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Thema und Stoff

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Einerseits können Sie aus jedem Thema eine gute Arbeit machen, weil es wichtiger ist, was Sie aus dem Stoff machen, als was in ihm steckt. Andererseits, wenn der Stoff zu wenig Gehalt aufweist, wird er ungleich mehr Blut, Schweiß und Tränen kosten, um ein gutes Stück daraus zu machen. Manchmal entpuppt sich ein zuerst großes, vielversprechendes Thema während der Arbeit als Seifenblase, oder eine Lappalie, aus der man unter keinen Umständen ein ganzes Stück machen wollte, entwickelt sich dann jedoch zu einer großartigen Idee, die einen über einen langen Zeitraum begleitet. Läuft Ihnen ein Thema über den Weg, und Sie legen sich sofort fest, daraus ein Stück zu machen, kann es passieren, dass Sie sich dadurch bereits zu sehr fixieren. Geben Sie dem Stoff Zeit, sich zu entwickeln. Vergessen Sie ihn mit ruhigem Gewissen wieder. Wenn der Stoff etwas mit Ihnen zu tun hat, wird er Sie verfolgen, und der Stoff kommt wieder.

Eine als wertvoll erscheinende Idee, die ein Treffen des Zeitgeists erahnen lässt, in Ihnen aber keine Bilder zum Leben erweckt, die nach tänzerischen Übersetzungen verlangen, sollte auf das Potenzial für eine choreographische Lösung hinterfragt werden, bevor dem Stoff ein bloßes „Vertanzen" aufgezwungen wird, das ihn ärmer und oberflächlicher erscheinen lässt anstatt tiefer und mehrdimensionaler.

Wenn Sie über Themen nachdenken, nehmen Sie jene, die bildhaft sind und eine Notwendigkeit zur tänzerischen Auflösung in Ihnen auslösen. Beobachten Sie, wie Sie in Bildern und Gedanken auf die Themen reagieren. Wenn Sie sich von einer Geschichte angezogen fühlen, denken Sie über die mythologischen Aspekte dieser Geschichte nach - oder ob die Geschichte eine archaische Komponente hat, die eine tiefe, nonverbale Thematik in Ihnen anspricht. Damit will ich sagen: Es sollte etwas darin geben, das Sie nur mit Tanz ausdrücken können. Vermeiden Sie das bloße tänzerische Illustrieren einer Geschichte oder einer Handlung.

Der Vorteil einer theatralisch erzählten Geschichte ist, dass sich der Zuschauer mit den Figuren identifiziert, durch die Handlung der Geschichte in einen aufsaugenden, den Zuschauer hineinziehenden Sog gerät, und sich die Grenzen zwischen Wirklichkeit und fiktiver Geschichte im erzählerischen Moment verlieren. Dieser Sog baut sich aus „Plot Points" auf, welche die Figuren, die wir verstehen und lieben lernen, in Situationen bringen, in denen sie über sich selbst hinauswachsen müssen. Dadurch lösen die Figuren innerhalb ihrer Reise durch die Handlung oft einen tiefen unbewussten, eigenen Konflikt, durchlaufen eine Metamorphose mit vielen Rückschlägen und Prüfungen und sind am Ende eine Persönlichkeit, die sich von der am Beginn der Geschichte gelöst oder erweitert hat.

Die Identifikation mit den Figuren über eine erzählende Handlung lässt sich im Tanz nur sehr schwer realisieren, da das erzählerische Moment stark an verbale Ausdrucksformen geknüpft ist. Es entspricht nicht dem Wesen des Tanzes, als Sprachrohr für eine Erzählung zu dienen, bei der es um Identifikation und eine Dramaturgie entlang einer Plot-Point-Linie geht. Vielmehr vermag der Tanz die Geschichte in eine höhere Ebene zu transformieren, eine Ebene, die seelischen Dingen näher ist als rationell-gedanklichen. Untersuchen Sie Ihre Themen nach solchen Ansätzen. Wenn Sie dabei allerdings zu dem Schluss kommen, dass Sie einfach nur eine Geschichte erzählen wollen, dann sollten Sie sich fragen, ob es nicht besser oder effizienter ist, mit Schauspielern zu arbeiten.

