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Kapitel 4 (Alptraum)

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Stück für Stück setze ich mich zusammen. Das Bild schärft sich und ich kann einen Platz erkennen, den der Regen ausgewaschen hat. Überall Schlamm und Pfützen, die sich in den Spurrillen gebildet haben. Aus mehreren Perspektiven heraus sehe ich mich inmitten dieses Platzes stehen.

Das Gewand eines Jungvolk-Burschen tragend, verharre ich wie verwurzelt und orientierungslos im strömenden Regen. Gesichter formen sich wie aus dem Nichts vor meinem Auge. Es sind zerfurchte, graue Gesichter, die mich anstarren. Sie durchstechen mich, sodass es höllisch schmerzt, als würde mir jeder ihrer Blicke als Klinge im Bauche stecken. Ihre Füße versinken im Schlamm, der sich fesselnd um ihre Knöchel schlingt. Mir dreht es den Magen um, wie sie an mir vorbeigetrieben werden, so nackt, so blass wie Skelette, die nur mit Haut bespannt sind.

Dann wieder fliege ich über ihre Köpfe hinweg, betrachte die rasierten Schädel, die unzähligen Narben darauf und wie der dicht fallende Regen monoton darauf niederprasselt.

Eine schrundig klingende Stimme ruft mich. „Harry!“ Ich kann nicht erkennen, woher sie kommt, wem sie gehört, will es auch nicht. Immer wieder ruft diese prägnant dringende Stimme meinen Namen. Sie wird schwächer, verschwindet dann letztlich aus meinem Ohr.

Da stehen diese morbiden Skelette vor mir. Ich kann mich derer eindringenden Blicke nicht entziehen, möchte mich von ihnen losreißen. Abhauen! Kann es aber nicht, da ich im Morast feststecke, der mich unablässig umklammert. Sie heben ihre knochigen Arme, ihre Fratzen bekommen Risse, laufen auf mich zu und ich bin ihnen hilflos ausgeliefert. Wie ich mich auch anstrenge, es ist mir nicht möglich, mich aus deren Würgegriff zu befreien. Sie pressen ihre Schädel dicht über mir zusammen, so dass ich ihren faulen Atem rieche. In ihren totstarren Augen steht der blanke Hass geschrieben, der sich nun auf mir zu entladen sucht.

Ich plärre los. Meine Schreie gehen unter durch das laute Knirschen ihrer Zähne, die dabei blutend herausbrechen. Schauder schüttelt meinen verkrampften Körper, ein Meer aus Ekel ergießt sich aus mir. Dann peitschen Schüsse, Fleisch reißt auseinander. Ihre Köpfe zerplatzen. Augenpaare, die entsetzt erstarren und aus ihren Höhlen zu Boden fallen. Blut über Blut mischt sich mit dem schlammig klumpigen Erdreich. Kopflose Körper sinken auf diesen Platz, der sich nun blutrot färbt.

Ein Schatten erfasst mich, hüllt meine schmächtige Statur bedrohlich ein, streckt mir seinen langen, knochigen Arm entgegen. Mein Hals zieht sich zusammen, ich bekomme keine Luft mehr, röchele, und zappele mit Armen und Beinen. Worte dringen mir entgegen, die ich nicht verstehen kann, sehe nur das dunkelrote Fleisch, das sich von dieser obskuren Gestalt ablöst.

Dann offenbart sich mir diese Figur endlich. Ein Mann, den ich wiedererkenne. Er kennt auch mich. Es ist noch nicht so lange her. Damals, als ich mit meinem Vater dort war, da sah ich ihn.

Mir stockt der Atem, meine Stimme will nicht tönen, so laut ich auch schreie, sie bleibt ohne Ton in diesem Bild hängen, das sich auf einmal verklärt. Diese hämmernde Stimme. Da ist sie wieder, sie klingt jetzt vertraut, nicht wie zuvor obskur. Sie wird dabei immer greller, wie das Pfeifen eines Kessels, wenn er überkocht.

Der blutüberströmte Mann hält mich mit seiner knochigen Hand fest. Kein Entrinnen, so sehr ich mich auch bemühe. Plötzlich zerreißt sich der Leib des Mannes in unzählige kleine Fetzen. Ich bin jetzt frei.

Aus dem Regen taucht mein Vater auf. Er steht vor mir und winkt mir lächelnd zu. Alles scheint mit einmal vergessen, die Gesichter, das Blut, die Angst, der Regen, welcher immer noch unaufhörlich zu Boden prasselt. Aber als ich mich meinem Vater an die Brust werfen will, trifft mich etwas. Völlig unerwartet! Als wäre ich mit voller Wucht gegen eine Wand gerannt. Es schmettert mich hart zu Boden und Dunkelheit umschlingt mich wieder.

Als ich wieder zu mir komme, durchzucken Lichtfetzen die bedrohlich wirkende Umgebung. Kalkweise Gesichter, die verschwommen vor mir hin und her tanzen. Ein Panoptikum, das mich bis tief ins Mark erschüttert. Ich will mich bewegen, kann mich aber keinen Millimeter rühren.

Die Luft bleibt mir wieder weg und ich reiße meine Augen auf. Da bemerke ich, wie Heinz mir den Mund zudrückt und deutet, dass ich still sein soll. Alles um mich dreht sich im Kreis. Heinz lässt von mir ab und Luft strömt in meine Lungen zurück. Hastig sauge ich sie ein und blase sie erleichtert wieder heraus. Als ich mich aufrichte, stemmt Heinz sein ganzes Gewicht dagegen.

„Was soll das?“, fahre ich ihn verärgert an.

„Pst“, gibt er von sich. Dann sehe ich, wie sich alle hinter ihre Waffen gelegt haben und in die Dunkelheit starren. „Nimm deine Waffe, Harry, und sei jetzt still!“. Meine Waffe liegt neben mir, ich schiebe sie langsam zu mir herauf, ziehe den Bolzen vorsichtig nach hinten, bis es klackt. Noch benommen kauere ich hinter einem Erdwall. Meine Hände zittern, der Traum steckt mir noch lebhaft in den Knochen. Dieser durch Mark und Bein dringende Traum! Jener, der mich in letzter Zeit ständig aufs Neue quält.

Knacken durchfährt die unwirkliche Stille, gefolgt von Rascheln, das sich unüberhörbar dazu mengt. Unerwartet beginnt das Maschinengewehr rechts ab von uns an zu rattern. Die Feuerspur spritzt in die Dunkelheit, die sich jetzt gleißend wie ein eruptierender Vulkan aufbricht. Leuchtpistolen werden abgefeuert. Das grelle Licht sinkt zischend und gleißend zu Boden. Ganze Areale versinken im Licht, entblößen die Figuren, die sich gerade eben noch unbemerkt an uns heranschleichen wollten. Zahlreich werfen sie uns ihre Schatten entgegen. Man hat jetzt nur wenige Sekunden, um einen Blick auf sie werfen zu können, bis sie wieder von der Schwärze verschluckt werden. Blitze zucken auf, gefolgt vom Surren der Geschosse, die uns jetzt wieder auferlegt werden.

Ich ziehe den Abzug durch. Augen zu und Feuer frei! Der Rückschlag zwingt mich, wieder die Augen zu öffnen. Wer schießt denn schon blind in einem Krieg? Also lade ich neu und versuche gezielt zu feuern. Ich kann aber beim besten Willen nicht sehen, auf was ich schießen soll. Aber ich drücke ab. Wie ein Feuerwerk zu Silvester platzt alles auseinander. Schreie tönen laut ins Gemenge, die sich mit den wirren Sätzen und Worten verschmelzen, welche die Angst zeugt und der Tod dann kaltschnäuzig schluckt. Die Leuchtspurgarben streuen weit in den Wald hinein, zerspringen in Tausenden von Funken, die glühend niedergehen.

