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Kapitel 5 (Der Auftrag)

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Wir erfuhren es damals beim Abendessen. Kurz und knapp.

„Ich habe einen größeren Auftrag von der Gauleitung erhalten. Ab nächster Woche bin ich für einige Wochen nicht zuhause“, erörtert uns Vater in seiner typisch monotonen Art. Weiter will er nicht darauf eingehen. Kein zusätzliches Wort der Erklärung kommt über seine Lippen.

Wir sitzen am Tisch und unsere Gedanken machen Saltos, doch keiner von uns würde es wagen, meinen Vater diesbezüglich noch eine weitere Frage zu stellen, nicht einmal Mutter!

Mutters Ratlosigkeit steht ihr ins Gesicht geschrieben. Sie ist völlig überrascht und irritiert. Denn üblicherweise wurden solche Dinge nicht beim Abendbrot angesprochen, weder private Angelegenheiten noch geschäftliche. Meine Eltern hatten es stets so gehalten, dass, wenn Veränderungen bevorstehen, sie es erst einmal miteinander besprechen und sich danach an uns wenden.

Wenn Vater meine Gedanken lesen könnte. Innerlich habe ich diese Nachricht mit Freuden vernommen. Endlich könnte ich so lange außer Haus bleiben wie ich will. Könnte durch die Nachbarschaft ziehen, Äpfel und Pflaumen nach Herzenslust aus den Nachbargärten stibitzen, mir den Wanst damit vollstopfen, und ich wüsste, dass Vater nicht auf der Türschwelle auf mich warten würde, um mir den Hintern gehörig zu verhauen. Die Sommerferien würden großartig werden, feiere ich bereits im Geiste.

Nach dem Abendessen gehen Erika und ich in unser Zimmer. Erika will andauernd von mir wissen, ob ich eine Ahnung habe, wohin Vater wohl gehen muss. Ich kann ihr keine Antwort darauf geben.

„Sei doch froh“, sage ich stattdessen zu ihr. Endlich würden wir nicht ständig gemaßregelt werden. Erika scheint das nicht so sehr zu freuen wie mich. Sie hat gehofft, dass wir mit Vater wieder auf Wanderschaft gehen würden, wie wir es sonst immer machten.

„Für diese Art der Ergüsse bin ich schon zu alt“, werfe ich ihr entgegen.

„Du bist erst zwölf, Harry“, gibt sie schroff zurück. Erika ist nur zwei Jahre älter als ich, aber sie lässt es mich ständig spüren. „Was hast du denn vor?“, fragt sie mich mit gespielter Freundlichkeit.

„Was soll ich schon vorhaben?“, weiche ich ihr aus.

„Na, wenn du dich so sehr über Vaters Abwesenheit freust, dann steckt doch die ein oder andere Dummheit dahinter!“ Sie kennt mich zu gut.

„Ach Quatsch, da steckt keine Dummheit dahinter, ich freue mich nur, dass es in den nächsten Wochen etwas ruhiger sein wird.“

„Ruhiger?“, plärrt sie entsetzt. ‘Weiber!’, denke ich pubertär. Dass die immer alles so genau wissen wollen.

Gekonnt spielt sie auf das schwierige Verhältnis zwischen unseren Eltern an, das sich in den letzten Tagen zugespitzt hatte. Sie stritten sich immer häufiger, lauter und intensiver. Wir wissen nicht, worum es genau geht, doch es erschüttert uns ungeheuerlich. Ich verdränge das, so gut ich kann, und gebe den Entspannten.

„Wird schon nicht so wild sein“, wische ich das Thema fort und widme mich meiner schon lange geplanten geheimen Operation. Vielleicht hat meine Taktik, Erikas Fragen auszuweichen, gefruchtet. Irrtum!

Sie verstummt und erstarrt zu Stein. Dann kullern die ersten Tränen über ihre weichen Wangen und ich will mir am liebsten in den Hintern beissen. Das Projekt muss also verschoben werden. Heulsusenalarm!

Vorsichtig setze ich mich neben Erika, lege meinen Arm um sie und ziehe sie fest an mich heran. „Schwesterlein, das habe ich nicht so gemeint, tut mir leid.“ Erika schluchzt. Sie stammelt unter Tränen, wie sehr sie es verletzt, wenn sich Vater und Mutter streiten. Dass sie es bald nicht mehr aushalten würde.

