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2.4 Konkurrierende Moralen

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Die Situation der kirchlichen Moral in der modernen freiheitlichen Gesellschaft ist – das zeigten die Ausführungen im vorausgegangenen Abschnitt – nicht die, dass es außer der kirchlichen Morallehre in der Gesellschaft keine moralischen Vorstellungen und Verbindlichkeiten gäbe. Das trifft nicht einmal hinsichtlich der Lebenswirklichkeiten von Partnerschaft und Familie zu, denn auch diesbezüglich wird doch weithin anerkannt, dass Verantwortlichkeiten bestehen, auch wenn diese nicht mit Rekurs auf kirchliche Grundsätze formuliert werden. Ein Beispiel: Wenn junge Leute verhüten, dann tun sie das, um leichtfertige Schwangerschaften und den Konflikt, sich zwischen einem Kind und einem Abbruch entscheiden zu müssen, zu vermeiden. Auch die Absicht, den Partner oder sich selbst vor möglicher Ansteckung zu schützen, ist vielfach ein wirkmächtiges Motiv für ein solches präventives Verhalten. Ist das unmoralisch, und darf man unterstellen, dass sie sich gegen das Leben und gegen Kinder stellen? Ein anderes Beispiel: Partner nichtehelicher Lebensgemeinschaften leben zusammen und erleben miteinander ihre Intimität. Aber sie heiraten nicht bzw. noch nicht. Muss ihr Verhalten als Scheu vor Bindung und Verweigerung gedeutet werden oder könnte es nicht sein, dass sie ihre Beziehung unter Vorbehalt stellen, bis sie sich sicher sind, dass sie selbst und der andere einen solchen Schritt wirklich wollen? Ist ein solcher Vorbehalt dann moralisch defizitär oder im Gegenteil Konsequenz aus der Verpflichtung zu unbedingter Authentizität und Treue?

Es spricht vieles dafür, dass die Situation der Moral, auch die der kirchlichen Moral, in der modernen Gesellschaft, was die Inhalte betrifft, dadurch gekennzeichnet ist, dass mehrere Moralen aufeinandertreffen und sich samt ihren Ansprüchen und zentralen Anliegen übereinanderschieben, aneinander reiben und sich manchmal dann auch miteinander verbinden.

So ist etwa in allen gesellschaftspolitischen Diskussionen ein Moraltypus erkennbar, der ganz auf die eigene Freiheit aus ist und überall die Selbstbestimmtheit der Lebensführung einfordert, angefangen von der Erziehung der Kinder bis hin zur Gestaltung des Sterbens. Dieser Moraltypus größtmöglicher Selbstbestimmtheit gerät geradezu zwangsläufig in eine Spannung zu der Vorstellung, dass das Zusammenleben einen festen institutionellen Rahmen (formuliertes Versprechen) und eine öffentliche Bestätigung (den Trauschein) braucht, um sich von den Unwägbarkeiten der Gefühle und der Zufälle des Lebens unabhängig zu machen.

Erkennbar ist auch eine Moral des Aushandelns und Ausprobierens. Sie legt besonderen Wert darauf, dass Partner, die sich an ein so anspruchsvolles Projekt heranwagen, erst einmal Erfahrungen machen müssen, bevor sie solche Verbindlichkeiten eingehen. Gemeint sind Erfahrungen mit sich selbst und den eigenen Erwartungen, aber auch die Erfahrungen mit einem anderen, der einem zwar sympathisch ist, den man aber doch erst noch besser kennenlernen muss, auch im Alltag und unter Anspannungen; und schließlich sind auch Erfahrungen mit dem Zusammenleben und mit der Spannung von Nähe und Distanz, die diesem eigen ist, mitgemeint. Dieser Typ von Aushandlungs- und Experimentalmoral harmoniert aber wiederum nicht mit der Vorstellung, das Moralische bestünde darin, sich nach den Maßstäben und Regeln zu richten, die schon für die früheren Generationen gegolten haben und die bei der Kirche und ihren Repräsentanten aufbewahrt und bestärkt werden.

