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Vinland, das gute Land

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Das Schiff liegt abfahrbereit am Ende des Eiriksfjords. Die Mannschaft ist schon an Bord und wartet darauf, die Leinen loszumachen. Bjarni Herjolfssohn steht am Bug und späht hinüber zu den dunklen Wolken, die den Westhimmel bedecken und in ihre Richtung kommen. Seine buschigen Augenbrauen ziehen sich über seiner Nasenwurzel zusammen. Leif betrachtet ihn vom Land her. Ob Bjarni seine Zusage bereut, sich der Expedition in das neue Land anzuschließen, oder ärgert er sich nur, weil er sich zum Verkauf seines Schiffes hat überreden lassen?

Leif hört hinter sich erregte Stimmen und fährt herum. Zwei Jungen kommen schreiend angelaufen, er kann jedoch kein Wort verstehen. Als sie noch näher kommen, befiehlt er ihnen, zu schweigen. Die Jungen ringen keuchend um Atem und treten dann dicht an ihn heran. Leif schüttelt den Kopf, als er hört, was sie ihm zu sagen haben, er will seinen Ohren nicht trauen: Eirik ist vom Pferd gestürzt und hat sich verletzt. Er wird sie nun doch nicht auf die große Reise begleiten können.

Leif sagt nichts, er dreht sich um und geht mit langen Schritten zum Hof zurück. Dort sitzt sein Vater auf dem Boden und läßt sich von einem Leibeigenen den Fuß massieren. Eirik ist bleich und sieht ziemlich niedergeschlagen aus. Leif denkt, daß sein Vater vielleicht doch recht hatte, als er sich der Reise gen Westen nicht anschließen wollte. Er sei zu alt und solchen Strapazen nicht mehr so gut gewachsen wie früher.

Doch Leif hatte ihn überreden können. »Du bist noch immer derjenige in unserer Sippe, dem das Glück am günstigsten gesonnen ist«, hatte er gesagt und mit dieser Schmeichelei bei Eirik Erfolg gehabt.

Vater und Sohn schauen einander lange an. Schließlich bricht der Alte das Schweigen: »Es ist mir nicht bestimmt, mehr Land zu finden als das, welches wir jetzt bewohnen. Wir werden wohl nicht länger alle zusammen fahren.«

Leif hilft seinem Vater auf die Beine. Eirik legt den Arm um Leifs breite Schulter. Auf den Sohn gestützt hinkt er zu dem Haus, in dem Thjodhild ihn schon erwartet.

Eine halbe Stunde später heißt es: »Leinen los!« Bjarni wirkt jetzt weniger bedrückt. Er lächelt kurz, als der Wind sich dreht, und Leif läßt die Männer das Rahsegel setzen. Schon bald darauf steuern sie in schneller Fahrt auf die Mündung des Eiriksfjords zu.

Sie halten Kurs nach Norden und bleiben dabei die ganze Zeit in Sichtweite zum Land. Leif hat oft mit Bjarni über den Kurs gesprochen und sie sind einer Meinung: Sie werden auf Bjarnis Route zurücksegeln. Wenn sie an der grönländischen Küste entlang die Hälfte der Strecke nach Norðrseta segeln, dann ist die Entfernung zu dem neuen Land jenseits des Meeres nicht mehr groß, meint Bjarni.

Die nordischen Seefahrer hielten sich auf ihren Reisen am liebsten immer in Landsicht. Ihre Navigationskenntnisse erlaubten es ihnen nicht, sich unbesorgt auf das offene Meer hinauszubewegen. Bei klarem Wetter konnten sie mit Hilfe der Sterne stetigen Kurs längs der Breitengrade halten. Eine Reise in Nord-Süd-Richtung dagegen war ein Vabanquespiel, da sie keine Methoden kannten, um die Längengrade zu bestimmen.

Leiv Eirikssohn hatte keinen Kompaß, dieses Gerät wurde in Nordeuropa erst zwei- bis dreihundert Jahre später bekannt, doch immerhin kannte er die Himmelsrichtungen. Die Wikinger teilten das Himmelsgewölbe in rechtwinklige Achsen ein, die wiederum die vier Hauptrichtungen bildeten – Norden, Süden, Osten und Westen. Zwischen diesen Achsen hatten sie vier weitere Richtungen eingefügt, so daß sie sich bei der Navigation an insgesamt acht Richtungen orientieren konnten. Tagsüber hielten sie sich darüber hinaus an die Sonne, nachts an die Sterne. Besonders wichtig für sie war der Polarstern, dieser klare kleine Stern im Kleinen Bären.