Ich versuche, so behutsam wie möglich, sie davon zu überzeugen, dass es wohl ganz gut wäre, wenn Vater und Mutter sich eine Zeit lang nicht sehen würden. Vielleicht würde sich dann alles wieder beruhigen. Vater und Mutter müssten einsehen, wie sehr sie sich mögen und alles würde wieder so werden, wie es mal war.

Meine Schwester beruhigt sich wieder. Dennoch fällt es ihr schwer einzuschlafen. Sie wälzt sich im Bett hin und her. Das Holz knarrt und quietscht, und ich bete, dass sie doch endlich einschlafen möge. Als ich mir sicher bin, dass Erika tief und fest schläft, ziehe ich ganz sachte an der Schublade meines Nachtschränkchens.

Darin habe ich den Plan für mein neues Flugzeug versteckt, welches mit einem von mir entworfenen Düsenantrieb noch diesen Sommer aufsteigen soll. Den Rumpf, die Tragflächen sowie das Leitwerk habe ich schon fertig.

Lediglich das Fahrgestell und die Anbringung der beiden Düsentriebwerke stellen mich noch vor ein kniffliges Problem. Es würde auch eine äußerst schwierige Aufgabe werden, das Schwarzpulver zu bekommen, welches dem Flieger den nötigen Schub verleihen soll. Mit meiner Taschenlampe leuchte ich vorsichtig auf die Skizze. Erika scheint weiter fest zu schlafen aber doch sehr unruhig und störend.

Plötzlich knarrt es im Treppengang. Flugs schalte ich die Lampe aus, stecke sie mit der Skizze unter meine Bettdecke und stelle mich schlafend. Die Tür zu unserem Zimmer geht auf, das Licht vom Flur scheint hinein, und ich erkenne Vater, wie er einen prüfenden Blick ins Zimmer wirft. Als er die Tür wieder schließt, warte ich noch ein paar Minuten und knipse dann die Lampe wieder an.

Ich will noch einmal alles genauestens überdenken, wie ich an das Schwarzpulver gelangen könnte. Wie ich die Düsen an den Tragflächen befestigen würde, damit keine Gleichgewichtsprobleme auftreten würden, damit sich der Flugkörper nach dem Start nicht spiralförmig in den Boden bohrt.

Doch je mehr ich darüber nachdenke, berechne, mir es bildlich ausmale, es verkommt zur Nebensache. Meine Gedanken schweifen immer wieder dahin zurück, als Erika zu weinen begonnen hatte.

Diese Tatsache, der Unfrieden innerhalb meiner Familie, speziell zwischen meinen Eltern, steht fest und breit im Raum. Erika ist sensibler als ich, älter und versteht wohl mehr, worum es geht. Mich betrifft das noch nicht so sehr, denn ich habe den Kopf mit lauter Flausen voll, eifere schon die ganze Zeit auf die beginnenden Sommerferien hin und habe schwer daran zu arbeiten, mich bei meinen gewagten, außerschulischen Aktivitäten nicht erwischen zu lassen.

Aber jetzt, nach dem Anblick meiner verheulten Schwester, mache ich mir doch den einen oder anderen Gedanken darüber, was zwischen meinen Eltern nicht stimmen könnte. Ich war gerade mal elf, fast zwölf Jahre, da befasst man sich nicht damit, ob die Eltern Differenzen haben oder nicht. Hinzu kommt, dass ich beim Jungvolk bin, wodurch ich viel Zeit mit meiner Gruppe verbringe, deren stolzer Jungvolkführer ich bin.

Das hat einige Aufgaben inne, die erfüllt werden müssen. Meistens komme ich also erst am frühen Abend nach Hause und bin dann so müde, dass ich gar keinen Sinn mehr habe, um Spannungen in meinem Elternhaus zu registrieren.

Mehr und mehr begreife ich jedoch nun die Situation, in der wir alle stecken. Es ist gar nicht auszudenken, wenn Vater und Mutter sich trennen würden. Was könnte die Wurzel allen Übels sein? Meine Mutter ist doch eine sehr schöne Frau, umgänglich, liebevoll, umsorgend und tolerant. Sie meckert zwar hin und wieder, aber den Hintern hat sie mir noch nie versohlt. Vater hingegen ist wie ein Dachbalken: kerzengerade, eckig und hart!