Wenigstens noch ein weiterer, also dritter Moraltypus zeichnet sich in den gesellschaftlichen Debatten heute deutlich ab: Sein zentrales Prinzip lautet „Inklusion“. Gemeint ist mit Inklusion die Haltung des Annehmens trotz Hindernissen, des Normal-Findens, des gezielten Unterstützens zur Gleichheit hin, auch des Willkommen-Heißens Andersartiger. Ursprünglich als oberste Norm für die weitgehendste Integration von Menschen mit Behinderung formuliert, wird dieser Impuls längst auch auf andere Gruppen, die sich exkludiert fühlen, ausgedehnt, insbesondere auf Menschen mit anderer sexueller Orientierung. Wer immer aber die primäre gesellschaftliche Aufgabe darin sieht, die Ausgrenzung von Menschen aufgrund körperlicher, geistiger, psychischer, ethnischer usw. Merkmale zu überwinden, wird sich schwertun mit einem Denken, das von einer allen Menschen gleichen „Natur“ her argumentiert und z.B. jede homosexuelle Aktivität als „unnatürlich“ oder sogar „naturwidrig“ klassifiziert. Die Kirche hat sich sogar in jüngerer Zeit verschiedentlich zum Verbot der Diskriminierung bekannt8, und deshalb darf sie sich nicht beklagen, wenn sie auch mit Erwartungen konfrontiert wird, bestehende Diskriminierungen zu korrigieren.9

Alle diese doch recht unterschiedlichen Paradigmen von Moral – also die Moral maximaler Selbstbestimmtheit, die Moral des Aushandelns und Erprobens und die Moral der Inklusion – sind gleichzeitig und neben dem überkommenen Modell vorhanden und entfalten ihre Ansprüche. Und vielleicht ist ja der Bereich der privaten Lebensgestaltung besonders stark von dieser Gemengelage aus verschiedenen Moralen betroffen, weil bei der privaten Lebensgestaltung die Notwendigkeit einer Steuerung durch die Gesellschaft und einer äußeren Begrenzung weniger offensichtlich ist als in anderen Bereichen, wie etwa in der schulischen Bildung, im Verkehr, in der Versorgung mit Grundgütern und im Zugriff auf bzw. in der Bereitstellung von Gesundheitsleistungen.

Man mag als Eltern, als Großeltern, als kirchlicher Amtsträger oder schlicht als aufmerksamer Beobachter diese Entwicklung mit ihrer Dynamik bedauern. Denn sie macht – das ist kaum zu bestreiten – Biographien und Beziehungen komplizierter; und sie birgt auch reichlich Konfliktmaterial in sich. Aber verhindern kann man sie nicht, jedenfalls nicht durch amtliche Willensentscheide oder durch nostalgischen Pessimismus („früher war alles besser“). Die einzige Möglichkeit, sich ihr zu entziehen, wäre der Rückzug in kleine, geschlossene weltanschauliche Gruppen, in denen die Geltung der früheren Sexualmoral mit Strenge durchgesetzt wird und gegen störende Einflüsse von außen durch Kontakthindernisse abgedichtet wäre. Wenn man derlei Parallelgesellschaften aber nicht möchte, auch aus theologischen Gründen nicht will, weil die Botschaft des Evangeliums an alle gerichtet ist, dann muss man offen und sensibel sein für das Ethos, das in der Gesellschaft entsteht und heute oft durch bestimmte soziale Bewegungen vorangetrieben wird. Die eigenen Überzeugungen, Erfahrungen und Symbole müssen so erschlossen, begründet und angeboten werden, dass sie als Beitrag zur individuellen und zur gesellschaftlichen Urteilsbildung wahrgenommen werden können.

Ehe, Partnerschaft, Sexualität

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