Vielleicht hatten Leif und seine Männer eine sogenannte Peilscheibe als Hilfsmittel. Im Jahre 1948 wurden auf Grönland Reste eines Gegenstandes gefunden, bei dem es sich um eine solche Scheibe gehandelt haben könnte. Das Fundstück hatte ein Loch in der Mitte und möglicherweise war ursprünglich ein Handgriff durch die Scheibe geführt worden, der sie horizontal hielt, so daß man sie drehen konnte. Reste eines solchen Handgriffs sind allerdings bisher nicht aufgetaucht, weshalb diese Theorie nur wenig verläßlich ist. Am Rand der Scheibe waren 33 ½ Kerben angebracht, die möglicherweise die Himmelsrichtungen markieren sollten.

Falls die nordischen Seefahrer wirklich solche Peilscheiben benutzten und Leif noch dazu die Tabellen besaß, die irgendwann im 11. Jahrhundert in einem Schriftstück namens Oddi-Tala erwähnt worden sind, konnte er ziemlich genau entlang den Breitengraden navigieren. Eine dieser Tabellen zeigt die Sonnenhöhe im Meridian während eines Jahres, eine andere zeigt die Richtungen von Sonnenaufgang und -untergang. Die Tabellen haben sich als überraschend zutreffend erwiesen. Der Fehlerspielraum betrug lediglich zwei Grad.

Doch in der hellen Sommerzeit war der Sternenhimmel keine große Hilfe und bei Nebel oder bewölktem Wetter ließen sich die Himmelskörper auch nicht zur Navigation nutzen. In der Saga wird als weiteres Hilfsmittel der Sonnenstein erwähnt, ein Stück Kalkspat. Lange Zeit hieß es, die Seefahrer hätten den Stein senkrecht in die Luft gehalten und damit das polarisierende Licht der Sonne eingefangen, um damit die Sonnenrichtung ermitteln zu können. Kritische Forscher heute zweifeln jedoch den ganzen Bericht über den Sonnenstein an. Auf keinen Fall hat es sich dabei um ein sonderlich weit verbreitetes Navigationswerkzeug gehandelt, und wir haben kaum Grund zu der Annahme, daß Leif Eirikssohn und seine Leute über einen solchen Stein verfügten.

Bald sehen sie südlich von Norðrseta vertrautes Land. Bisher hatten sie guten Wellengang und sind von der Strömung an der grönländischen Westküste entlang nach Norden getrieben worden. Bjarni sagt, daß hier die Stelle sei, und Leif befiehlt seinen Männern zu wenden und Kurs auf das offene Meer zu nehmen. Er verspürt die Unruhe im Leib, die Spannung, die Seeleute immer empfinden, wenn sich vor ihnen unbekanntes Fahrwasser auftut.

Niemand weiß, wer zuerst das Land gesehen hat, aber nach einer weiteren kalten Nacht in den Ledersäcken, die nachts als Schlafsack genutzt werden und tagsüber als Aufbewahrungsort für Waffen und andere Habseligkeiten dienen, erwachen alle zum Leben.

Als sie sich dem Land nähern, sehen sie überall hohe Gletscher, und vom Meeresgrund bis zu den Gletschern scheinen sich ununterbrochene Felswände aufzutürmen. Einer der Männer lacht verächtlich. Dieses Land sollte reich an Wäldern und üppigem Weideland sein? Trotzdem hält Leif klaren Kurs auf die Gletscher und bald darauf gehen sie an Land.

Doch das Land ist karg und scheint nichts zu bieten außer Eis und Steinen, weshalb Leif alle wieder an Bord befiehlt. Er lächelt Bjarni spöttisch an und sagt: »Uns geht es mit diesem Land offenbar anders als Bjarni, denn wir gehen immerhin an Land. Ich aber will diesem Land einen Namen geben, und ich nenne es Helluland« (Flachsteinland).