Der Schlaf will und will mich nicht holen in jener Nacht. Meine Gedanken kreuzen sich, schneiden sich, überspannen und zerren an den Nerven. Dass Vater so lange von zu Hause weg sein würde, ist gleichfalls eigenartig wie auch großartig.

Bis auf drei, höchstens fünf Tage am Stück, war er aber noch nie weg gewesen. Da steckt doch mehr dahinter, als er uns glauben machen will?

Ich möchte schlafen. Genervt darüber, dass ich um solch eine gottlose Zeit mir das Hirn zermartere über etwas, was ich nicht ändern kann, ziehe ich meine Daunendecke über den Kopf. Durch den Zimmerboden dringen Stimmen herauf. Dumpf drücken sie sich nach oben und klingen durch die Decke in meine Ohren. Es sind die meiner Eltern.

Eindeutig vernehme ich die raue maskuline Stimme meines Vaters, die immer lauter zu werden scheint. In diese leicht kratzende Stimme mischt sich der glasig dünne Klang meiner Mutter. Auch sie wird nun lauter und schraubt sich in höhere Tonlagen. Dann schieben Stühle über das geraute Parkett.

Ich steige aus dem Bett und lege mich flach auf den Boden, drehe meinen Kopf nach links und presse mein rechtes Ohr dicht ans Holz. Aber durch die Dämmungen der Decke dringt nichts klar Verständliches, woraus ich etwas schließen könnte. Also erhebe ich mich und sehe nach, ob Erika immer noch schläft oder ob sie der Lärm bereits aufgeweckt hat und sie sich nur schlafend stellt.

„Pst, Erika, bist du wach?“, flüstere ich in ihre Richtung. Sie gibt keine Antwort. Sie scheint immer noch tief und fest zu schlafen. ‘Vielleicht ist es auch besser so’, denke ich. Die Taschenlampe liegt noch in meinem Bett, so dass ich sie schnell zur Hand habe. Vorsichtig leuchte ich das Zimmer aus, um meine Wollsocken zu suchen.

Ich habe sie, wie den Rest meiner Sachen, auf den Stuhl neben dem Kleiderschrank gelegt. Als ich sie mir über die Füße gezogen habe, schleiche ich mich zur Tür. Mit angehaltenen Atem drücke ich die Klinke herunter. Mucksmäuschenstill ziehe ich die Tür einen schmalen Spalt auf und zwänge mich hinaus auf den oberen Flur. Nun dringt der Lärm aus der Wohnstube ungefiltert von unten zu mir herauf. Mein Herz rast wie wild. Es schmerzt schon fast, so wie das Blut durch meine Adern wallt. Behutsam setzte ich einen Fuß vor den anderen. Ganz sachte!

Ich kenne jene Dielen, welche lose sind und bei der kleinsten Berührung einen verräterischen Lärm machen würden. So vergeht etwas an Zeit, bis ich den Treppengang erreicht habe. Dort hocke ich mich nieder und spitze meine Ohren. Nun kann ich jedes Wort klar und deutlich vernehmen, welche sich meine Eltern einander zuwerfen. Mein Blick schweift ständig zwischen der Zimmertür und dem Treppenaufgang, während ich mich anstrenge, die Diskussion meiner Eltern zu verfolgen.

„Warum?“, kritisiert meine Mutter.

„Warum?“, wirft mein Vater verständnislos zurück.

„Warum hast du mir nichts davon erzählt?“, setzt Mutter hartnäckig nach.

„Weil ich dir nicht alles auf die Nase binden muss“, entgegnet Vater harsch.

„Ich bin deine Frau, ich habe das Recht alles zu erfahren, was die Familie betrifft!“

„Aber das hast du doch“, faucht Vater genervt.

„Ja, beim Abendessen, vor den Kindern“, kontert Mutter wieder. Das ging noch eine Weile so hin und her, ohne ein konkretes Ergebnis.

„Ich habe es doch erst heute Nachmittag erfahren, verflucht! Was willst du denn?“, erklärt sich mein Alter nochmals.

„Was ich will, Karl? Ich will, dass du ehrlich zu mir bist und nicht irgendeine Ausrede erfindest, um dich mir und den Kindern zu entziehen!“, schreit Mutter nun.