Ich versuche meinen Blick zu schärfen, damit ich noch besser zielen kann, aber diese verfluchte Angst befüllt mir nur die Augen. Granaten zersprengen die Deckungen wie Kartenhäuser mit Mann und Maus. Unsere Schützenreihe lichtet sich. Das gegnerische Feuer wirkt demoralisierend, es ist dem unseren weit überlegen.

Immer dichter kommen sie an uns heran, die Mündungsfeuer gleißen näher, die Explosionen sitzen präziser, der Geschosshagel wird flächendeckender. Wir sitzen in der Falle. Hocken inmitten eines massierten Auflaufes feindlicher Verbände, die unablässig auf uns zustürmen.

Neben mir wirbelt es mit einem Donnerschlag den Dietrich in die Luft. Mit einem kurzen Schrei knallt er scheppernd wieder zu Boden. Ich lasse mein Gewehr fallen und mache einen Satz zu ihm rüber. Neben ihm dreht sich sein Helm noch, eher ein Eiern, da er sich verformt hat. Eingerissen und durchlöchert hat er sich durch die Druckwelle vom Kopf meines Kameraden gerissen. Ich möchte mich übergeben. Der Würgreflex schmerzt stark. Doch es kommt nichts heraus. Mir bleibt lediglich die Luft weg. Ich berühre ihn. Aber er regt sich nicht mehr.

Ich fahre zusammen, stoße einen Schrei aus, weiche zurück und wische mir das Blut an der Hose ab. Wieder packt mich der Brechreiz. Einen Bruchteil an Sekunden nur, die mir wie eine halbe Ewigkeit vorkommen. Doch ich kann nichts mehr tun. Dietrich ist tot. Aus, Amen!

Ich nehme wieder meine Waffe und bin bereit zum Sprung. Da erhellt es sich hinter mir. Eine mächtige Druckwelle erfasst mich. Sie drückt mir das Kreuz durch und schleudert mich einige Meter ins Unterholz. Zweige bohren sich in mein Gesicht, wetzen mir das rechte Augenlid auf. Die Suppe läuft mir quer über das Gesicht und rinnt mir süßlich schmeckend in den Mund. Jeder Knochen in meinem Körper schmerzt. Ich muss zurück. Zurück? Ich bin ja noch mittendrin.

Die Feuergarben klatschen in die feuchten Erdlöcher und wirbeln Schlammfontänen hoch. Ich finde mich beim besten Willen nicht mehr zurecht. Meine Waffe ist auch nicht mehr auffindbar, ist zersprengt, niedergetrampelt oder entwendet? Wie auch immer, ich bin am Arsch! Einige 42iger rattern noch, ununterbrochen sägen sie sich in die Reihen der herumstolpernden Figuren, die regelrecht Mühe haben, nicht über die Haufen aus Gefallenen zu stürzen, bevor sie selbst fallen.

Es fällt mir schwer, etwas oder jemanden zu erkennen, Helme wackeln hin und her, unsere? Oder der Feind? Es sind scheinbar nur wenige Meter bis zur Stellung, in dem eines der Maschinengewehre positioniert ist, dorthin will ich. So robbe ich flach am Boden, um nicht in den Kugelhagel zu geraten. Äste krachen zu Boden, Erde streut sich über mir nieder, begleitet von dumpfen und ruppigen Detonationen, welche die Nacht zum Tage machen.

Auf einmal saust etwas über mich hinweg. Ein Schwirren, eher schon ein Pfeifen, das Bäume durchschlagend in einem ohrenbetäubenden Knall auseinanderplatzt. Die Explosion ist so grell, dass man für eine Millisekunde keine Konturen mehr erkennen kann. Ich drücke mein Gesicht in den Morast, presse die Hände auf meinen Helm und spüre die Hitze deutlich. Wieder pfeift dieses Ding surrend über mich hinweg, wieder erfolgt dieser Knall, der unter mir deutlich die Erde zum Beben bringt.

Motorengeräusche sind zu hören, noch sehr leise und wie durch eine Dunstglocke, aber sie sind real. ‘Panzer?’, spekuliere ich. Aber ja! Es waren eindeutig Panzergeschosse. Mussten welche sein! Jetzt drehe ich mich vorsichtig auf den Rücken und versuche, im Schutz eines Erdwalles zu erkennen, was um mich herum geschieht.

Der Gefechtslärm hat sich etwas abgeschwächt, vereinzelt platzen noch Schüsse, leuchtet hier und da Mündungsfeuer auf. Wieder kracht es, als wäre eine Urgewalt über uns gekommen. Es rieselt schaufelweise Dreck runter. Das Maschinengewehr ist nicht mehr auszumachen. An dessen Feuerspur habe ich mich orientiert. Aber nicht die geringste Spur mehr davon. Der Boden vor mir glüht, man hat ihm schrecklich zugesetzt, überall aufgerissen, zerpflügt, zertrampelt, zerschossen. Die Natur ächzt unter ihren Wunden, wie so viele, die zerstreut auf ihr liegen und sich in den Tod wimmern.

Es sind Stimmen zu hören, Stimmen, die mir nicht bekannt sind, dessen Sprache ich nicht verstehe. Stimmen, die zum letzten Mal in dieser schrecklichen Welt erklingen, um einen letzten Gruß nach Hause zu schicken. Ich werde das nie vergessen, wie sie da liegen und im glutroten Schein der flackernden Feuer ein letztes Aufbäumen wagen, bevor sie leblos zusammensacken.

Es überkommt mich ein Unwohlsein, eine Trauer, die mich gnadenlos packt und niederwirft. Ich verspüre keine Freude darüber, noch am Leben zu sein, keine Leichtigkeit durchströmt mich, weil ich es überstanden habe. Nur Traurigkeit und ohnmächtig machende Verzweiflung, die mich wie ein Paket zusammenschnürt.

Man hat den Feind in letzter Minute zurückdrängen können. Es hätte fast in unserer Vernichtung geendet, wenn nicht Jagdpanzer aufgetaucht wären, die sich wie durch ein Wunder in den Kampf eingeschaltet haben. Woher die auf einmal gekommen sind? Verfahren? Solch einen dämlichen Gedanken darf ich nicht lebendig werden lassen.

Wichtiger ist nun, wo sind Heinz, Werner, Eberts, der Alte? Ich erhebe mich langsam. Vergewissere mich, mit prüfenden Blicken in jede Richtung, Rascheln, Klappern, Gewühl, das sich mit klagenden Stimmen vermischt, direkt vor mir.

„Heinz? Werner?“, rufe ich laut.

„Nein, hier ist kein Heinz!“, kommt es harsch zurück.

„Wer ist da?“, frage ich. Aber die Namen, die mir genannt werden, die sagen mir nichts. Da ist man auf engstem Raum zusammen, kämpft Seite an Seite ums Überleben und kennt sich nicht einmal.

„Wo ist der Feldwebel Gruber?“ Wieder steigt die Stimme wie ein Totengräber zu mir herauf.

„Das weiß ich doch nicht! Ich weiß überhaupt nichts! Klar? Schieb ab!“ Der Kerl, dessen Gesicht ich nicht erkennen konnte, beginnt mit dem Klappspaten nach mir zu schlagen. Er wälzt sich aus seinem Loch und fuchtelt mit dem Spaten herum. „Ich schlage dich tot!“, brüllt er wie vom Hafer gestochen. Er kommt weiter auf mich zu und ich denke noch, jeden Moment erschlägt der mich.

