer. Ich stehe sogar Wache!“ Seinen letzten Einfall fügte Yis Bruder kichernd hinzu. Schweigend starrten meine Freunde und ich einander an. „Jetzt schwirrt schon ab!“ knurrte Danegdesch ungeduldig, „Desch sagt, die Sonne bleibt nicht mehr lange – und die Knochen des Alten lügen nicht!“

„Kommt!“ sagte Yi kleinlaut. Zähneknirschend traten wir den Rückzug an.

Wir versuchten, unsere miese Stimmung durch „Grenzhüpfen“ zu vertreiben: Man stellte sich nahe eines Grenzsteines auf die „erlaubte Seite“ im Umkreis von Ntho und versuchte, aus dem Stand so weit wie möglich darüber zu springen. Der Grenzstein in Richtung Süden war der zugänglichste: Die verwitterte, mannshohe Steinsäule stand zwei Stunden vom Dorf entfernt gleich neben der weißen Straße nach Ushrilh. Bis auf den Kopf der Säule war diese übersät mit den Schriftzeichen der Aufseher, über deren Bedeutung wir noch immer gern rätselten. Der Kopf dagegen, ein blanker, dunkelgrüner Würfel, zeigte auf allen vier sichtbaren Seiten die schlangenumwundene Doppelpyramide der Nebelstadt. „Was meint ihr?“ fragte Yi, „Was geschieht, wenn man einfach nach Süden läuft?“ Di schluckte. „Hast du Danex nicht zugehört? Die Aufseher bewachen aus dem Wald heraus die Straße. Wenn jemand nach Süden geht, den sie nicht kennen, dann kommen sie und hauen ihm den Kopf ab!“ Yi winkte ab. „Aber versucht hat‘s keiner, oder? Ich habe keine Lust mehr auf dieses elende Dorf…“ Schweigend ließ ich meine Freunde über die große weite Welt streiten. Ich konnte ihnen nicht sagen, was ich am Tag zuvor gehört hatte. Sie würden es nicht für sich behalten: Yi würde versuchen, seinen Bruder zu beeindrucken, und Di konnte seinem Vater gegenüber einfach keine Geheimnisse wahren. So machte ich selbst die ersten Sprünge, still und konzentriert. Ich hatte wohl vier oder fünfmal die Grenze übersprungen, da schlossen meine Freunde sich mir an. Di und ich kamen schnell wortlos überein, heute einmal Yi den weitesten Sprung zu überlassen.

Bald schon hatte er die Niedergeschlagenheit abgestreift und strotzte vor Entschlossenheit. „Wisst ihr was? Die werden uns niemals für voll nehmen. Wir werden immer Lehrlinge bleiben.“ Di und ich schauten unseren Freund fragend an. „Lasst uns in den Wald gehen!“ Di gähnte. „Da waren wir doch schon – und unsere Sachen sind gerade erst getrocknet...“ Ungeduldig trat Yi auf der Stelle. „Nicht den Südwald, du Dummkopf! Den Ostwald meine ich! Lasst uns in den verbotenen Wald gehen!“ Keiner von uns erhob Widerspruch gegen Yis Vorschlag. Er wirkte fest entschlossen – und „seine Augen boten Sonnenschein oder Wolkenbruch“, wie Tax es zu sagen pflegte. Ich schlug vor, im Dorf Wegzehrung zu besorgen. Vielleicht würden wir dort auf andere Gedanken kommen. Doch während wir die weiße Straße zurück gen Norden schlurften, sprang Yis Begeisterung auf uns über: Di fasste den Entschluss, eines der Beile seines Vaters zu borgen, um uns beschützen zu können. Yi war begeistert. Als wir den Zaun von Ntho erreichten, kam mir ein Gedanke, der auch mich überzeugte: Was, wenn Eisblut dem Plan des Fremdlings am Ende zustimmte? Was, wenn wir wirklich eines Tages, mitten in der Nacht, zusammen gerufen würden, um in die Ferne aufzubrechen? Würden wir dann nicht viel größere Gefahren zu bestehen haben? „Warum lächelst du?“ fragte Yi, während er die Pforte öffnete. „Wir bringen deinem Bruder den Beweis, den er haben will“, sagte ich grimmig.