„Ich entziehe mich niemandem, ich habe einen größeren Auftrag erhalten, der nun mal einige Zeit in Anspruch nehmen wird! Und es ist keine andere Frau im Spiel!“, brüllt Vater, den letzten Satz besonders betonend.

„Ach, wenn ich das nur glauben könnte, nach deiner Affäre“, wirft Mutter wiederum anklagend meinem Vater ihren Frust vor die Füße.

Was zum Geier ist da los? Hörte ich eben richtig? Eine andere Frau? Eine Affäre? Wie?

Bei all dem Streitwerk sausen mir bald die Ohren. Als ich das Wort Affäre vernahm, wusste ich anfangs nicht genau, was Mutter damit gemeint hatte. Doch im Laufe des folgenden Streitgespräches bestätigt sich meine Vermutung, dass Vater neben meiner Mutter wohl noch eine andere Frau begehrt. Das ist schlimm! Einerseits, es aus dem verzweifelten Mund meiner Mutter zu hören, andererseits, dass es die unwiderrufliche Gewissheit zu Tage bringt, Vater und Mutter haben sich nicht mehr lieb.

Stocksteif erstarrt, hocke ich am Geländer und versuche weiter zu lauschen, obgleich sich um mich herum alles wie wild dreht.

Meine Beine fangen an zu zittern, schlafen ein, und ich wäre beinahe die Treppe hinunter gesegelt. Das würde eine saftige Abreibung geben. Ich versuche aufzustehen, ohne dabei einen Mucks von mir zu geben. Das gestaltet sich als äußerst schwierig, denn die Gelenke sind wie eingerostet.

Mutter und Vater führen ihre Auseinandersetzung unbeirrt fort, als wären sie allein im Haus. Als ob es uns Kinder nicht gäbe. Das empfinde ich als sehr egoistisch, besonders meiner Schwester gegenüber, die darunter sehr leidet. Gott sei Dank schläft sie noch immer, stelle ich beruhigt fest, da aus unserem Zimmer kein Laut zu hören ist.

„Ich wollte vor den Kindern nicht weiter über meinen neuen Auftrag reden, versteh das doch bitte“, setzt Vater nochmal an, auf Verständnis hoffend.

„Was soll denn das überhaupt für ein ominöser Auftrag sein, dass du so ein Geheimnis daraus machst, Karl?“, schnappt Mutter wieder zu.

„Ein unangenehmer“, erwidert Vater, nun resignierend und knapp.

Auf einmal herrscht Stille. Jetzt muss ich auf der Hut sein.

„Ich werde im Gefangenenlager Dachau persönlich die Dachdeckarbeiten leiten! So, jetzt weißt du es“, erklärt sich mein Vater, der sich inzwischen wohl einen Kurzen hinter die Binde gekippt hat, weiter.

„Dachau?“ Mutter wiederholt diesen Namen, als würde es sich dabei um eine unheilbare Krankheit handeln. „Aber warum kommen die gerade auf dich, Karl?“ Vater beantwortet diese Frage nicht.

Langsam, aber sicher wird mir das Hocken zu anstrengend. Die Müdigkeit hat mich längst übermannt, doch ich will um jeden Preis weiter lauschen. Ich hätte besser ins Bett gehen sollen, denke ich noch, als ich den Halt verliere, über drei Stufen nach unten falle, wo ich mich dann aber in letzter Instanz abfangen kann.

Blitzartig trete ich den Rückzug ins Zimmer an. Nur weg! Nehme dabei keine Rücksicht auf die knarrenden Dielen, schließe geschwind die Tür hinter mir und werfe mich ins Bett. Schwer atmend liege ich unter der Decke. Mein Herz würde wohl stehen bleiben, so sehr geht mir die Muffe vor dem, was gleich folgen würde.

Dann höre ich sie, die flinken Sätze meines Vaters über die desolate Stiege. Gleich stürmt er ins Zimmer, packt mich, wirft mich zu Boden und lässt seinen Gürtelriemen über meinen Rücken schnalzen. Aber die schnellen Tritte stoppen plötzlich, weil meine Mutter zu ihm heraufschreit. Ich vernehme Vaters Worte ganz deutlich. Sie dringen durch die Tür wie Stahlspeere, scharf bohrend, mir mitten ins Mark.