Ein Gewehrkolben schmettert ihm aber den Spaten aus der Hand. Die Wucht schleudert den Kerl ins Loch zurück. Unterscharführer Meinele war der Kolbenschwinger, welcher sich nun über den armen Kerl beugt und ihn aufs Schlimmste zusammenstaucht.

Dann wendet er sich an mich: „Der Feldwebel ist da drüben. Er ist verwundet worden. Wo genau, weiß ich nicht. Am Bein, glaube ich“, verbessert Meinele sich noch. Er hat mich aus einer Mords-Situation genommen, das ändert irgendwie meine Sicht über diesen idealisierten Lax etwas. Er setzt sich neben mich. Das Gewehr lehnt er gegen seine Schulter, nimmt den Helm ab und wühlt sich nervös durch seine aschblonden Haare.

„Herr Unterscharführer, was ist mit den anderen?“, frage ich irritiert.

Der gibt mir aber keine Antwort. In seinem Gesicht steht weniger Leben wie bei einer griechischen Plastik. Nur verzweifeltes, unbegreiflich blödes Starren. Alles, was er wissen will, ist, ob ich eine Zigarette für ihn habe.

„Sind alle hops gegangen. Tut mir leid. Und danke nochmal.“

Ich entferne mich, wohlwissend, dass keiner hier diesen Erlebten Wahnsinn jemals vergessen wird. Es hatte sich doch längst in unsere Seelen hineingefressen. Das würde später eine Menge zu beichten geben für uns alle.

Sind wir Gruber los? Wie geht es dem Heinz, dem Werner, dem Eberts? Wo sind die denn bloß alle wieder?

Diese Fragen martern mein Hirn, machen mich fast krank, durchzucken mich wie die fernen Blitze in einer zu schwülen Sommernacht.

Langsam schiebt sich diese Schreckensnacht beiseite, der graublaue Schleier der Morgendämmerung zieht flanierend herauf. Nun realisiert man das Ausmaß des Gefechtes noch deutlicher, führt es sich vor Augen, so detailliert, dass man sich nur wegdrehen will und es auch müsste. Unsere Stellung ist regelrecht umgegraben worden. Aus einigen Erdhaufen ragen Beine, Köpfe, Arme, es ist ein grausames Bild, welches der Krieg immer wieder gleich zu malen pflegt.

Ich laufe über all das hinweg und versuche, nicht allzu lange hinzusehen. Zurück zum Graben! An der Stelle, an der ich gerade eben noch im Dreck gelegen habe, schaue ich mich nun genauer um. Der Baumstamm, hinter dem ich kauerte, als es Dietrich traf, ist noch da, steckt in der Erde, als könne man ihm nichts anhaben. Meinen Kameraden finde ich auf der Seite liegend, er muss noch gelebt haben, oder eine weitere Detonation hat ihn in diese Lage verbracht. Ich will nicht länger darüber nachdenken.

Keine zwanzig Meter von meiner Stellung entfernt stapeln sich die Leichen der feindlichen Soldaten. Entstellte Gesichter, verformte Körper, wie steifgefrorene, verkrampfte und sichtbare Omen für unser künftiges Schicksal.

„Harry?“ Diese Stimme lässt mich jetzt dahin taumeln, als ich sie vernehme. Ich würde diese heisere Stimme aus Tausenden heraus jedesmal wiedererkennen. Meine Beine zittern fürchterlich. Wie auf Eier laufend leiere ich Heinz entgegen. Seine Freude ist ebenfalls groß, doch zeigt er sie nicht so überschwänglich wie ich.

„Glückspilz, was? Los, Harry, pack mal mit an, der Werner liegt unter dem Baum da!“

„Tatsächlich?“ Meine Freude wich augenblicklich der Sorge um Werner, und wir zerren an diesem zersplitterten Baum, so fest wir können. „Werner, kannst du mich hören?“ Konzentriert lauschen wir. Nichts! Wir ziehen noch fester. Dann schaffen wir es, den Baumstamm etwas auf die Seite zu rollen. Nur ein schmaler Spalt wird frei. Da hindurch sehen wir unseren Freund. Er liegt bewusstlos auf der Seite und sein Arm ist anormal verdreht. Vorsichtig müssen wir Werner durch einen schmalen Spalt herausziehen.

Er kommt wieder zu sich und brüllt laut auf vor Schmerzen. Auf dem ersten Blick schon erkennen wir, dass es sich um einen Bruch handelt. Und was für einer! Die Elle scheint gebrochen und ragt gesplittert aus der Wunde.

„Mensch, Werner, ein offener Bruch, du Glückspilz“, wirft ihm Heinz völlig unsensibel entgegen. Werner will ihn dafür am liebsten verfluchen, doch der Schmerz nimmt ihn wieder die Sinne. „Wo ist der Alte, Harry, hast du ihn schon gesehen?“

„Nein! Ich dachte, der wäre bei Euch? Ich weiß nur, dass es ihn erwischt hat“, erkläre ich, „Der Unterscharführer erzählte mir das, er hätte wohl eine verpasst bekommen, obwohl ich glaube -“ Ich verschlucke den Rest des Satzes.

„Was glaubst du?“

Ich mache eine typische Bewegung mit der Handfläche, dass mit dem Unterscharführer die sprichwörtlichen Pferde durchgegangen sind.

„Ach so? Bist du da sicher?“ Ich zucke aber nur mit den Schultern. ‘Und wenn schon? Was geht mich der an?’, denke ich stur, jedoch leicht beschämt zugleich.

Mit ein paar relativ geraden Ästen und einer Rolle Mullverband versuchen wir, den Bruch stabilisierend zu schienen, was sich als schwieriger herausstellt wie gedacht. Werner brüllt uns beide an, wir sollen ihn in Ruhe lassen, was wir natürlich nicht befolgen.

„Ich packe mir ihn unter’n Arm. Dann versuchen wir so schnell es geht einen Sanitäter zu finden. Du, Harry, sicherst uns nach hinten ab, verstanden?“, dirigiert mich Heinz wie selbstverständlich, als wäre er gerade zum Truppführer befördert worden.

„Erstmal müssen wir hier weg, Heinz“, entgegne ich verdutzt.

„Na dann pack mal mit an, damit Werner wieder auf die Beine kommt. Auf Drei!“ Werner stöhnt und brabbelt wie im Fieber, aber er ist schlaff und schwer wie ein Sack Mehl.

Heinz legt sich Werners gesunden Arm um den Hals. Gleichzeitig packt er nach dessen Koppel, das er fest umklammert.

Nur langsam geht es voran. Bei jeder Bewegung jault Werner auf. ‘Das kann kein gutes Ende nehmen’, denke ich besorgt und sehe mich nervös nach allen Seiten um. Aber außer versprengten Kameraden, die sich zermürbt aus ihren Stellungen schälen, ist nichts weiter auszumachen. So scheint es.

Es platzen wieder Schüsse in die Szenerie. Wirres Durcheinandergerenne setzt ein. Soldaten springen wieder in ihre Schützenlöcher, aus denen sie gerade herausgeklettert sind. Andere lassen sich wie vom Blitz getroffen zu Boden fallen. Geschosse surren pfeifend durch die Luft. Klack, klack! Einige klatschen ins Unterholz, andere in den zerwühlten Sandboden. Blindfeuer!

Keinen hatte es erwischt. Vermutlich hat sich einer der feindlichen Soldaten noch einmal aufgerafft und mit letzter Kraft seine Waffe abgefeuert. Die Antwort erhält dieser prompt. Wollte er uns etwa aufs Korn nehmen? Der Gedanke schüttelt mich eiskalt. Aber es wäre nicht schwer gewesen, uns niederzuschießen, so aufrecht und frei wie wir gerade auf der kleinen Lichtung stehen. Leichte Beute! Eine MG-Salve hätte vermutlich genügt.