Dann segeln sie wieder aufs Meer hinaus, können jedoch steuerbords die ganze Zeit die nackte, kalte Küste erkennen. Wieder folgen sie der Strömung. Zweimal verlieren sie die Landsicht, doch Bjarni versichert ihnen, daß alles weiterhin seine Richtigkeit hat. Und er soll recht behalten, denn bald kommt neues Land in Sicht. Sie nehmen an, daß es sich bei dem ersten Land um eine Insel gehandelt hat, und nun glauben sie, eine weitere Insel vor sich zu haben. Sie haben noch keine Ahnung, daß sie einen riesigen Erdteil erreicht haben.

Abermals steuern sie das Land an und werfen Anker. Sie setzen ein Boot aus und rudern zum Strand. Hier ist alles ganz anders als in dem Land, das sie Helluland genannt haben. Schon vom Meer aus haben sie Walrösser und Seehunde gesehen und jetzt entdecken sie am Strand eine Herde äsender wilder Rentiere. In mehreren Männern erwacht der Jagdeifer; das muß das Land sein, das sie gesucht haben. Das Terrain ist flach und bewaldet, und so weit das Auge reicht, kann man weiße Sandstrände und seichtes Wasser sehen. Doch Leif schüttelt den Kopf. Hier gibt es doch kein Weideland. Er sagt: »Wir werden dieses Land nach seinem Wesen benennen, und deshalb soll es Markland heißen.« (Waldland) Danach rudern sie zu ihrem Schiff zurück und setzen ihre Reise fort.

Der Wind kommt von Nordosten und schiebt sie an der bewaldeten Küste entlang immer weiter in Richtung Süden. Das Rahsegel strafft sich. Es ist aus Filz genäht, bleibt in der Gischt jedoch trocken. Es ist mit Extrakten aus gekochter Birkenrinde, Pferdefett und roter Farbe imprägniert. Sie halten ein gutes Tempo, bisweilen erreichen sie an die zwölf Knoten, aber das wissen sie nicht, denn sie verfügen über keinerlei Gerät zum Messen der Geschwindigkeit.

Das Meer wird jetzt stürmischer und schlägt gegen die Eichenbretter, die Knorre gleitet jedoch weich über die Wellen. Die Bretter unter der Wasserlinie sind mit Weidenruten und dünnen Baumwurzeln an den Spanten festgebunden und sorgen dafür, daß Boden und Kiel sich allen Bewegungen des Schiffes anpassen und trotzdem nicht undicht werden. Die Bretter oberhalb der Wasserlinie sind mit Eisennägeln befestigt, jedes Brett an der Außenseite des nächst tiefergelegenen, so, wie vernietete Schiffe noch heute konstruiert werden. Auch das unterste Brett ist mit Nägeln befestigt, und zwar am Kiel, nicht an den Spanten.

Bjarni schaut nach vorn. Er wird langsam nervös. Nach seinen Berechnungen müßten sie jetzt Land vor dem Bug haben. Können Sie sich geirrt haben und zu weit hinaus geraten sein oder haben sie die nächste Insel bei Nacht vielleicht unbemerkt passiert?

Eine Sturzwelle schlägt backbords über den Bug. Der Rudergänger umklammert die Ruderpinne, um das Schiff auf geradem Kurs zu halten. Er hat das schon oft gemacht und damit keine Probleme. Auch das Steuerruder ist aus Eichenholz, es ist in einem konischen Block angebracht, der seinerseits am Schiffsrumpf befestigt ist. Durch den Block zieht sich ein Tau – und das wiederum ist auf der Innenseite verankert und hält das Steuerruder vor dem Block fest. An der Reling wird das Steuerruder außerdem durch einen Lederriemen gehalten. Nichts ist dem Zufall überlassen worden.

Der Wind wird stärker. Der Mast ächzt, hält aber stand. Er ruht solide auf der »Alten«, einem festen Eichenblock, der auf den Spanten am Kiel befestigt ist. Außerdem wird er vom »Mastfisch« gestützt, einem Eichenblock, dessen Aussehen seinem Namen entspricht. Er liegt auf den Querbalken und hat in der Mitte Löcher für den Mast.