Rasch hatten wir uns mitsamt kleinen Proviantbeuteln wieder vor der Pforte von Ntho versammelt. Als wir das Ostfeld und die Hütten der Hirten hinter uns gelassen hatten, holte Di das Hackebeil seines Vaters hervor. Die scharfe Seite der Klinge war mit einer ledernen Scheide verschnürt. „Ist eine von Vaters besten Klingen!“ sagte Di grinsend, „Aber Ärger bekommen wir eh...“ Yis Begeisterung für seinen Plan verbarg leidlich seinen Neid auf Di. „Kannst du denn damit umgehen?“ fragte ich. Di nickte heftig. „Uns kann keiner was! Oh, schaut mal, da kommt Danex!“ Rasch schob Di das Beil wieder unter seine Tunika. Der Wagenbursche kam aus der Richtung, in die wir unterwegs waren, doch er bedachte uns bloß mit einem Nicken. Wahrscheinlich hätte Di schreiend mit seinem Beil wedeln können und es hätte Danex nicht gekümmert.

Auf halber Strecke kamen wir an der „Angststube“ vorbei – einer kleinen, frei stehenden gemauerten Kammer ohne Fenster. Sie war gerade groß genug, dass ein ausgewachsener Nek sich darin mit ausgestreckten Beinen hinsetzen konnte. Yi glaubte zu wissen, dass sie früher einmal Neschdi darin eingesperrt hatten – doch seit ich denken konnte, war die Angststube nicht mehr als ein Kinderschreck. Wir machten eine kurze Rast, um uns eine Strategie zu überlegen. „Dodex hat gesagt, dass Jäger sich mit Handzeichen verständigen“, erklärte Di. Man erzählte sich, dass der Hirte in jungen Jahren selbst häufiger einmal auf die Jagd gegangen war – bevor die Aufseher dies verboten hatten. Also vereinbarten wir Handzeichen und beschlossen, in einer engen Dreiecksaufstellung vorzurücken. Yi überließ Di widerwillig die Spitze des Dreiecks – doch immerhin besaß der Rotschopf eine Waffe! Wir wollten gerade aufbrechen, als Yaglesch wie aus dem Nichts hinter der Angststube hervorsprang. „Ich weiß, was ihr vorhabt!“ sagte der schmächtige Junge. Er hatte früher häufiger mit uns gespielt, doch er lebte noch immer im Junghaus mit den Kleinsten und hing sehr am Rockzipfel seiner Mutter. Eigentlich kam ich mit ihm zurecht, wenn wir alleine waren – doch das kam selten vor. „Ich will mit!“ Uns war klar, dass der Blondschopf uns alles verderben würde, wenn wir ihn fortschickten. „Na gut“, sagte ich und überging die verwirrten Blicke meiner Freunde, „Aber du musst die Jägerprüfung nachholen!“ Yaglesch schaute uns Drei fragend an. „Was soll denn das sein?“ Yi und Di spielten mit und nickten ernsthaft. Ich räusperte mich. „Die Jägerprüfung… ja, also du weißt sicher, dass es stockdunkel ist im verbotenen Wald, oder?“

–„Ja sicher!“ log Yaglesch. Ich nickte. „Gut. Damit wir trotzdem etwas sehen, müssen wir unsere Augen üben: Dafür setzt du dich in einen dunklen Raum und zählst bis Hundert. Wenn du dann die Wände sehen kannst, hast du die Prüfung bestanden! Yi, Di und ich haben das schon im Dorf gemacht, aber wir haben keine Lust, mit dir den ganzen Weg zurück zu gehen...“ Yi hatte offenbar begriffen, was ich vorhatte, und unterdrückte mit äußerster Mühe ein Grinsen.