Abgase dampfen in meine Nase. Der Wind hat gedreht und weht uns den blauweißen Nebel direkt in die Fressen. Schwach kann man am Waldausgang einige Schatten erkennen, die hin- und herstaken. Sie wachsen mit jedem Schritt, jeder Anstrengung und entpuppen sich letztlich doch als die unseren. Glück gehabt! Wir haben es tatsächlich geschafft. Wieder mal!

Sind aus dem Wald gelangt und können uns hinter einem Kettenfahrzeug nieder hauen. Ich traue meinen Augen nicht, als ich die uns gegenüber parkenden Jagdpanzer bemerke. Deren Dieselmotoren dröhnen sonor und der dichte Abgasrauch schwelt sich zudeckend über das angrenzende Feld.

Die Augen der Panzerbesatzungen rollen fast aus ihren Höhlen, als sie sehen, wer da aus dem Wald geschlichen kommt: abgehalfterte hagere Jungs mit Augenringen so groß wie Traktorreifen. Wie in einem Märchen, wo der verwunschene Wald seine Geiseln geschunden ins Licht entlässt, tauchen die Gestalten vor ihnen auf. Nur noch Fetzen am Körper, gebrochen und blutverschmiert.

Wir sind die ersten, uns folgt nicht einmal mehr ein Viertel der Gruppen, die sich noch vor zwei Stunden in ihren Schützenlöchern aneinandergereiht haben.

Der Feldsanitäter springt wie angestochen herum. Mit seinem Feldlazarett auf dem Buckel kann der nicht viel ausrichten. Wir rufen ihn zu uns. Wenn er sich hätte teilen können, würde er jetzt zerrissen überall verteilt liegen, so dringend wird er gebraucht. Seine kurze Sichtung, was Werners Arm betrifft, ist ernüchternd.

„Habt ihr ihm den Arm verbunden?“ Wir nicken. „Scheiße! Das muss wieder runter“, flucht der Sani uns an und wickelt den blutdurchtränkten Verband bereits wieder ab. „Na schön! Offener Bruch!“ Werner beißt sich mutig auf die Zunge, doch der Schmerz muss wohl unerträglich sein. Der Sani geht so geschickt ans Werk als könne er es blind machen. Kurze Zeit später hat er Werner notdürftig tragiert.

„Der muss ins nächste Feldlazarett! Dringendst! Wenn sich die offenen Wunde infiziert, muss der Arm ab!“ Wie blöde stehen wir Spalier. Der Sani haftet Werner noch einen Wundschein an, dann ist er schon wieder unterwegs.

„Der hat noch länger zu schaffen heute! Schau dir das an, Harry! Wir könnten da jetzt auch liegen und um unser Leben plärren!“ Ich sage dazu nichts. Mir ist längst schon alles vergangen.

Weitere Kameraden tauchen aus dem Wald ins Freie auf. Der Unterscharführer Eberts und der Soldat, welcher mit dem Spaten auf mich losgehen wollte, drei hier, vier da, weitere fünf, die zwei ihrer Kameraden mit sich führen, aber der Alte taucht nicht auf. So wie viele andere, von denen keiner von uns was weiß, was mit ihnen geschehen ist. Über Dietrichs Verbleib herrscht indes Klarheit.

Ich stelle mir insgeheim die Frage, was ich wohl seiner Mutter sagen soll, wenn sie mich irgendwann nach Dietrich fragen würde? Heinz haut mich aus meinen Gedanken. „Sieh mal, Harry! Da drüben“, bemerkt er, sichtlich überrascht und deutet mit seinem Finger auf eine recht zerzauste Gestalt. Ich traue meinen Augen nicht, da ist er. Lebendig! Er torkelt auf uns zu. Sein linkes Bein zieht er nach, aber er ist am Leben und wir damit nicht führungslos.

„Verdammt, dieses verflixte Bein! Schon wieder! Wieviel Pech muss ein Mann haben, wenn es ihm zweimal hintereinander an der gleichen Stelle erwischt“, schimpft er wie ein aufgebrachter Rohrspatz. Schnauzt dann nahtlos übergehend die lax herumstehenden Panzerleute an: „Ihr verfluchten Bumsköpfe! Ballert blind über uns hinweg, ohne zu wissen, wo die eigenen Leute im Dreck liegen!“ Den Panzermännern verschlägt es die Sprache, sie halten inne und glotzen den Alten nur erstaunt an. „Wohl völlig durchgedreht, was?“, wettert Gruber weiter im Takt, „Wer von Euch ist denn der Oberindianer?“

Keiner scheint einen Mucks von sich geben zu wollen. Dann aber taucht eine Gestalt durch den Nebel. Groß, schlacks und irgendwie gebogen, als täte dieser stets in der Kurve hängen. Seine große Panzerkappe fällt ihm tief ins Gesicht, das langgezogen zu einem markanten Kinn hin auslief. Die Augen blitzen im hellsten Blau, das ich jemals sah. Die wirken weit auseinander wie Sterne neben einer leicht gedrückten Nase mit einer wulstigen Narbe. Seine doch recht hagere Gestalt baut sich jetzt kess und doch imposant vor dem Alten auf. Der Alte holpert und hinkt weiter fluchend näher an die Panzerbesatzung heran. Den Namen will er wissen, die Einheit und wessen Befehl die Truppe untersteht.

„Unterfeldeldwebel Martins von der Panzerdivision Rossmann, Herr Feldwebel“, fistelt der Flachs, als sei dieser ein Kastrat, was Gruber nun völlig aus der Bahn wirft.

„Gruber, Feldwebel Gruber“, bemüht er sich zu fassen. Der Kloß, den der Alte jetzt hinunterschluckt, hört man laut und deutlich im Magen ankommend plumpsen. „Wer hat Euch denn befohlen, in die Kampfhandlung einzugreifen? Ihr schießt blind in ein Waldstück ohne jede Kenntnis, wo dort wer liegt? Ihren Marschbefehl, wenn ich bitten darf!“ Fordernd deutet Gruber mit der Flosse. Aber der Blonde kommt dem nicht nach und starrt stattdessen nur stoisch wie ein Goldfisch im Glas vor sich hin. „Ihren Marschbefehl, ich wiederhole mich nicht gern, meine Herren“, fordert Gruber erneut und streut ein wenig mehr Pfeffer in seine Stimme. Der lange blonde Hans, welcher vom Rang her ein Unterfeld ist, presst seine Luft aus den Lungen und plustert sich nun mokant vor Gruber auf.

„Mit Verlaub, Herr Feldwebel, Sie können von Glück reden, dass wir zur Stelle waren, sonst hätte euch der Ivan auseinandergenommen! Oder liege ich da etwa falsch?“, rechtfertigt der sich weiter für sein unautorisiertes Eingreifen.

„Das waren keine Russen, Herr Unterfeldwebel, das waren polnische Infanteristen“, kontert der Alte scharf.

„Ich verwette alles, dass dies nur ein Spähtrupp war, der die Lage auskundschaften sollte“, brach sich jetzt Meinele dazwischen.

„Was?“, entfuhr es Gruber schrill. Diese völlig beknackte Aussage konnte nur von Unterscharführer Meinele kommen. Der hat sich klammheimlich hinter den Alten gestellt. Gruber fährt um und wenn Blicke töten könnten, wäre Meinele sofort umgefallen. „Stoßtrupps?“, schraubt sich Gruber völlig perplex in die Höhe. „Das waren die ersten Infanteriespitzen einer ganzen Armee, Sie Grünspan!“, donnert er die Faust verbal ins Gesicht des Unterscharführers. „Spähtrupps! Wie kann man nur derart borniert sein“, murmelt er weiter kopfschüttelnd. Meinele kocht wie ein Dampfkessel.