Leif wird aus dem Schlaf gerissen, als Wasser in seinen Ledersack strömt. Er schüttelt einen Jungen, der neben ihm schläft, und bittet ihn, nachzusehen, ob alle Ruderlöcher dicht sind. Leif folgt ihm mit Blicken, während der Junge die offenen Löcher mit kleinen runden Holzplatten verschließt. Dann schläft er wieder ein.

Als er erwacht, sieht er im Süden Land. Sein Magen knurrt, aber er mag nicht viel essen. Er hat Dörrfisch und Pökelfleisch satt und verzehrt deshalb nur zwei Bissen, die er mit Sauermilch hinunterspült. Er freut sich darauf, an Land zu kommen und Feuer zu machen. Vielleicht wird es an diesem Abend Rentierbraten geben.

Sie erreichen eine Insel, die nördlich des Landes liegt, auf das sie während der vergangenen Stunden zugehalten haben, und werfen Anker. Abermals freuen sie sich auf festen Boden unter den Füßen. Der Wind hat sich gelegt, die Sonne scheint und die Männer sind guter Laune. Einer läßt die Hand über das vom Tau feuchte Gras gleiten und steckt die Finger in den Mund. Etwas so Süßes hat er noch nie gekostet. Die anderen tun es ihm nach und sind ganz seiner Ansicht. Dieses Land, in dem der Tau wie Honig schmeckt, muß etwas ganz besonderes sein.

Aber sie müssen weiter. Hier draußen am offenen Meer gibt es keinen Schutz vor Wind und Wetter. Also segeln sie weiter und erreichen einen Sund, der zwischen der Insel und einer nach Norden zeigenden Landzunge liegt. Sie steuern einen Punkt im Westen dieser Landzunge an, doch hier ist das Wasser zu seicht, und sie bleiben ein gutes Stück vom Land entfernt im Sandboden stecken, obwohl die Knorre nur knapp einen Meter tief im Wasser liegt. Doch jetzt können sie einfach nicht mehr warten, bis die Flut das Schiff wieder flottmacht. Einer nach dem anderen springt über die Reling und läuft auf den Strand zu, wobei das Wasser wild ihre Beine umstiebt.

So weit das Auge reicht strecken sich grüne Wiesen dahin und im Fluß, der in das Meer mündet, wimmelt es nur so von Lachsen. Ein Junge hält stolz einen Fisch hoch. Den hat er mit bloßen Händen gefangen.

Sie sind am Ziel, sie haben das Land erreicht, von dem sie in langen Wintern auf Grönland geträumt haben: vor ihnen liegen Weideflächen mit saftigem Gras für das Vieh, endlose Wälder, Rentierherden, im Meer schwimmt Kabeljau und in den Flüssen Lachs. Hier können sie ein gutes Leben führen, ein viel besseres als in ihrer Heimat.

Sie warten die Flut ab, dann rudern sie zum Schiff hinaus und steuern es in den Fluß und dann weiter zu einem nicht weit vom Strand gelegenen See.

Jetzt folgt eine geschäftige Zeit. Es ist viel zu erledigen, ehe der Winter einsetzt. Zuerst bauen sie sich »Buden«, kleine Grashütten, danach machen sie sich an die Errichtung von wirklichen Häusern. Sie schneiden Grassoden aus, die acht bis zehn Zentimeter dick sind, und legen diese dann aufeinander. Die Wände sind solide, an die anderthalb Meter dick, und halten die Wärme sehr gut. Von festen Balken getragene Baumstämme bilden den Dachfirst, der mit den niedrigen Längswänden durch aus kleineren Baumstämmen gefertigte Querlieger verbunden ist. Das Dach wird mit Rinde isoliert, die dann wiederum mit Grassoden bedeckt wird.

Für das Vieh bauen sie eigene Ställe und legen sich Heuvorräte an. Jetzt kann der Frost kommen, sie sind darauf vorbereitet. Doch zu ihrer Überraschung bleibt er aus. Es ist ein milder Winter, das Gras welkt kaum und das Vieh kann weiter draußen weiden.