„Na schön! Doch morgen nehme ich ihn mir vor, der kann was erleben“, sagt mein Vater betont bedrohlich, da er weiß, dass ich ihn hören kann.

In dieser Nacht tue ich kein Auge mehr zu, verbringe die Zeit damit, mir auszudenken, wie ich am besten türmen kann, während meine Schwester den Schlaf der Gerechten schläft. Ich bin noch nie dem Neid so verfallen wie in dieser Nacht.

Am nächsten Morgen will ich retten, was noch zu retten ist. Fast sterbend schleiche ich mich die Treppe hinunter. Keine Wahl! Bevor ich die Tür zur Küche öffne, hole ich noch einmal tief Luft. Stirb mutig! Dann setze ich die leidendste Mine auf, die mir möglich ist. Man erwartet mich aber schon.

Der Dachdeckergürtel tanzt seine schmerzlichste Kür. Die darauffolgenden Tage kann ich mich kaum rühren. Vaters Strafe auf mein unerlaubtes Handeln ist härter ausgefallen, als ich es geglaubt hätte.

Doch jeder Hieb mehr wäre mir lieber gewesen, als ich erfahre, dass Vater vorhat, mich in den Sommerferien bei sich arbeiten zu lassen, quasi zur Züchtigung meiner entglittenen Vernunft. So kann ich also alle Pläne getrost über den Haufen werfen. Ferien ade!

So komme ich ungewollterweise nach Dachau, nicht in den Ort, sondern in den Schrecken, den dieser beherbergt. Dort soll meine bis dahin verfestigte Ideologie nicht in Frage, sondern gänzlich auf den Kopf gestellt werden.

Schon als sich mir die ersten Türme zeigen, in denen uniformierte Wachen hinter Maschinengewehren lümmeln, weiß ich, dass es kein guter Ort sein kann. Die riesigen Lampen, die dicht gereiht aneinander baumeln, sind alle eingeschaltet, obwohl es noch taghell ist.

Vater bemerkt, dass ich immer mehr hinter ihm zurückfalle, und ermahnt mich barschen Tones, doch einen Schritt zuzulegen. Ich möchte dort nicht hin, bei Gott, ich schwöre, dass ich mir fast in die Hose mache.

Er geht schnurstracks auf das Häuschen zu, welches man neben das riesige Gitterportal gezimmert hat. Links und rechts davon sind Sandsäcke zu Nestern gestapelt, in die sich Wachsoldaten gezwängt haben und Zigaretten rauchen. Ein weiterer Soldat läuft vor dem Tor auf und ab. Ein baumlanger Lax mit Segelohren! Er kommt mir ziemlich gelangweilt vor, so, wie er da umherlatscht.

Doch je näher wir dem Eingang kommen, umso mehr versteinern sich die Gesichter der Wachen zu bedrohlich glotzenden Fratzen. Da ich aber in voller Jungvolksmontur gekleidet bin und sich mein Vater rechtzeitig ausweisen kann, verfliegt der bedrohlich einschüchternde Ausdruck in ihren Augen. Ich bin so perplex durch diese für mich unheimliche Situation, dass ich andauernd den rechten Arm zum Hitlergruß emporstrecke und fortwährend „Sieg Heil“ rufe. Vater wirft mir einen verächtlichen Blick zu. Kurz, aber bestimmend. Die Wachen lachen über mich. Meinen Vater hingegen betrachtet man eher skeptisch.

In dem provisorisch errichteten Häuschen liegen jede Menge Ordner und zig lose Zettel auf einfachen Tischen. Eine Schreibmaschine neben einer Kaffeekanne, die mit bunten Blumen bemalt ist. Das kleine Fenster steht sperrangelweit offen, dadurch habe ich gute Sicht ins Innere. Einladend?

Wir treten auf der Stelle und warten, bis endlich jemand erscheinen würde, der meinem Vater weitere Anweisungen geben soll. Ich besehe die lange Straße, auf der wir hergekommen sind, und bemerke ihre ungewöhnliche Breite, da könnten bestimmt fünf Busse nebeneinander herfahren. Düster und einsam zieht sie sich zum Horizont hin, bis die Sicht zu verschwimmen beginnt. Hier aber vor dem großen Eingangsportal ist ihr Anfang. Oder doch ihr Ende? ‘Endstation’, denke ich mir.

