Читать книгу Ehe, Partnerschaft, Sexualität - Konrad Hilpert - Страница 13
2.5 Vergewisserung über die Situation
ОглавлениеWenn die Verantwortlichen in der Kirche ein ungeschminktes Bild vom Denken und von der gelebten Praxis im Feld der partnerschaftlichen Beziehungen, der gelebten Sexualität und des familiären Zusammenlebens gewinnen wollen, kommen sie an empirischen Methoden zur Erfassung bzw. Beobachtung nicht vorbei. Dabei steht außer Frage, dass die sozialwissenschaftliche Betrachtung weder über die sittliche Güte und Richtigkeit einer bestimmten Handlungsweise befinden kann noch für das ureigene Selbstverständnis der Kirche, die Berechtigung bestimmter Geltungsansprüche und die Konsistenz moralischer Argumentationsgänge zuständig ist. In diese Richtung gehen ja häufig Befürchtungen und Vorbehalte.
Die primäre Funktion der sozialwissenschaftlichen Erkundung ist aber gar nicht die Legitimation bestimmter Verhaltensweisen, sondern die möglichst genaue Wahrnehmung der Realität in ihrer Bedingtheit. In zweiter Linie kann es dann auch um die Offenlegung von eingeforderten Idealen gehen, die sich in der Weise verselbstständigt haben, dass ihre sozialen Entstehungsbedingungen und auch ihre realen „Kosten“ aus dem Blick geraten sind. In einem ganz anderen kirchenpolitischen Kontext (nämlich der Dogmatisierung der unbefleckten Empfängnis Mariens) hat vor mehr als eineinhalb Jahrhunderten der große englische Theologe und Kardinal John Henry Newman für Recht und Pflicht zur Konsultierung der Gläubigen in Dingen der christlichen Lehre plädiert10 und dabei auf einen weiteren zentralen Sinn der Befragung hingewiesen, nämlich das Gewicht der Überzeugungen der vielen einfachen Gläubigen gegenüber denen, die Leitungsämter innehaben. Ekklesiologisch ging es Newman mit anderen Worten um das Anliegen, dass sich das Lehren der Kirche nicht abtrennt und verselbstständigt gegenüber dem Hören und Denken der Betroffenen. Man müsse – so Karl Rahner in einer berühmten Rede aus den ersten Nachkriegsjahren und unter ausdrücklicher Bezugnahme auf eine Sentenz Pius’ XII. aus dem Jahr 1950 – die Leute „auch in der Kirche ‚sich einmal ausreden‘ lassen, wolle man wirklich die (geistige, seelsorgliche, gesellschaftliche usw.) Situation erkennen“11.
Entsprechende empirische Untersuchungen zur Situation der Partnerschaftsmoral in Kirche und Gesellschaft vor allem auf nationaler Ebene hat es in den letzten 50 Jahren denn auch immer wieder gegeben. Die meisten wurden von privaten Forschungsinstituten (Allensbach, Emnid, Bertelsmann-Stiftung) nach streng repräsentativen Gesichtspunkten durchgeführt. Die Ergebnisse verweisen in großer Übereinstimmung in die skizzierte Richtung.
Zum ersten Mal auch in kirchlichem Auftrag wurde eine solche empirische Befragung (allerdings nicht fokussiert auf die Lage der Sexualmoral) aufgrund eines Beschlusses der Deutschen Bischofskonferenz 1970 unter allen deutschen Katholiken im Alter von über 16 Jahren durchgeführt, um die Gemeinsame Synode der Bistümer (sogenannte Würzburger Synode 1972–1975) vorzubereiten. Es war Bestandteil dieses Beschlusses, dass die Ergebnisse der Befragung auch öffentlich gemacht würden.
In einer methodisch sicher wesentlich anspruchsloseren und auf Repräsentativität von vornherein verzichtenden Form wurde etwas Ähnliches auch im Vorfeld der Bischofssynoden von 2014 und 2015 versucht. Auch wenn die Sprache bedauerlicherweise in binnenkirchlichem Jargon und traditionellen Denkmustern befangen bleibt und die Kommunikation innerhalb der innerkirchlichen Öffentlichkeit recht mangelhaft ist, handelte es sich hierbei immerhin um einen deutlichen Versuch, den Käfig der Binnenwahrnehmung und der vielfachen Selbstzensurierung hinsichtlich der Themen Ehe, Sexualität und Familie zu öffnen und jenen Teil der Kirche zu Wort kommen zu lassen, dem man seit dem II. Vatikanum immerhin ein spezifisches Apostolat12 zuerkannt und den man als relevant für den Glaubenssinn festgestellt hat, nämlich den sogenannten Laien. Das ist theologisch von großer Tragweite und wirkt vielleicht in der Zukunft nachhaltiger, weil hiermit nicht nur eine Chance, sondern auch die Notwendigkeit anerkannt und ausgesprochen ist, dass die Stimmen und Überzeugungen derer gehört werden und eine Rolle spielen sollen, die bisher amtlich wenig oder gar keine Beachtung gefunden haben, gerade wenn es um die Lebenswirklichkeiten dieser Menschen geht. Dazu gehören die Mitglieder des einfachen Kirchenvolks, vor allem auch die Frauen.13