Als die Häuser fertig sind, sagt Leif: »Jetzt sollten wir die Mannschaft in zwei Gruppen teilen und dann das Land untersuchen. Die eine Gruppe bleibt hier bei den Häusern, die andere erforscht die Umgebung, darf sich aber nur so weit von der Siedlung entfernen, daß sie abends wieder zu Hause sein kann, und niemand darf tagsüber seine Gruppe verlassen.«

Leif findet es spannend, das neue Land zu erforschen, und wann immer er kann, schließt er sich den Wanderungen an den Stränden entlang und in die tiefen Wälder an. Er zieht gern zusammen mit dem »Türken« los, einem Südländer, den er seinen Pflegevater nennt, und der schon in Leifs Kinderjahren auf Brattahlið gewohnt hat. Niemand weiß genau, woher der Türke stammt. Vielleicht kommt er ja wirklich aus der Türkei und ist ein Nachkomme des Nomadenvolkes, das fünfhundert Jahre zuvor große Teile Zentralasiens unterworfen hat. Vielleicht kommt er auch aus Deutschland, schließlich spricht er ja Deutsch.

Leif mag den Türken sehr, denn der Mann aus der Fremde hat sich liebevoll um ihn gekümmert, als Leif noch ein Kind war. Deshalb ist er sehr besorgt, als sein Pflegevater eines Abends nach einem Ausflug ins Binnenland nicht zur Siedlung zurückkehrt. Leif macht den anderen aus der Gruppe Vorwürfe, weil sie ihn einfach so verloren haben, und er macht sich auf den Weg, um zusammen mit einigen anderen Männern den verschollenen Gefährten zu suchen. Doch sie sind noch nicht lange unterwegs, als der Türke ihnen entgegenkommt. Leif ist erleichtert, erkennt dann aber, daß mit seinem Pflegevater etwas nicht stimmt. Er fragt: »Warum kommst du so spät, und warum hast du die anderen aus den Augen verloren?«

Der Türke redet zunächst länger auf Deutsch, verdreht die Augen und grinst. Die anderen verstehen natürlich nicht, was er sagt. Schließlich wechselt er in die altnordische Sprache über: »Ich bin nicht viel weiter gegangen als ihr. Ich kann euch etwas Schönes erzählen. Ich habe Weinstöcke und Trauben gefunden.«

»Kann das denn stimmen, Pflegevater?« fragt Leif.

»Ja, natürlich stimmt das, denn dort, wo ich geboren wurde, fehlte es weder an Weinstöcken noch an Trauben.«

Die in der Saga erwähnten Trauben in Vinland, dem »Weinland«, haben im Laufe der Jahrhunderte allen großes Kopfzerbrechen bereitet, die versucht haben herauszufinden, wo genau in Nordamerika Leif Eirikssohn und seine Begleiter ihre Häuser errichtet hatten. Wenn sie wirklich Weinstöcke gefunden haben, dann müssen sie, so der Forscher Helge Ingstad, sehr viel weiter nach Süden gelangt sein, als die Reisebeschreibungen in der Saga Eiriks des Roten annehmen lassen. Ingstad weist darauf hin, daß die nördliche Grenze für den Wuchs wilder Weintrauben in Nordamerika in Massachusetts bei ungefähr fünfundvierzig Grad nördlicher Breite liegt.

Aber das stimmt nicht. Die Autorin Vera Henriksen zitiert in ihrem Buch Mot en verdens ytterste grense (»Zur äußersten Grenze einer Welt«) den Franzosen Jacques Cartier, der in den Jahren zwischen 1534 und 1541 dreimal die an der Mündung des St. Lorenz-Stromes unmittelbar im Westen von Neufundland gelegenen Gebiete besucht hat. Er schreibt über »so viele Weinstöcke am Flußufer, daß sie fast aussehen wie von Menschen gepflanzt. Doch da sie weder veredelt noch beschnitten sind, sind ihre Trauben nicht so groß und süß wie unsere.«

Das paßt nun wiederum zu den Erkenntnissen, zu denen Thor Heyerdahl in seinem zusammen mit Per Lilliestrøm verfaßten Buch Ingen Grenser (»Keine Grenzen«) gelangt. Darin erzählt Heyerdahl, daß er auf einer Konferenz auf Island die Frage der in der Saga erwähnten vinländischen Trauben angeschnitten habe, worauf allgemein die Ansicht vertreten wurde, das Wort »vin«3, so, wie es in den Sagas verwendet wird, beziehe sich tatsächlich auf gegorenen Traubensaft und nicht auf Weideland. »Es wurde darauf hingewiesen, daß das Wort ganz anders betont wird, wenn von einer Weidefläche die Rede ist«, schreibt Heyerdahl.