Ich habe mich auf meinen Koffer gesetzt und sehe mich weiter um. Beim Betrachten des aus Eisen geschmiedeten Eingangsportals fällt mir der Satz auf, welcher mittig im Tor verschweißt ist. Arbeit macht frei steht da, etwas verzerrt in der Form, aber gut lesbar.

Was für eine Aussage. ‘Kommen die etwa eher frei, wenn sie gut arbeiten?’. Ich verstehe den Satz nicht ganz, schon gar nicht, in welchem Zusammenhang er stehen soll. Es ist ein Straflager, das weiß ich, weil es mir Vater sagte. Ein Gefängnis für Verbrecher. Auch das hatte mir Vater erklärt. Doch aufgrund der Größe dieses Gefängnisses oder Lagers beginne ich innerlich zu frösteln, bei dem Gedanken, wie viele Verbrecher das Reich wohl haben muss, wenn man solch eine riesige Anlage dafür benötigt. Diese Frage beschäftigt mich so sehr, dass ich drauf und dran war, einen der Wachleute diesbezüglich anzusprechen.

Doch ehe ich dazu kommen kann, werden mein Vater und ich von einem weiteren Uniformträger in Empfang genommen. Dessen Uniform ist schwarz und an den Rändern silbern eingefasst. Ein schmaler Kerl mit Silberblick und mit für sein Bohnengesicht zu kurzer Nase.

Bevor dieser Mensch an uns heran tritt, wirft er einen prüfenden Blick ins Häuschen. Der Anblick verärgert ihn offenbar, da es ihm einen leisen Fluch entlockt. An der Ordnung im Häusel kann es ja nicht liegen, ergo muss der Posten fehlen.

Als er dann vor uns steht, ringt er sich ein gequältes Begrüßungslächeln ab. Seine Ausstrahlung ist kalt wie Eis im Winter. Seine Gesichtszüge wirken eingefroren, auch wenn er lächelt. Er stellt sich uns als Hauptsturmführer Bartels vor. Seine Stimme ist tief und hat einen unüberhörbaren bayrischen Akzent, welcher sich der strengen Aussprache nicht so recht anpassen will. Er verlangt die Herausgabe unserer Pässe, inspiziert diese derart genau, dass ich ihn schon in Gedanken darin versinken sehe.

Als auch der letzte Zweifel zerstreut ist, weist er uns an, ihm zu folgen. Durch das ominöse Tor hindurch, einen Korridor entlanglaufend, der beidseitig mit Unmengen an Stacheldraht gesichert ist, kommen wir zu einem Gebäude, das fast schon verloren inmitten eines riesigen Platzes steht. Schräg dahinter stehen in einiger Entfernung langgezogene Baracken, die sich dicht an dicht aneinanderreihen.

Die Größe sowie die Weite erschlägt mich förmlich. Alles ist auf das Penibelste gepflegt, sauber und akkurat angeordnet. Wohin man seinen Blick auch schweifen lässt, man erblickt Drahtverhaue, hohe Laternenmasten, Wachtürme, die wie Hochhäuser aussehen, und jede Menge Uniformierte, welche über das Gelände patroullieren.

Doch bis jetzt habe ich keinen einzigen dieser unzähligen gefährlichen Strafgefangenen zu Gesicht bekommen. ‘Vermutlich ist dieses Lager erst kürzlich erbaut worden und man muss die Gefangenen erst alle herbringen’, gebe ich mir gedanklich eine Antwort darauf. Mit meinen Kinderaugen betrachtet, ist es ein Abenteuer, ein unheimliches, jedoch auch ein Beeindruckendes.

Vater hingegen läuft nur stur vor sich hin, immer dem Hauptsturmführer folgend. Er wendet seinen Blick weder nach links noch nach rechts, scheint völlig unbeeindruckt von allem. Seinen Hut salopp auf dem Kopfe tragend, den Koffer in der Hand, läuft er dem Uniformierten hinterher, fast so, als wolle er in einem Hotel absteigen.

Wieder müssen wir warten. Diesmal im Gebäude, auf einer geschwungenen braunen Holzbank. Das Innenleben dieses Gebäudes ist spartanisch eingerichtet, aber es ist hell, mit vielen Fenstern, durch die das Sonnenlicht hineinflutet. Glatt polierte Steinböden, in denen es spiegelt, einsam verwaiste Schränke aus edlem Holz, die sich an hohe Wände schmiegen. Ein paar klobige Gobelins. Jeder Schritt hallt, jeder Ton schallt.