–„Wir könnten die Angststube nehmen!“ schlug Yaglesch vor. Yi rang sich lobende Worte ab: „Tapfer bist du jedenfalls!“ Ich nickte. Na gut, aber die Tür muss wirklich ganz geschlossen sein!“ Ohne zu zögern zog Yaglesch den Riegel von der schweren Eichentür beiseite und trat in die kleine Kammer. Der Sohn von Kaschis, der Witwe, war nicht mit Dummheit, sondern Gutgläubigkeit geschlagen: Noch während ich die schwere Tür hinter ihm schloss, begriff er, was vor sich ging und trommelte schreiend gegen das massive Holz. Yi und Di mussten sich gegen die Tür stemmen, damit ich den Riegel ins Schloss schieben konnte. Wie von einem Schwarm Bienen verfolgt rannten wir davon. „Bis die Hirten auf ihn aufmerksam werden, sind wir längst im Wald!“ keuchte Di. Yi grunzte zur Bestätigung, „Lasst uns trotzdem schnell den Wald erreichen“, sagte er, ohne den Schritt zu verlangsamen, „Dann erwischt uns der Regen nicht mehr!“ In der Tat zog sich in unserem Rücken der Himmel zu. Unser rothaariger Freund erreichte als Erster den Hochsitz am Waldrand. Als wir zu ihm aufschlossen, äußerte er Zweifel an unserem Vorhaben: „Wollen wir es nicht doch lieber an einem Tag versuchen, wo die Sonne scheint?“ Yi machte uns darauf aufmerksam, dass Yaglesch uns verpfeifen würde: „Wenn wir jetzt ohne irgendetwas zurückkehren, stehen wir da wie Feiglinge!“ Di nickte und zückte sein Beil. „Dann mir nach!“ Wie besprochen bildeten wir unsere Dreiecksaufstellung und betraten klopfenden Herzens den Wald.

Der Vorhof des Chranaxwaldes gehörte eigentlich noch zu dem Nordwald und bestand aus alten, knorrigen Eichen, vertrockneten Sträuchern und einer Vielzahl von Totenfingern; Weißen, dürren Bäumen mit kahler Krone, die trotzig dem Sterben ihrer Nachbarn zusahen. Trockenes Moos bedeckte jeden Flecken Erde und jeden Felsen, der nicht vom froschgrünen Kletterwürger überwuchert war. Insgesamt gab es mehr Grün im Unterholz als in den Baumkronen. Lustvoll stampften wir durch das knisternde Moos und erklommen an den Ranken des Kletterwürgers die höchsten und rüstigsten Eichen. Je tiefer wir vordrangen, desto besser wurde die Aussicht auf den vor uns liegenden Kiefernwald. Am Übergang zum Chranaxwald ragte eine Eiche aus dem Blätterwerk hervor. Auf ihren Ästen fanden alle Drei von uns Platz. Gleich vor uns fiel der Wald steil ab und führte in das Tal des verbotenen Waldes. „Da unten kann man die Bäume nicht mehr sehen, so hoch steht der Nebel“, raunte Di ehrfürchtig. Yi lächelte grimmig. Wie aus dem Nichts stimmte er das Geheul eines Chranaxes an, wie man es nachts in Waldesnähe hören konnte. Wir stimmten in das Wolfsgeheul ein und rüttelten an den Ästen über und unter uns. „Seid ihr bereit für Heldentaten?“ fragte Yi begeistert. Ohne Umschweife kletterten wir unseren Ausguck hinab und traten den letzten Abschnitt unseres Streifzuges an. Wir waren ein Rudel Raubtiere auf der Suche nach Beute! Beute, das war es, was wir den Älteren im Dorf vor die Füße werfen würden. Ein letztes Mal an diesem Tag kam die Sonne hervor und wärmte unsere Rücken – dann rutschten wir johlend und lärmend den Abhang hinunter. Immer wieder mussten wir uns um die harzigen Stämme naheliegender Kiefern klammern, damit wir uns nicht überschlugen. „Das wird ein anstrengender Rückweg“, schnaufte ich.