Er berichtet, daß die isländischen Tagungsteilnehmer davon überzeugt waren, daß die Vinlandreisenden wirklich wilde Trauben gefunden hatten. Er erzählt, der Historiker Páll Bergþórsson habe ihm einen Bogen aus seinem Herbarium geschenkt, auf dem wilde Trauben gepreßt waren, die er selber im August 1996 in der St. Lorenz-Bucht gepflückt hatte. Diese Trauben hatte er als Vitis riparia identifiziert, eine wilde Traubenart, die auf Englisch »Riverbank Grape« genannt wird. Dies stimmt mit botanischen Fachbüchern überein, die angeben, daß diese Trauben in so weit nördlichen Gegenden wie der Provinz Québec vorkommen. Aber so weit im Osten wie Neufundland sind sie niemals registriert worden. Das muß jedoch nicht heißen, daß Heyerdahl sich geirrt hat. Vor tausend Jahren herrschte in Neufundland ein milderes Klima als heute und deshalb können die Vitis riparia durchaus vor tausend Jahren, als Leif Eirikssohn in L’Anse aux Meadows an Land ging, dort heimisch gewesen sein. Es ist natürlich auch möglich, daß die Vinlandfahrer die St. Lorenz-Bucht erforscht und dort Weintrauben gefunden haben, auch wenn die Sagas das nicht erwähnen.

Daß so dicht bei den »Leifsbuden« (wie die Häuser der Siedlung später genannt wurden) wilde Trauben gefunden worden sind, ist noch kein Beweis dafür, daß die anschauliche Beschreibung der Sagas über den Traubenfund zutrifft. Es kann jedoch möglicherweise zu neuen diesbezüglichen Untersuchungen anregen.

Aber auch Helge Ingstad bringt gute Argumente für seine Theorie. Er beruft sich unter anderem auf einen Artikel, den der schwedische Sprachwissenschaftler Sven Söderberg 1910 in der Zeitung Sydsvenska Dagbladet veröffentlicht hat. Laut Söderberg gibt es keinerlei Zusammenhang zwischen Weintrauben und dem Namen Vinland, diese Assoziation beruhe auf einem sprachlichen Mißverständnis. Söderberg führt die Silbe »Vin-« in Vinland zurück auf das altnordische Wort vin, das Grasfläche oder Weideland bedeutet.

Ingstad, möglicherweise der Norweger, der zu diesem Thema die Saga am gründlichsten studiert hat, weist in seinem Buch Oppdagelsen av det nye land (»Entdeckung des neuen Landes«) daraufhin, daß es in Norwegen ungefähr tausend Ortsnamen gibt, in denen die Silbe vin in der genannten Bedeutung auftaucht, zum Beispiel Bjørgvin (der alte Name der Stadt Bergen) oder Vinje. Ingstad schreibt: »Der Name Grasland war bei den altnordischen Auswanderern, für die Weideland für ihr Vieh eine Lebensnotwendigkeit darstellte, von höchster Bedeutung.«

Der Name Vinland wird erstmals von dem deutschen Historiker Adam von Bremen erwähnt, der in seinem umfassenden Werk Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum (»Die Geschichte des Bistums Hamburg«), das er vermutlich um das Jahr 1075 vollendete, folgendes schreibt: »Außerdem hat er« (der dänische König Svein Estridssohn) »eine weitere Insel erwähnt, die in jenem großen Meer von vielen aufgesucht worden ist, und die Vinland genannt wird, weil dort Weinreben wachsen, die köstlichsten Wein ergeben.«

Das Werk Adams von Bremen gilt als eine ungeheuer wichtige Quelle für die Geschichte Nordeuropas, in der es jedoch auch zu nachweislichen sprachlichen Mißverständnissen kommt. Adam schreibt unter anderem, die Insel Grönland habe ihren Namen erhalten, weil die dort wohnenden Menschen vom Meer grün gefärbt würden, und die Silbe kvæn im Landschaftsnamen Kvænland sei vom Wort kvinne (norwegisch für »Frau«) abzuleiten, während wir heute wissen, daß sie von den Kvenen herstammt, einer westfinnischen Volksgruppe.