„Ich glaube, Herr Feldwebel, dass ...“ will Meinele sich beleidigt wie eine Bauernwurst verteidigen, was Gruber aber nur noch mehr auf die Palme bringt.

„Was Sie glauben oder nicht, ist nicht relevant“, torpediert Gruber zielgenau und versenkt den Unterscharführer gnadenlos. Gluck, gluck und weg! „Wir sollten schleunigst zusehen, die Männer zurückzunehmen, anstatt hier weiter herum zu lamentieren! Dauert nicht lange und der Feind setzt wieder nach!“ Gruber wendet sich jetzt wieder dem Panzermann zu, der sich freudig an diesem Schauspiel ergötzt hat. „Wie seid ihr eigentlich hierher gelangt?“ Augenblicklich weicht die Farbe aus dem Eiergesicht. Man zerrt sich an der schwarzen Uniform, räuspert sich verlegen, druckst herum, fast so, als sei der Grund ihrer Anwesenheit äußerst peinlich.

„Wir hatten einen Kettenriss, als wir querfeldein auf dem Weg zur Stellung bei Kodersdorf waren. Dort sammelt sich die Panzerdivision unter Major Rossmann an der Weißen Schöps“, erzählt der Blondie, als hätte er sich das vorher aufgeschrieben.

„Das ist mir bekannt“, wirft Gruber dazwischen. „Und? Reden Sie weiter“, drängt er.

„Nun, meine Kameraden blieben zur Deckung bei meinem defekten Fahrzeug. Wir machten die Wanne wieder flott und nahmen eine Abkürzung, um schneller wieder Anschluss an die Truppe zu finden. Da bemerkten wir dann eben dieses Feuergefecht! Das war es schon, mehr gibt’s nichts zu sagen, Herr Feldwebel!“ Und als ob es Meinele nicht reichen würde, muss der weiter seinen Senf dazu geben.

„Herr Feldwebel! Das glauben Sie denen doch nicht etwa, oder? Da erzählt ja meine Oma bessere Geschichten als die da“, echauffiert sich der Unterscharführer wie ein Bock und setzt die Panzerleute unter einen fürchterlichen Verdacht.

„Sagen Sie mal, ist Ihnen eine Sicherung durchgeknallt, Unterscharführer?“ Gruber fixiert diesen jetzt scharf. ‘Noch ein Wort und der Alte knallt den übern Haufen’, geht es mir durch den Kopf. „Noch eine einzige Andeutung in diese Richtung und ich stelle Sie vor ein Feldgericht wegen Insubordination! Ist das klar?“

Meinele will nach seiner Waffe greifen, lässt dann aber doch davon ab. Er würde die Knarre nicht mal aus der Tasche bekommen. Das weiß er. „Kümmern Sie sich lieber um den Abtransport der Verwundeten!“ Der Unterscharführer dackelt wie ein geschlagener Hund davon.

Als ob nichts vorgefallen wäre, nimmt Gruber das Gespräch mit dem Panzerunterfeld wieder auf. „Entschuldigen Sie. Also nochmals, vielen Dank fürs Eingreifen!“ Der blonde Flachs grinst frech und schüttelt Gruber nochmal die Flosse. Gruber lässt sie dennoch wissen, dass er hier nochmal nachhaken würde. „Ob das auch zutrifft, was Sie mir da gerade aufgetischt haben, das wird sich sicher herausfinden lassen!“ Jetzt lächelt auch Gruber.

Er setzt jetzt noch einen drauf und ruft wie ein Spieß über den Kasernenplatz zum Unterscharführer rüber: „Lassen Sie Ihre Männer antreten, wir ziehen uns im Schutz der Panzer nach Jänkendorf zurück! Gefreite Hebrank, Friedrich, Eberts, zu mir!“ Ich entreiße mich dem Bild. Eberts kommt vom Wald her angesaust und flankiert an mir vorbei. Ich sehe zu Heinz runter, der jetzt alle Viere von sich gestreckt auf dem Feld lümmelt und in den grauen Himmel starrt.

„Los auf, Heinz“, werf ich ihm zu. Aber Heinz regt sich keinen Millimeter! „Mensch, Heinz, steh auf, du Narr, der Alte hat uns zu sich gerufen. Bist du taub?“ Eberts macht bereits Männchen. Also lasse ich Heinz so liegen und bringe mich ebenfalls Männchen machend neben Eberts.

Gruber mustert uns. Laviert dann an uns vorbei und verzieht seine ohnehin schon wieder angesäuerte Visage. „Wo ist der Gefreite Friedrich?“, will Gruber verständlicherweise wissen.

„Der liegt hinterm Panzer auf dem Boden und rührt sich nicht, Herr Feldwebel“, kann ich nur als Antwort geben.

„Ist er tot?“

„Nein, Herr Feldwebel!“

„Dann hat er gefälligst herzukommen, wenn ich es befehle!“, brüllt der Alte mich an, bevor ich mich weiter erklären kann. Seine Spucke berieselt mich, dass ich hätte kotzen können. „Na los, Hebrank, holen Sie mir gefälligst den Gefreiten Friedrich her!“ Ohne groß nachzudenken, renne ich also zurück. Heinz liegt wie am Boden angenagelt unverändert stur und rührt sich nicht.

„Mensch, du blöder Idiot, wegen dir hat mich der Alte gerade zur Sau gemacht! Steh auf, du verdammter Idiot!“ Immer noch nicht die geringste Reaktion. Ich tippe Heinz mit dem Stiefel in die Seite. Nur leicht, aber energisch. Da springt er auf, wie vom Blitz getroffen und ballt seine Faust, die mich mit voller Wucht am Kinn trifft. Bums! Ich gehe zu Boden wie ein nasser Sack. Heinz hat mich kalt erwischt. Mit einem Gesichtsausdruck, der sich mit dem eines Wahnsinnigen vergleichen lässt, droht Heinz über mir, fuchtelt mit seinen Armen und lässt verbale Hasstiraden auf mich herabregnen.

„Was zum Geier ist denn hier los?“ schreit der Feldwebel, der wie ein wild gewordener Eber um die Ecke schießt. „Reißen Sie sich zusammen, Friedrich! Los rauf mit Ihnen!“, staucht Gruber meinen Freund zusammen. Heinz aber bleibt wie versteinert stehen. Sein Blick haftet auf den verwirrten Gesichtszügen Werners.

Der hat das alles schweigend verfolgt. Am Boden kauernd hält er sich seinen lädierten Arm. Das Blut war wieder bedrohlich stark durch den Mullverband gesuppt.

Als hätte man an Heinz ein Ventil geöffnet, sackt er jetzt zusammen. Beginnt los zu flennen und vergräbt beschämt das Gesicht in seinen Händen. Anstatt weiter zu brüllen, lässt Gruber von ihm ab, geht langsam in die Hocke und legt seine Hand auf Heinz’ Schulter.

Dieser Anblick ist rührend, doch ich kann, auch wenn ich es bestimmt will, dabei nicht das Geringste empfinden.

Gruber versucht, was beinahe unmöglich scheint, Heinz wieder auf die Beine zu bekommen, denn für Rührseligkeiten war hier keine Zeit und ganz sicher auch kein Platz. „Jetzt reiß dich zusammen, Junge! Du willst doch, dass deine Mutter stolz auf dich ist! Komm jetzt hoch, wir müssen hier weg!“

Gruber hasst jedes Einzelne der Worte, die er soeben ausgesprochen hatte ... verachtet sich dabei selbst, da er es abscheulich fand, wie sehr er schon verweichlicht war.