„Das ist also der verbotene Wald!“ rief Yi übermütig, als wir ebenen Grund erreichten, „Sieht mir aus wie jeder andere Wald!“ Di wirbelte Laub mit der Spitze des Beils auf. „Ja, wahrscheinlich haben die Ältesten bloß etwas Wertvolles hier versteckt, was wir nicht sehen dürfen!“ Diese Idee gefiel Yi. Beschwingt von der Aussicht, mit dem Schatz der Dorfältesten zurückzukehren, setzten wir unseren Weg fort. Die Baumreihen wuchsen nun dichter und Föhren und Tannen mischten sich zwischen die hochragenden Kiefern. „Denk daran, Yag“, mahnte Yi im Flüsterton, „Di und ich klären das Gebiet auf, du schaust, dass wir zusammen bleiben!“ Ich stutzte. „Also seid ihr jetzt beide vorn und ich alleine hinten?“ Yi nickte. „Ja, es ist immer noch die Dreiecksaufstellung, aber ab jetzt müssen wir vorsichtiger sein.“ Er sollte verflucht sein. Widerspruchslos fügte ich mich in meine neue Rolle als Nachhut und folgte meinen Freunden. Von hier an sprachen wir kein Wort mehr und hörten nur noch auf den Atem der anderen. Wenn Yi einmal etwas zu weit nach rechts driftete, ahmte ich den Ruf einer Eule nach – unser Kennzeichen. Raschelnd und schnaubend kehrte er dann zurück und entschuldigte sich kaum hörbar. Wir alle waren nun mit kurzen Stöcken ausgerüstet, um damit den nadelbedeckten Boden aufzuwühlen.

Bald waren Yi und Di eingespielt und entfernten sich nicht länger voneinander. So konnte ich meine Aufmerksamkeit dem Wald widmen: Seit wir den Abhang hinter uns gelassen hatten, veränderte sich schleichend sein Antlitz. Nicht nur der Waldboden verschwand allmählich unter einem dichten, weißen Nebelteppich – auch der Gesang der Vögel und das scheue Huschen der Waldtiere erstarb mit jedem Schritt, den ich tat. Nur herabstürzende Kiefernzapfen und Regentropfen, die das Blätterdach durchdrangen, unterbrachen hie und da die Stille und rissen den Nebel in Fetzen, nur um schließlich doch von ihm verschlungen zu werden.

Wir mussten Tax diesen Ort zeigen, dachte ich. Der Nebel, die Totenstille, das weiche Laub, das die Geräusche unserer Tritte verschluckte – es war, als befänden wir uns mitten in einer seiner Geschichten! Mittlerweile war der ganze Wald um uns herum vom Nebel verhüllt und das Trommeln des Regens über den Wipfeln schwoll weiter an. Ich wirbelte mit den Armen durch den grauen Schleier um mich herum – ich war der Herr der Wolken, Befehlshaber über die weißen Scharen überall auf der Welt! Ehrfürchtig zog ich die Blume hervor, die ich bei den Tümpeln gefunden hatte. Sie war verwelkt, doch ihr sattes Rot war immer noch kräftig und leuchtend. In diesem nebligen Tal wirkte sie verloren. Ich hielt inne und ließ die Bilder aus meinem Traum vor meinen Augen vorüberziehen: das sanfte Lachen der Ewig Fernen, das rote Gewand… „Zeige dich mir!“ flüsterte ich beschwörend. Sofort schalt ich mich für den törichten Versuch, eine Göttin herbei zu rufen – als ein sanfter Windhauch durch die schwarzen Fichten fegte und den Nebel aufwirbelte. Mir stellten sich die Nackenhaare auf. Für einen Augenblick glaubte ich, in weiter Ferne die Rotgewandete lachen zu hören.

Ein Schrei zu meiner Rechten riss mich aus meinem Tagtraum. Yi und Di riefen nach mir. Sie klangen aufgeregt.

Meine Freunde hatten sich bereits ein ganzes Stück von mir entfernt. Die beiden standen auf einer Lichtung. Regen lief in dicken Fäden ihre Gesichter hinab. Es schien sie nicht zu stören. Etwas auf dem Boden vor uns zog sie in seinen Bann. Di warf mir einen verschwörerischen Blick zu.