Alles, was Sie tänzerisch zu erzählen bemüht sind, lediglich um eine Handlung zu illustrieren, wird über mühsames Gestikulieren schwerlich hinausragen. Es geht darum, die Aspekte einer Handlung oder einer Figur mit dem Wesen des Tanzes zu begreifen, das dem Narrativen weniger nah ist als dem Allegorischen. Handlung ist nicht zu verwechseln mit der Intension eines Beziehungsaspektes, der eine handlungsähnliche Charakteristik aufweist. Wie zum Beispiel: A will zu B. Aber B erträgt es nicht, weil B unberühr-barer sein will, als es den Intensionen von A entspricht.

Das hat mit Charakteren zu tun und lässt sich auch wie ein dramatischer Ablauf konstruieren, aber es ist noch keine Geschichte wie die von Romeo und Julia.

Nun mögen Sie dem entgegensetzen, dass Sie Tanzvorstellungen einer Geschichte wie Romeo und Julia gesehen haben, die mit den tänzerischen Mitteln sehr berührt haben. Aber fragen Sie sich: „Ist es wirklich die Geschichte, die berührt, oder wurde mit dem Ausdruck des Tanzes eine Vertiefung geschaffen, die über das Narrative der Geschichte hinausgeht?" „Hat die Vorstellung nicht andere Aspekte der Geschichte beleuchtet als das Erzählerische?"

Jeder berührende Roman bringt eine tiefere Ebene als die der bloßen Handlung ans Licht. In der Literatur geschieht dies mit literarischen Mitteln, die in der choreographischen Umsetzung mit tänzerischen Möglichkeiten ersetzt werden müssen. Allzu oft aber wird die tänzerische Entsprechung dieser Vertiefung deshalb vergessen, weil wir das, was mit literarischen Mitteln erzeugt wurde, intuitiv der Geschichte anhaften, obwohl es eigentlich Kunstfertigkeiten sind, die, losgelöst von der Handlung, dem Roman eine weitere Dimension schenken.

Machen Sie sich bewusst, dass es neben der Handlung eine mythologische Ebene gibt, die Sie, wenn Sie eine Geschichte in Tanz transformieren, kennen oder wenigstens erahnen müssen, um sie vertiefen zu können. In vielen Geschichten gibt es eine vom Autor bewusst erzeugte Mythologie, wie zum Beispiel das Aschenputtel-Syndrom in Liebesgeschichten im Film „Pretty Woman" oder den Sieg des Schwachen über den Starken wie in „Rocky" oder die Fügung einer von den Göttern vorbestimmten Liebe, die stärker als der Tod ist. In vielen Geschichten aber wird sich die mythologische Ebene nicht klar definieren lassen; sie wird sich eher als Ahnung um eine weitere Dimension über der Geschichte abzeichnen, die von jedem anders empfunden wird. Ein Beispiel: Das Buch „Fleisch ist mein Gemüse" erzählt die Jugendjahre eines Singlemusikers, der am Ende dieser Zeit mit etwa Mitte zwanzig doch noch eine Frau findet. Manch ein Leser stellt sich die ahnende Angst vor, dass hinter den Figuren und dem Milieu, in denen sich diese bewegen, die große Leere wartet; dass da nichts mehr ist. Ein Gefühl, das viele Menschen in Augenblicken der Selbstreflexion als subtiles Aufflackern erleben, das sie dann im Keim ersticken. Die Angst vor der großen Leere, die hinter allem wartet, ist ein Thema mit einer mythologischen Dimension, das für manche Leser über der Geschichte schwebt und als Impuls für die Arbeit mit einer Choreographie genommen werden kann. Für einen anderen Leser aber wiederum liegt in der Geschichte das Ahnen, dass auch auf den, der weit weg von einer Beziehung lebt, noch irgendwann das Happy End mit der großen Liebe wartet - ein Wunsch, den viele in ihrer Einsamkeit und Isoliertheit durch einen selbst geschaffenen Kosmos gar nicht mehr zu träumen wagen, aber in einer ungesehenen, tiefen Bewusstseinsebene noch immer die Hoffnung auf eine vom Schicksal gebrachte Wendung schwebt. Auch hier findet sich viel Mythologisches, das weit entfernt vom sprachlichen Bewusstsein in einer choreographischen Lösung Ansätze finden kann.

Choreographie - Handwerk und Vision

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