Heinz rührt sich zitternd. Er sieht mich an, will etwas sagen, doch sein Mund bleibt geschlossen. Seine Augen haben sich in wässrig trübe Murmeln verwandelt, die leblos in seinem Gesicht hängen.

Die Panzerbesatzungen helfen uns, einige der Verwundeten, die transportfähig sind, auf ihren Maschinen zu platzieren. Wir stapeln sie regelrecht übereinander, sie brüllen vor Schmerzen, doch es hilft ja nichts, denn wir sollen schleunigst zusehen, dass wir die Fliege machen.

Im Schutz der Jagdpanzer laufen wir so schnell, wie unsere Beine uns noch zu tragen vermögen, zurück nach Jänkendorf. Sich sammeln und neu justieren, nennt man das.

Ein Kübel rast mit Karacho heran. Meinele steuert diesen gezielt an. Man kann beobachten, wie er Männchen macht und sich scheinbar mit seinem ganzen Körper den beiden Schirmmützchen im Kübel mitteilt.

„Der scheißt den Alten an“, sage ich zu Werner. Zu unser aller Verblüffung aber gibt der Fahrer des Kübels Gummi und sie rasen nur blöde herausgaffend an uns vorbei. „Keine Zeit zum Plausch was?“, feixe ich still.

Heinz sagt die ganze Zeit mal wieder nicht ein einziges Wort, latscht nur neben mir her, ausdruckslos und stumm wie ein Fisch. Ganz zu schweigen von Werner, der mich wohl hassen muss, da sich seine Art mir gegenüber leicht ins Aggressive gewandelt hat. So sehr, dass es mir schon Angst macht. Aber vielleicht liegt es am Umstand seiner bösen Verletzung.

All meine Freunde, mit denen ich die Sommer über ständig irgendwelchen Blödsinn verzapft habe, mit denen ich die Schulbank gedrückt habe, sie alle haben sich radikal gewandelt. Ich hätte es wissen müssen, damals schon, als Werner und Heinz von nichts anderem sprachen, als für den Führer in den Krieg zu ziehen, und wir uns die wildesten Gefechte lieferten, in unserer Naivität.

Damals schon, als ich die Wochenschau sah, im Kino sitzend, mit großen Augen, wenn die heroische Stimme des Sprechers die Taten der Wehrmacht glorifizierte, als wäre alles nur ein Abenteuer in Schwarz und Weiß. Damals habe ich es schon gewusst, dass sich das Ganze zu einem Albtraum verwandeln würde, denn ich hatte ja die Reise mit meinem Vater im Sommer 1940 nicht vergessen. Verdrängt, ja, vergessen, nein! Niemals!

Meinen Freunden erzählte ich kein Sterbenswörtchen darüber, bis jetzt habe ich meine Erlebnisse von damals für mich behalten. Aber hätte, hätte ich doch! Was für ein sinnloser Gedanke, etwas zu verändern, was bereits geschehen ist.

Der Weg nach Jänkendorf zieht sich, obgleich es geographisch gesehen ein Hüpfer ist. Als wir dort einlaufen, staunen wir nicht schlecht. Das Dorf hat sich in ein Aufmarschgelände verwandelt. Gut, etwas übertrieben! Aber da wurde, in Anbetracht der Umstände, noch einmal groß in die Waffenkammer hineingelangt. Panzerabwehrkanonen, leichte Panzerhaubitzen 10,5cm und schwerere vom Kaliber 18,5cm, die in Stellung gebracht werden. Selbst Flugabwehrgeschütze hat man in die Vorgärten gestellt, umfunktioniert zu Kanonen, die sich durch die Bäume recken. Welche Kompanie oder Gruppen sich da in Stellung bringen, unbekannt, aber es sind ganz offensichtlich Waffen-SS Verbände. Die haben auch einige Volkssturmmänner dabei. Alte hagere Fratzen die man, in grauen Filz gewandet, zig Gräben ausheben lässt.

Als sich die Jagdpanzer ins Dorf schieben, herrscht mit einmal ein übertrieben aufgescheuchtes Durcheinander, das mit Gemecker und Flüchen einherging, so, als ob wir der Feind wären und nicht der Bolschewik. Ein SS-Mann rennt auf uns zu, fuchtelt mit seinen Armen herum, schreit irgendwas und jagt den Panzerfahrern Schimpfworte entgegen, dass sie am liebsten über ihn drüber rollen würden. Der Alte springt dem entgegen und verlangt von dem SS-Mann, ihn darüber aufzuklären, was dessen affektiertes Verhalten eigentlich soll. Der SS-Mann entpuppt sich als ein Hauptsturmführer, was dem Feldwebel sofort eine stramme Haltung abverlangt.

„Was machen die denn hier im Ort? Die müssen weiter vor!“, höre ich den Hauptsturmführer brüllen. Die Panzerführer drehen den Dieselmotoren den Saft ab. Eine Wohltat für unsere Ohren. Dieser SS-Offizier hüpft regelrecht vor dem Feldwebel auf und ab, so aufgebracht scheint der zu sein. Eine klassische Nazi-Hupfdohle! Das Gesicht plustert sich wie bei einem Hahn, der sein Revier verteidigen möchte. Bald würde ihm der Dampf aus den Ohren kommen und ich verstehe diese ganze Aufregung nicht.

Der Alte kommt auf uns zu und befiehlt uns, die Verletzten von den Tanks herunter zu hieven und in einen der Vorgärten zu verbringen. Wir zerren die Kameraden herunter, legen sie auf Decken, bringen sie wie aufgetragen unter kahle Apfelbäume und warten ab, was wohl als Nächstes kommen würde. Der Alte verschwindet mit dem SS-Offizier in dem Postamt, das wir vor Tagen bereits inspiziert hatten.

Für eine geschlagene Stunde bleiben sie darin verschollen. Dann kommt er zurück. Er offeriert uns, dass man einen Transport für die Verwundeten geordert hat. ‘Gott sei Dank’, denke ich still, ‘dann kommt Werner wenigstens aus dieser Hölle raus’.

Die Panzerleute sitzen indes auf ihrem schweren Stahlgefährten, rauchen und warten darauf, dass der Feldwebel sich die Bestätigung ihrer dargebotenen Geschichte einholt. Der lange Panzerunterfeldwebel steht kerzengerade, als man sich ihm zuwendet. Nach kurzem Nicken und salutierender Grüße steigen sie in ihre Wannen zurück und bringen die Dieselmotoren auf Touren. In Formation walzen sie sich zum Ortsausgang. Auf Nimmerwiedersehen.

Ich sehe ihnen nach, danke im Stillen, und hoffe, dass sie es überstehen werden. Weiß Gott, wir könnten ihre Unterstützung wirklich brauchen!

Werner wimmert, sein Arm muss baldigst versorgt werden, die provisorische Bandage und Schienung würde nicht verhindern können, dass sich der Bruch entzündet. Blut hatte er schon zur Genüge verloren. Schmerzmittel sind auch nicht verfügbar. Das wenige Verbandsmaterial, das wir bei uns haben, würde allenthalben für Schürfwunden, Schnitte und Platzwunden genügen. Jedoch nicht für solch schwerwiegende Verletzungen, wie sie die Kameraden davongetragen haben. Vom Sani fehlt bereits jede Spur!

Ich kann nur hoffen, dass der Transport, den der Alte angekündigt hat, schnellstens hier eintrifft. Hauptsache, er kommt!