Ich hatte bereits Tierkadaver gesehen: nicht nur von Schafen und anderen Tieren, die wir in Ntho hatten – auch verrottende Waldvögel und Eichhasen hatten wir auf unseren Streifzügen schon zur Genüge im Gestrüpp gefunden, einmal sogar einen Fuchs. Ich kannte den süßlichen Geruch der Fäulnis und die klaffenden Wunden, die Gebein und Innereien entblößten, und das empörte Summen von abertausend Fliegen, wenn man mit einem Stock in ihre Mahlzeit piekste. Der Leichnam des Chranaxwelpen glich keinem der mir bekannten: Der Regen hätte Blut fortspülen und die Fliegen vertreiben können – doch es gab keine Wunde, keine verdrehten Glieder, kein in Fetzen gerissenes Fell. Der durchnässte Pelz des Welpen war schlohweiß und kraftlos und das Tier lag zusammengekrümmt und verwelkt auf der Seite wie eine vertrocknete Traube. „Findet ihr auch, dass es lächelt?“ flüsterte Di. Er hatte nicht ganz Unrecht: Das Maul des jungen Chranax war geschlossen und die Lefzen zu einem starren Grinsen, verzogen. Yi schüttelte energisch den Kopf. „So ein Quatsch! Tiere sind keine Nek! Nur Nek können denken, und wer nicht denken kann, der kann auch nicht fröhlich sein!“ Di zuckte mit den Schultern. Ich wusste, dass er als Sohn des Fleischers anderer Meinung war. „Wer Angst empfindet, empfindet auch Freude“, pflegte sein Vater uns zu erklären, „Und wenn sie glücklich sind, musst du ihnen den Schädel einschlagen – schnell und schmerzlos.“

Dis Faszination über unsere Entdeckung überwog seinen Wahrheitssinn bei Weitem. „Wie auch immer!“ sagte er, „Jetzt haben wir unsere Beute!“ Meine Freunde einigten sich darauf, dass Yi den Leichnam tragen durfte. Di wollte auch, doch Yi merkte an, dass er dann mit dem Hackebeil seines Vaters zu viel zu schleppen hätte – und das wollte der Rotschopf um keinen Preis der Welt aus der Hand geben! Ich dagegen war erleichtert, das unheimliche Geschöpf nicht auf der Schulter tragen zu müssen. Ich freute mich schon auf das Geschrei der Mädchen, wenn wir unsere Beute zurück ins Dorf brächten. Grinsend sahen wir einander an und ich wusste, dass wir alle das Gleiche dachten. Sicher würde Schanis, dieses geschwätzige Huhn, bleich werden und einmal in ihrem Leben den Mund halten! Während Di und Yi darüber stritten, in welche Richtung es heim ging, fragte ich mich, wie spät es sein musste: Wenn wir zu spät zum Tanz um das große Feuer kämen, wäre der Ärger groß! Unser Fund würde dann niemanden scheren – schon gar nicht unsere Eltern. Yi und Di gestikulierten noch immer wild: der eine mit seinem Beil, der andere mit der Hand, die nicht den Kadaver umfasste. Der Regen und ihre grimmigen Gesichter weckte in mir eine Erinnerung an früher, als Vater im strömenden Regen mit zwei Burschen auf den Feldern stritt. Die drei finster dreinschauenden erwachsenen Männer hatten mir Angst eingejagt. Ich begriff, dass wir Drei, Yi, Di und ich, bald in Ntho stehen würden, als erwachsene Männer, und stellte mir vor, wie kleine Jungen und Mädchen uns ehrfürchtig bei der Arbeit zusehen würden…

Yi und Di gaben mir mit einem Wink zu verstehen, dass sie sich geeinigt hatten. Wie zwei von der Schlacht heimkehrende Krieger schritten sie nebeneinander einher – und ich, der Hexenmeister, folgte ihnen. Der Nebel war mittlerweile sehr dicht. Meine Freunde trotteten nur wenige Schritte vor mir durch das nasse Unterholz, doch ich sah sie kaum noch. Ein am Boden liegender Ast ließ mich stolpern. Verärgert stand ich auf. Ich hatte mir eine kleine Schramme am Oberschenkel zugezogen – ich musste besser aufpassen. Tato, der blinde Seher, fände hier sicher den Weg, dachte ich. Ich packte den Ast, über den ich gestürzt war, schloss die Augen und folgte meinem Gehör und meinem Tastsinn. Hier, „auf der schwarzen Tafel meiner gesenkten Lider“ – so hieß es in einer von Tax Geschichten – hier war der Nebel machtlos. Nur das Gluckern des Regens, der an den Baumstämmen hinablief, und das gedämpfte Gemurmel meiner Freunde erreichte mich noch. Erneut flackerte das rote Gewand der Himmelstochter auf. Während ich voranschritt und im Rhythmus eines alten Schlafliedes mit meinem Stock tastete, verblassten die Geräusche des Regens und das Knacken im Unterholz. Mein Traum von vergangener Nacht, unser unheimlicher Fund, der nebelverhangene verbotene Wald, Yis Wunsch, nach Ushrilh zu gehen, der Verlust meines Djekani – all das geschah aus einem Grund, dachte ich, und die Rotgewandete hatte die Antwort. Sie musste ich finden! Einige Kiefernzweige streiften mein Gesicht. Ich stellte sie mir als prächtigen Vorhang vor. Tax hatte einmal gesagt, wahren Reichtum sehe man auch bei völliger Finsternis. Meine Schatzkammer war leuchtend und zum Bersten voll:

Da stand unsere Festung, wie Yi, Di und ich sie uns ausgemalt hatten, auf dem Gipfel des höchsten Berges, den man von Ntho aus sehen konnte. Am Fuße des Berges stand eine Mühle – aber nicht so eine schäbige, zwielichtige Mühle wie die des bösen Neschdi: So groß wie ein Berg war sie und mit einem Mühlrad so groß wie ganz Ntho! Die Fassade war gestrichen in himmelblauer Farbe, das Mühlrad gelb wie die Sonne und die Wände im Inneren waren weiß und einladend. Furchteinflößende Krieger mit Speeren und Schilden beschützten unser Land, auf den Mauern und draußen in der Wildnis. In der Festung dagegen gab es üppige Gärten mit Obstbäumen und überall hingen bunte Banner. Vor jedem der vier Wehrtürme gab es einen Brunnen mit frischem Quellwasser. Kinder jagten über die Plätze und Bauern luden ihre Ernte in einer großen Halle ab, wo Yi und ich uns darüber berieten, wie die Vorräte am besten zu verteilen waren. Über dem Haupttor prangte auf einem feuerroten Banner unser Wahrzeichen: die Salzweide von Tax Gartenhügel, mit ihrem pechschwarzen Stamm und den winzigen, silbrigen Blättern, die mit ihren Wurzeln die Sonne unter sich festhielt.

Dicke, kalte Regentropfen holten mich in die Wirklichkeit zurück. Ich rieb mir das Regenwasser aus den Augen und sah mich um: Ich stand auf einer kleinen Lichtung. Hier wuchs in kleinen Büscheln Gras und Fliegenpilze umschlossen in einem großen Ring den nassen Waldboden. Der Nebel machte es auch auf der Lichtung schwer, den Himmel zu sehen. Von Yi und Di war nichts mehr zu hören. Weit konnten sie nicht sein, dachte ich, und rief ihre Namen. Keine Antwort. Ich wurde misstrauisch. Wahrscheinlich hatten sie sich einen hinterhältigen Streich überlegt, während ich zurückgefallen war! Ich stellte mich unter eine Kiefer, um nicht nass zu werden, und rief: „Kommt raus! Ich weiß, was ihr vorhabt!“ Zur Antwort kam ein ohrenbetäubendes Geheul und ein zweites wie ein Echo aus entgegengesetzter Richtung: Chranaxe. Ich kannte den Ruf der Raubtiere nur aus lange vergangenen Nächten meiner Kindheit. Da war es ein fernes Wehklagen unter dem strahlenden Vollmond gewesen – nun drang ihr Geheul durch den Nebel, so laut und klar, als lauerten sie hinter der nächsten Fichte. Wütend, drohend und wild knurrten und brüllten sie. Starr vor Angst blickte ich ringsum in den dichten Nebel. Wo waren meine Freunde? Ich hörte hastige Schritte im nassen Laub.

Das Gesicht meines Freundes Di kannte im Allgemeinen zwei Ausdrücke: Freude und Bestürzung. Ob er einer lustigen Geschichte lauschte, ob man ihm ein schönes Geschenk machte, ob er bestraft wurde, uns die älteren Burschen ärgerten, er sich verletzte oder sehr enttäuscht war: Wir wussten immer genau, wie er dreinschauen würde. Nur einmal, als er seine Mutter beschimpft hatte, da hatte ihn sein Vater durch ganz Ntho gejagt, ein Hackbrett in der kräftigen Rechten, um ihm eine zünftige Tracht Prügel zu verpassen. Als wir Dis tränenverquollenes, angstverzerrtes Gesicht erblickten, erschraken Yi und ich so sehr, dass wir glaubten, wir würden selbst verfolgt. Das war acht Jahre her.