Da sitzen wir dann, ich gaffe zu Vater rüber, der in sich gesunken dahockt und keinen Ton von sich gibt. Diese Stille ist kaum noch zum Aushalten. Wo führt er mich denn hin? Warum? Fragen, die ich mir stelle, die eigentlich schon fast Vorwürfe sind. Ich beiße mir auf die Zunge und habe schwer damit zu kämpfen, Vater nicht mit den Fragen zu konfrontieren, die gegen meinen Schädel hämmern wie die dumpfen Schläge von Pflöcken in einer Stahlschmiede.

Die Warterei hat ein jähes Ende, als sich eine der großen Türen öffnet und ein Offizier der SS, dessen Uniform dem Tadellosen noch eins oben aufsetzt, zu uns in den Flur heraustritt. Beide stehen wir vor dem großen Kerl stramm. Natürlich darf der Hitlergruß nicht fehlen, den ich ja aus dem Effeff beherrsche. Das findet man wohl recht beeindruckend. Mein Vater hingegen hat damit schwer zu schaffen.

„Ihr Sohn?“, möchte der Offizier von meinem Vater wissen. Vater nickt verhalten, versucht sich ein Lächeln abzuringen. „Strammer Bursche, Ihr Sohn! Der kommt bestimmt mal zur SS, wenn er alt genug ist“, prophezeit der Kerl, fast so, als sei mein weiteres Leben bereits verplant und beschlossen, von A bis Z.

Der Offizier bittet meinen Vater in sein Büro. Ich aber muss draußen warten, was mich sehr verärgert, nachdem man mich zuerst so hoch gelobt hat. So eine Uniform würde an mir auch ganz gut aussehen, stelle ich mir vor, und sehe mich schon darin herumstolzieren wie ein bunter Pfau. Wie ich damit die Mädels in der Volksschule beeindrucken könnte. Aber was würden erst Heinz und Werner für Augen machen, wenn ich mit solch einer Garnitur bei ihnen vorbeischauen würde? Die würden wohl platzen vor Neid.

Diese Gedanken flattern mir durchs Hirn bei meinem Versuch, die Zeit totzuschlagen, weil mein Vater eine halbe Ewigkeit in diesem Büro zubringt. Ich laufe den Flur auf und ab, spähe durch die Fenster auf den großen Hof. Vielleicht bekomme ich ja einige dieser Verbrecher zu sehen? Doch der Platz ist wie leergefegt. Nichts, außer Wachsoldaten, welche in der Sonne lümmeln und Zigaretten rauchen.

Immer wieder stiere ich zur Tür hin, hinter der mein Vater mit dem Offizier sitzt. „Mensch, die haben aber viel zu besprechen“, murmele ich vor mich hin.

Die Wachsoldaten, welche gerade noch ganz entspannt auf einer Pritsche saßen, sind auf einmal davongesaust. Als hätte sie der Hafer gestochen, rennen sie mit ihren Karabinern quer über den Hof in Richtung der Baracken, die ich bei meiner Ankunft gesehen habe. Kurz danach knallen Schüsse. Ich fahre zusammen, rutsche auf den Boden und presse mich an die Wand. Im selben Moment fliegt die Bürotür auf und der Offizier schnellt wutentbrannt und wie ein Kutscher fluchend an mir vorbei zur Ausgangstür.

Mein Vater ruft mich, doch ich will, kann mich nicht vom Boden losreißen. Weitere Schüsse platzen, hallen von draußen ins Gebäude. Es bricht ein regelrechter Wirbel aus, der mich tief ins Mark erschüttert. Vater brüllt mich an, ich soll endlich vom Fenster wegkommen. Ich sehe, wie er auf mich zu gerannt kommt, wie in Zeitlupe streckt er seine langen Arme nach mir aus. Dann packt er mich mit seinen drahtigen Händen am Nacken und zieht mich ins Büro.

„Setz dich und verhalte dich ruhig“, sagt er mir mit zitternder Stimme.

„Was passiert denn da, Vati?“, stottere ich schockiert.

„Sei still, Harry!“, befiehlt mir Vater nur und blickt, blass und angespannt, zum Flur hinaus.

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