Читать книгу Ehe, Partnerschaft, Sexualität - Konrad Hilpert - Страница 10
2.2 Veränderte Rahmenbedingungen
ОглавлениеGründe für diese Kluft, die ja nicht schon immer bestanden hat, sondern ein Phänomen der letzten 50 Jahre ist, wird man vor allen theologischen Überlegungen zunächst bei den lebensweltlichen Verhältnissen zu suchen haben, die sich in eben diesem Zeitraum deutlich verändert haben.
Eine dieser Veränderungen besteht in der ständigen Ausweitung der Zeitspanne zwischen Eintritt der Geschlechtsreife und dem Heiratsalter. Das durchschnittliche Alter bei der Geschlechtsreife (bei Mädchen die erste Menstruation, bei Jungen der erste Samenerguss) beträgt nach der letzten großen Untersuchung aus dem Jahr 20014 für die Geburtsjahrgänge 1975–1980 12,75 Jahre bei den Frauen und 12,80 bei den Männern. Für die Geburtsjahrgänge 1960–1964 lag sie bei den Frauen noch bei 13,27 Jahren und für deren Mütter (Geburtsjahrgänge 1935–40) sogar bei 14,05 Jahren. Für die Geschlechtsreife bei den Männern liegen keine parallelen Daten vor, doch lag der Wert nur drei Jahre früher noch bei 13,35 Jahren, sodass auch hier von einem stetigen Absinken des Reifealters auszugehen ist. Das durchschnittliche Heiratsalter stieg – lässt man andere Faktoren wie die zunehmende Verbreitung von nichtehelichen Lebensgemeinschaften, Single-Existenzen und Alleinerziehenden-Gemeinschaften außer Acht – bei Frauen wie Männern im gleichen Zeitraum (1960–2012) um sieben Jahre an (von 24,0 auf 30,5 bei Frauen und von 26,1 auf 33,2 bei Männern).5 Das hat naheliegenderweise etwas mit den gestiegenen Anforderungen an Schulbildung und Ausbildung sowie mit wirtschaftlicher Unsicherheit zu tun, stellt aber unabhängig von den Gründen eine Veränderung für den Umgang mit der eigenen Sexualität und die Praxis partnerschaftlicher Beziehungsgestaltung dar.
Kaum zu überschätzen ist ferner die Veränderung, die durch die Erreichbarkeit und vergleichsweise leichte Handhabbarkeit „sicherer“ Verhütungsmaßnahmen seit Mitte der 1960er-Jahre induziert wurde:6 Paare, die miteinander Geschlechtsverkehr aufnehmen, brauchten seither nicht mehr mit dem Risiko oder gar der hohen Wahrscheinlichkeit zu leben, dass daraus ungewollte Schwangerschaften entstehen. Diese Veränderung entzog der Norm, dass Sexualität nur im Raum der Ehe stattfinden dürfe, das psychologisch triftigste und sozial plausibelste Argument. Die Entkoppelbarkeit von Sexualität und Zeugung öffnete somit auf einen Schlag neue Freiheitsräume für Paare, die dann auch genutzt wurden.
Eine bedeutsame Veränderung für das gemeinsame, Intimität einschließende Zusammenleben stellt auch die laufende Zunahme der durchschnittlichen Lebenserwartung dar. Diese beträgt für die 2009–2012 geborenen Männer 77,72 Jahre, für die im selben Zeitraum geborenen Frauen 82,73 Jahre.7 Das heißt vor allem, dass die gemeinsame Lebenszeit, die zwei Partnern in einer Beziehung zur Verfügung steht, tendenziell immer größer wird und gleichzeitig die statistische Wahrscheinlichkeit, dass sie durch den Tod eines Partners früh endet, im Vergleich zu früheren Zeiten signifikant sinkt.
Schließlich muss in diesem Zusammenhang auch erwähnt werden, dass sowohl die Ansprüche an die Voraussetzungen für den Entschluss zu einem auf Dauer angelegten Zusammenleben wie auch die Herausforderungen an die Gestaltung des Innenverhältnisses einer Partnerschaft im Laufe der letzten 50 Jahre erheblich gewachsen sind. Der biographische Weg zur Findung der eigenen Identität einschließlich der Klarheit über die sexuelle Orientierung ist heute aufgrund der vielen Angebote und Alternativen anstrengender und aufwändiger als ehedem, wo vieles durch Eltern, biologische Rollen und soziales Milieu vorbestimmt war. Und wenn dann die Bereitschaft zu Intimität und Partnerschaft mit einer bestimmten Person erreicht ist, müssen die Partner noch ihre spezifische, für sie beide passende Form des gemeinsamen Lebens erst finden. Denn auch die Lebensform ist nicht mehr gleichermaßen festgelegt wie früher; sondern es bieten sich neben den bekannten Bildern auch andere Varianten an, die eigentlich alle auch gesellschaftlich weitgehend akzeptiert werden. Als wichtiger Faktor für die Wahl bzw. innere Gestaltung der Lebensform tritt die binnen weniger Jahre stark angewachsene Sensibilität für Asymmetrien in den früheren Geschlechterverhältnissen noch hinzu.