Als Di aus dem Nebel hervorbrach, sah ich denselben Ausdruck in seinem Gesicht. Auf seiner rechten Wange hatten Zweige ihm in die Haut geschnitten und Schlamm klebte an seinem blutigen Kinn. „Wo ist Yi?“ rief ich. Di sah mich verwirrt an. Es schien, als sehe er durch mich hindurch. „Halt‘s Maul!“ keuchte, seine Lippen bebten. „Halt die Klappe und lauf!“ Seine rechte Faust umschloss noch immer krampfhaft das Beil. Ohne weitere Worte zu verlieren, stürzte mein Freund in den Nebel davon. Ob aus Entsetzen oder der quälenden Ungewissheit, was mit Yi geschehen war – ich kam nicht vom Fleck. Ich packte meinen Stock mit beiden Händen, als ob er mir als Waffe gegen ein mannshohes Raubtier helfen würde. Heute Abend würden kleine Kinder an eben solchen Stöcken Brotteig ins Feuer halten... „Yi!“ schrie ich, „Wo bist du?“

Die zweite Gestalt, die der Nebel ausspie, näherte sich auf vier Beinen. Der ausgewachsene Chranax hob sich in jeder Hinsicht von seinem toten Welpen ab, das wir gefunden hatten: Sein schwarzes Fell stand struppig und angriffslustig zu Berge, seine Ohren waren gespitzt und sein Blick war wachsam, grimmig und böse. Sein Kopf reichte mir bis zur Brust. Er erinnerte mich an einen der scharfkantigen schwarzen Felsen an der Westküste. Scharf und tödlich glänzten seine gelben Fänge und Regen und Speichel liefen ihm die Lefzen hinab. Faustdicke Atemwolken stieben aus seinen Nüstern. Der Chranax knurrte. Seine Augen trafen meine. Ich ließ meinen lächerlichen, morschen Stock fallen und wich einen Schritt zurück. Der Chranax näherte sich zwei Schritte. Er hatte keine Eile. Behutsam machte ich kleine Schritte rückwärts. Das Raubtier schnüffelte an meinen Fußabdrücken, während es unaufhaltsam näher kam. Hau endlich ab! Ich hatte den Glauben aufgegeben, dass Yi noch am Leben war. Hoffentlich schaffte es wenigstens Di! Der Chranax hatte die Lichtung hinter sich gelassen. Uns trennten nur noch wenige Schritte. Wenn ich durch meinen Tod Di einen Vorsprung geben konnte…

Plötzlich ertönte von der anderen Seite der Lichtung ein Pfiff. Knurrend wandte der Chranax sich um. Mein Herz klopfte gegen mein Brustbein wie gegen eine Gefängnistür. Die Gestalt, die aus dem Nebel trat, war größer als jeder Nek, den ich je gesehen hatte. Sie trug einen langen, erdbraunen Mantel und hatte das Gesicht mit gleichfarbigem Stoff verhüllt. Das Raubtier hielt die Nase in die Luft, jaulte wütend auf und sprang auf die Gestalt zu. Die Ablenkung gab mir die Kontrolle über meine Beine zurück: Ohne zurückzuschauen stürzte ich in die Richtung, in welche Di geflohen war.

Das Geschrei und der Lärm berstenden Holzes und Gebeins verfolgten mich länger, als ich zu laufen vermochte. Es waren keine Schreie eines Raubtiers und keine Schreie eines Nek – das ferne Gebrüll hinter Mauern aus Regenwasser klang so, wie ich mir die klagenden und fluchenden Geisterdiener aus dem Meeresreich des Bagi vorstellte: Das schwarze Meerwasser erstickte jedes Wort der Verdammten, ob wahr oder falsch. Diese Gedanken überfielen mich, sobald ich zum Verschnaufen Halt machte. Als ich wieder zu Atem kam, rannte ich weiter. Ich erreichte eine Anhöhe. Von hier an ging es wieder ins Tal bergab: Die Steigung war mein einziger Anhaltspunkt für den Rückweg gewesen. Ich musste mir eingestehen, dass ich mich verlaufen hatte. Jenseits der Baumkronen wurde es allmählich dunkel. An einem trockenen Felsbrocken unter einer Kiefer sank ich zu Boden. Ich öffnete den Mund, um nach Di zu rufen, doch hervor kam nur ein Schluchzen.