Da Adam von Bremens Buch das erste uns bekannte Schriftstück ist, in dem die Reisen nach Vinland erwähnt werden, ist es möglich, daß seine Fehldeutung von den isländischen Saga-Verfassern übernommen wurde.

In der Wikingerzeit gab es viele Städte in Norwegen, die vin im Namen trugen, und da bedeutete es Gras. Dies kam auch auf Jæren vor, wo Eirik der Rote herstammte. Eirik muß diese Bedeutung des Wortes also gekannt haben und es ist denkbar, daß er sie mit nach Grönland genommen hat.

Immer wieder ist die Frage gestellt worden, woher die anschauliche Beschreibung, die die Saga vom Traubenfund liefert, denn stammen mag, wenn in Vinland gar keine Trauben wachsen konnten. Ist das dichterische Freiheit? Nein, meint Helge Ingstad: »Wenn die Autoren der Sagas von den vinländischen Weintrauben berichteten, dann galt das bei ihnen nicht als Dichtung, sondern als Tatsache, die sich auf ein anerkanntes und gelehrtes europäisches Werk berufen konnte. Die Isländer waren von solchen Informationen sicher begeistert. Nicht nur gelangte ihre Entdeckung damit gewissermaßen zu akademischen Weihen, sondern erhielt auch noch den romantischen Nimbus einer Art Schlaraffenland mit Weintrauben, Mengen von wildwachsendem Getreide und anderen Gütern. Für die Isländer gewannen damit die Unternehmungen ihrer Vorfahren noch einmal neuen Glanz.« Ingstad fügt hinzu: »Es lag sicher auf der Hand, daß diese willkommenen Mitteilungen aus anerkannter Quelle auch zu Unterhaltungszwecken herangezogen wurden. Natürlich fühlten isländische Autoren sich angesichts dieser fesselnden Motive dazu verlockt, ihrer Phantasie freien Lauf zu lassen.«

Die Diskussionen über den Namen Vinland sind nicht mehr so wichtig, seit das Ehepaar Anne Stine und Helge Ingstad die altnordische Siedlung bei L’Anse aux Meadows freigelegt und damit ein für allemal die genaue Lage Vinlands nachgewiesen hat. Doch die Vinland-Debatte zeigt, welche Bedeutung der korrekten Saga-Interpretation zukommt. Ein Teil der dort beschriebenen Ereignisse und Zustände trifft absolut zu, anderes ist unklar, wiederum anderes ist nachweislich reine Erfindung. Die Verfasser der Sagas waren selber keine Augenzeugen der von ihnen beschriebenen Ereignisse. Ihre Aufgabe war, das, was sie gehört und gelesen hatten, aufzuschreiben, nachdem die handelnden Personen längst verstorben waren. Aber wir dürfen nicht alles glauben, was wir hören oder lesen, schon gar nicht dann, wenn diese Berichte über Generationen von Mund zu Mund weitergereicht worden sind. Außerdem sollten wir nicht vergessen, daß die Verfasser der Sagas manchmal durchaus ein Interesse daran hatten, bestimmte Personen oder bestimmte Ereignisse in einem gewissen Licht zu schildern.

Der erste Winter in Vinland geht dem Ende entgegen. Leif und seine Männer sind mit dem bisher Erreichten durchaus zufrieden. Sie sind an der von Bjarni entdeckten Küste an Land gegangen und haben die Umgebung erforscht. Und sie sind zu einem großartigen Ergebnis gekommen: Hier können wir leben! Jetzt will Leif nach Hause fahren und denen, die auf Grönland warten, die gute Nachricht mitteilen.

Er schaut sich um, als sie die Landspitze am Auslauf des kleinen Fjords umrunden. Er wirft einen letzten Blick auf die Grashäuser oberhalb des Strandes und auf die grünen Wiesen, die sich bis zum Wald im Hintergrund ziehen. Er weiß, daß er eine Leistung vollbracht hat, von der noch lange die Rede sein wird, und er fühlt sich endlich als Mann. Er ist nicht mehr nur der Sohn Eiriks des Roten, des Neusiedlers. Jetzt ist er selber der Entdecker eines neuen Landes. Und er weiß, wie er es nennen wird: Vinland, das gute Land.

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