Ich gebe Werner etwas Wasser aus meiner Feldflasche, es ist nicht mehr frisch, aber es löscht den Durst. Heinz sitzt mir gegenüber, starrt unverändert wie abwesend zu mir rüber. Will er etwas zu mir sagen? Ein Wort oder einen Satz?

Die Kameraden auf ihren Decken wälzen sich, biegen und krümmen sich vor Schmerzen, faseln und fantasieren vor sich hin, sind zwischen Wachen und Dahindämmern. Vielleicht erbarmt man sich ihrer und lässt sie noch einmal von ihren Lieben daheim träumen, bevor sie sich in die Kolonnen derer einreihen, die bald hinüber gehen müssen.

Der Feldwebel steht mitten auf der Straße, die sich durch den Ort schlängelt wie eine Ringelnatter im Dorfweiher. Auf dieser erspähe ich den Unterscharführer Meinele wieder, wie er auf den Alten zugeht. Ich habe diesen recht undurchsichtigen Menschen völlig aus den Augen verloren, nun taucht er wieder auf. Meinele, den begreife ich irgendwie nicht.

Ich sehe den Alten dann wieder in dessen Uniformbluse kramen, er klopft sie nach etwas ab, wühlt, und als er gefunden hat, wonach er nervös plierte, kam ihm ein Seufzer über die Lippen. Wieder sieht er sich um, wie er es immer tut, wenn er in dem kleinen Buch blättert. Als wäre es ihm unangenehm, dass ihn jemand darauf anreden könnte, was denn der Inhalt dieses handgeschriebenen Werkes sei. Diesmal nimmt er eine Fotografie heraus und besieht sie sich andächtig.

Ich kann es spüren, wie er in dieses Bild hineintauchen will, sich danach sehnt, der Person auf dem Foto wieder so nah sein zu können, wie es sich sein geschundenes Herz seit langem wünscht. Doch die bittere Realität hält nichts von Gefühlsduselei und stellt sich erbarmungslos vor seine Hoffnung.

„Herr Feldwebel, Sie werden am Fernsprecher verlangt“, informiert ihn eine aufgeregte Stimme, die einem Funker gehört, welcher sich flinken Fußes wieder entfernt. Der Alte muss sich schnellstens wieder richten, zurückfinden, an die Kandare nehmen, in diesem verkorksten Wahnsinn.

„Gefreiter Hebrank!“, schellt es in meinen Ohren. Ich habe es kommen sehen, springe sogleich auf und renne auf ihn zu.

„Jawohl, Herr Feldwebel?“, melde ich bewusst zackig.

„Passen Sie auf unseren Haufen auf, lassen Sie sich von keinem anderen außer mir zu irgendwelchen Aufgaben verpflichten, verstanden?“, beordert mich der Alte.

„Jawohl, Herr Feldwebel“, versichere ich. Er macht scharf auf dem Absatz kehrt und läuft flugs retour wieder auf dieses ominöse Postgebäude zu. Ich tue, wie mir befohlen, und lasse meine Kameraden keine Sekunde aus den Augen. Was man wohl von ihm will? Sicher sagt man ihm jetzt, dass der Transport nicht kommen kann. Oder ein neuer Einsatz? Ein beschissener Einsatz? Wir gehen alle vor die Hunde! Ganz bestimmt!

Die Gedanken verselbstständigen sich hinter meiner Stirn. Heinz beginnt auf einmal herzhaft an zu lachen. Das macht mich völlig perplex, verstört mich derart, dass ich ihn wie belämmert anschnauze: „Was lachst du so blöd?“

„Mensch, Harry, mach dir nicht so einen Schädel, wir können ja sowieso nichts dagegen ausrichten“, gibt der völlig aus dem Zusammenhang gerissen von sich.

„Was ist los mit dir, Heinz?“, will ich von ihm wissen, um sein idiotisches Gehabe zu verstehen.

„Was mit mir los ist?“, bricht es, halb lachend, halb verzweifelt, aus ihm heraus, „Ja, hast du denn keine Augen im Kopf, Harry?“

Ich glotze ihn fragend an, werde nicht schlau aus ihm. „Du bist verrückt geworden! Du spinnst ja“, schiebe ich das Gebrabbel beiseite. Doch dann komme ich doch etwas in Fahrt. „Ich habe sehr wohl erkannt, wie sehr du dich verändert hast, alle haben wir uns verändert! Glaubst du, ich habe keine Angst? Du wolltest doch unbedingt hierher, Werner und Du!“

Heinz verschluckt sich regelrecht, bringt außer einem Gurgeln nichts mehr heraus. Sprachverlust! Habe ich bei Heinz noch nie erlebt! Das ist ein ein unverrückbares Indiz für dessen Veränderung. „Warum sagst nix? Hm? Mensch, wo ist der Heinz, den ich mal kannte, der fröhliche, starke und unerschütterliche Heinz, der mein Freund war? Wo ist er denn jetzt? Das gleiche gilt für Werner“, füge ich noch besonders betonend hinzu. Der eine dreht langsam durch, der andere wird vermutlich an Blutverlust oder Wundbrand sterben! Nach Heulen ist mir zumute, ich kann aber immer noch nicht. Bringe keine nennenswerte Träne heraus! Als hätte man all meine Tränenkanäle wasserdicht zugeschweißt.

„Jetzt hört endlich damit auf“, wirft sich Werner dazwischen. Der hat sich etwas aufgerichtet, sieht mich an, dann Heinz und schüttelt seinen blassen Schädel. Er ist sichtlich geschwächt. Er hat Mühe zu sprechen, presst die Worte mit letzter Kraft uns entgegen. „Ihr seid zwei Holzköpfe, wisst ihr das? Wir haben uns doch einmal geschworen, egal was passiert, immer fest zusammenzuhalten! Der Schwur, habt ihr den vergessen?“, kann Werner noch sagen, bevor ihm die Stimme wieder versagt.

Natürlich! Der Schwur, die Blutsbande, zelebriert im letzten Sommer, der sich heiß über das Thüringer Land legte.

Mit einer rostigen Klinge wandelten wir auf Winnetous und Old Shatterhands Spuren und ritzten uns die Unterarme auf. Beknackte Buben! Das war ein Schmerz! Blutsbrüder wollten wir sein, bis ans Ende unserer Tage. Was waren für doch für Träumer.

Nun spielt sich dieser Film wieder vor mir ab. Heinz lässt den Kopf hängen, schämt sich, das nehme ich jedenfalls an. Werner hat ja recht, uns mit ‘Holzköpfe’ zu titulieren. Ich gebe Werner was zu trinken, betrachte dabei Heinz, der sich ebenfalls sehr um Werner sorgt.

„Heinz, vergeben und vergessen?“, spreche ich ihn an und strecke ihm meine rechte Pfote entgegen, die auf einen Handschlag hofft. Heinz sieht zu mir her, setzt ein gequältes Lächeln auf, das sich über sein fahles Gesicht zerrt. Handschlag drauf! Werner beugt sich etwas zu uns herüber, legt seine gesunde Hand obenauf.

„Egal, was passiert, wir bleiben Brüder bis ans Ende unserer Tage!“ Es zerreißt mir beinahe die Pumpe! Aber etwas Hoffnung kehrt dadurch zurück. Sie wird begleitet von einem warmen Gefühl der Erleichterung, da man sich ein wenig vom inneren Schmutz befreien konnte. Was in Zukunft mit uns geschehen würde, ob wir sterben würden oder nicht, so soll doch nichts zwischen uns stehen, was der Einzelne am Ende sein Lebtag lang bereuen müsste.