Eine Weile blieb ich einfach auf dem Waldboden liegen und ließ die Nadeln durch Hemd und Hosen stechen. Meine Waden und meine Lunge brannten von meiner Flucht und mein Mund schmeckte nach Blut. Vielleicht hatte ich mir auf die Zunge gebissen. Meine Aufmerksamkeit galt allein den Geräuschen des Waldes. Jedes Rascheln im Geäst, jedes Heulen des Windes ließ mich hoffen: War Yi als Erstem die Flucht gelungen? War am Ende nur Di überhaupt auf die Chranaxe getroffen, weil er einen anderen Weg für den richtigen gehalten hatte? Ich schämte mich für meine Feigheit bei der Lichtung. Während mein inneres Auge noch die Ereignisse der letzten Stunden in schemenhaften Bildern sortierte, senkten sich längst meine Lider und die Erschöpfung übermannte mich.

Knacken im Unterholz ließ mich hochfahren. Meine Glieder waren durchgefroren, es war stockfinster, doch der Regen hatte aufgehört. Zarte Silberfäden aus Mondlicht drangen durch die Baumkronen. „Wer ist da?“ flüsterte ich.

„Was hattet ihr hier zu suchen?“ ertönte es aus der Dunkelheit. Die Stimme gehörte keinem Mann, den ich kannte. „ Īlnek?“ fragte ich. Auf einmal kam mir der Gedanke, dass Eisbluts Gast durchaus noch in der Umgebung von Ntho lagern könnte. „Antworte!“ zischte die Stimme. Dann murmelte er unverständliche Worte in einer fremden Zunge. Eine angenehme Schläfrigkeit senkte sich über meinen Verstand. Ich begriff, dass der Fremde mein Freund war und ich ihm alles erzählen sollte, was ich wusste. „Wir sind aus Ntho“, stammelte ich, „Es war eine Mutprobe...“

– „Die Namen!“ wiederholte der Fremde. Seine Gestalt kam näher. Das fahle Mondlicht offenbarte dieselbe Gestalt, die den Chranax von mir abgelenkt hatte. Wie war er diesem Ungeheuer entkommen? „Wer hat euch in diesen Wald geschickt?“ Ich nannte die Namen der vier Burschen, die uns gehänselt hatten.

„Gut“, erwiderte der Fremde zufrieden und ging neben mir in die Hocke. Er legte seine Hand auf meine Schulter und murmelte unverständliche Worte. „Geh nun heim, Junge“, sagte er. Wärme kehrte in meine Glieder zurück. „Du wirst nie wieder diesen Wald betreten, nie wieder nach mir suchen, und sobald du heute Nacht den Wald verlassen hast, wirst du mich vergessen. Du wirst deinen Leuten sagen, du wärest den Raubtieren entkommen und sie werden es dir glauben. Du wirst es selbst glauben und nicht mehr daran denken.“ Ich nickte gehorsam. Zufrieden erhob sich der Vermummte und wies mir die Richtung. Von einer unbekannten Kraft gestützt erhob ich mich vom Waldboden. Ohne Umschweife lief ich los, immer in die Richtung, die mir der Fremde gewiesen hatte. Der Nebel zog sich hinter mir zurück, meine Oberschenkel brannten von dem Aufstieg und Sträucher und Zweige rissen mir an der Kleidung. Der Vollmond stand über Ntho, als ich aus dem Wald heraus stürzte. Unweit des östlichen Feldes flimmerte ein Teppich aus Feuer. Wie ein Schwarm Glühwürmchen kamen viele Dutzend Fackeln auf mich zu, begleitet von erleichterten und besorgten Schreien und Rufen, von beunruhigtem Gemurmel und über allem die strenge Stimme unseres Ältesten. Ganz Ntho war auf den Beinen. Schon wich alle Kraft aus meinen Gliedern. Schon verblasste die Erinnerung an den Fremden. Die Angst, so schien es, kehrte nicht zurück. Zurück blieb nur Leere. Im Kreise der Fackeln verlor ich das Bewusstsein.

Yag aus Ntho

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