„Manchmal bewundere ich dein Gemüt, Harry“, sagt Werner zu mir. Ich pliere ihn verdutzt an.

„Welches Gemüt? Was meinst du damit?“ Will er mich auf die Rolle nehmen?

„Na, ich meine, du scheinst das alles nicht so nah an dich heranzulassen?“, erklärt sich Werner schwerfällig.

„Das ist falsch, Werner! Völlig falsch“, gebe ich forsch zurück, offen durch solch eine Deklaration meines Wesens getroffen!

„Das war doch nicht böse gemeint, Harry, überhaupt nicht böse gemeint“, steuert Heinz jetzt gegen, „Werner hat recht! Dein Wesen ist, so unerklärlich das auch für mich ist, stärker als unseres“, lobhuldigt Heinz beinahe.

„So einen Quatsch habe ich ja schon lange nicht mehr gehört! Ich habe mir oft genug in die Hosen gemacht, während ihr beide mit keiner Wimper gezuckt habt“, rekapituliere ich die Tatsachen.

„Darum geht es doch überhaupt nicht, Harry! Tapfer oder nicht, was zählt das schon, wenn man nicht damit umgehen kann. Ich kann es offenbar nicht! Sei froh drum, Harry“, schlingert Heinz gerade nochmal die Kurve und wischt sich verlegen den Dreck aus seinem Gesicht.

„Wenn ihr wüsstet“, sage ich trotzig. „Wenn ihr nur wüsstet! Warum soll ausgerechnet ich besser mit all dem Unbegreiflichen um uns herum umgehen können?"

„Wenn wir was wüssten?“, kommt es jetzt im Duett. Die Erklärungsnot nimmt mich gefangen.

„Na gut! Ich habe es euch noch nie erzählt und ich weiß nicht, ob ich es überhaupt zur Sprache bringen soll.“ Beide mustern mich neugierig und durchdringend. Sie sind auf einmal ganz schweigsam, scheinen fast zum Zerreißen gespannt darauf zu erfahren, was jetzt denn wohl kommen könnte. Selbst Werner hat den lädierten Arm und die Schmerzen vergessen.

Ich habe mich verquatscht, sitze in der Falle und bin nun in Zugzwang. Warum soll ich es Ihnen erzählen? Sie würden meine Ideologie in Frage stellen, mich einen Verräter nennen, wenn ich mein Erlebtes preisgeben würde. Doch wir sind doch Blutsbrüder? Ich finde insgeheim keine passende Ausrede mehr.

„Ich glaube, dass der Alte bald wiederkommt, der hat sicher was zu tun für uns“, starte ich dennoch einen letzten Versuch, mich herauszuwinden.

„Jetzt lenk nicht ab, Harry! Sag schon, was sollten wir wissen?“ Ich könnte jetzt nur noch damit punkten, dass ich mich zornig gebe und darüber entrüstet meiner Wege ginge.

„Ach, das geht euch doch gar nichts an“, jaule ich verzweifelt, versuche es so glaubwürdig wie möglich ihnen vorzuspielen und entferne mich. „Pustekuchen!“

Fragende Gesichter sehen mir nach, ich kann ihre Blicke in meinem Rücken spüren. Verflucht noch eins! Ich kam nicht weit! Da hatten wir uns endlich ausgesprochen, uns als Freunde wieder und was mache ich? Also kehre ich wieder um. Sie schweigen, sehen mich fragend an. Verwirrte Blicke, die mich nervös machen.

„Na schön, ich werde es euch erzählen, aber ihr müsst mir schwören, dass es unter uns bleibt!“ Nickende Köpfe, gekreuzte Finger. „Ich habe euch doch von meinem Arbeitspraktikum erzählt, das ich während der Sommerferien 1940 bei meinem Vater machte? Das war kein Praktikum, sondern eine Strafaktion meines Vaters. Dessen Firma hatte dort einen großen Auftrag erteilt bekommen. Ich habe euch erzählt, dass er in München Dächer mehrerer Häuser reparieren sollte.“ Werner und Heinz erinnern sich. Sie nicken zwar, glotzen sich dennoch fragend an, weil sie nicht recht einen Reim drauf wissen, worauf ich denn nur hinaus will?

„Er war nicht in München. Sondern weiter außerhalb. In einem sogenannten Straflager bei Dachau. Und es waren auch keine Wohnhäuser, dessen Dächer repariert werden mussten, sondern es waren Barackendächer, welche er bauen sollte. Mein Betteln und Bitten hatte nichts genützt. Ich musste mit, da ich zuvor Riesenmist gebaut hatte. Ihr könnt es euch nicht vorstellen, was ich dort gesehen habe.“

„Wo warst du? Was war denn das für ein Straflager?“, wollen sie wissen. Ich sehe mich nach allen Seiten um, beuge mich etwas dichter zu beiden herüber und flüstere: „Na solche, für jüdische Menschen“, so als würde ich ihnen den Namen einer totbringenden Krankheit verraten. Heinz will das Wort laut aus seinem Mund poltern lassen, aber er schluckt es im letzten Moment noch einmal herunter.

„Man hat sie dort wie Vieh eingepfercht, wie das Stallvieh mussten sie in den Baracken hausen. Der Gestank war widerlich“, ergänze ich zitternd. Verstohlenes, ahnungsloses Gaffen! Der spinnt!

„Das glaub’ ich dir nicht, Harry“, wirft mir Heinz als erster entgegen.

„Mensch, genau deswegen wollte ich euch nichts davon erzählen. Wenn ihr nicht dort wart, könnt ihr es auch nicht glauben. Man hat den Männern die Köpfe rasiert und auch die der Frauen und Kinder. Ich werde ihre verzweifelten Blicke nicht mehr los! Wie sie in die Gebäude getrieben wurden, aus denen sie nicht wieder rauskamen! Sie verfolgen mich seither ständig! Das macht mich noch ganz irre!“

Ich pausiere, muss durchschnaufen. „Das war auch nicht nur ein Straflager, wie ich anfangs dachte. Dort wurde gemordet“, flüstere ich nun so leise, dass selbst ich es kaum noch hören kann.

„Was erzählst du uns da?“, echauffieren sich Werner und Heinz sichtlich aufgebracht.

„Aber es stimmt“, bestärke ich meine Aussage.

„Das ist nicht wahr, Harry, erzähle uns keine Märchen“, kapituliert Heinz endgültig und steht sichtlich irritiert auf. Ich erhebe mich ebenfalls, zerre Heinz an der Schulter, zwinge ihn, mich anzusehen.

„Du glaubst doch nicht wirklich noch immer diesen heroischen Käse! Sieh dich doch mal um“, fauche ich ihn an. Heinz schnauft aufgeregt, sein Herz schlägt ihm bis zum Hals, man kann seine Halsschlagader wild pochen sehen. „Straflager, sie nennen diese Lager auch Konzentrationslager! Wir selbst haben doch mit angesehen, wie jüdische Schüler von unserer Schule abgehen mussten! Stimmt es denn nicht, Heinz?“ Heinz atmet aufgeregt. Läuft einige Meter auf und ab.

Das kann, will er nicht glauben, was ich ihnen gerade erzählt habe. Im Grunde will das niemand glauben. Und doch wissen so viele davon. Tatsache!

„Es ist jedes Wort wahr, das kannst du mir glauben, Heinz, jedes Wort ist wahr! Und weißt du, was dort noch passiert ist?“ Heinz reißt sich los und dampft davon. Werner winkt mich wieder zu sich. „Erzähl mir noch mehr davon, Harry, ich will alles ganz genau wissen. Egal, was es ist!“

Ich setze mich also wieder, blicke ihm dabei tief in die Augen und sage: „Willst du das wirklich?“

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