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Die erlebte Zeit innerhalb einer Dramaturgie

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Zeit ist immer etwas Relatives. Ihr Maß ist abstrakt. Die Zeit, die es wirklich gibt, ist nur die eigene. Ihr Erleben ist emotional und maßlos subjektiv. Ihre Geschwindigkeit wird durch die subjektive Emotionalität bestimmt. In manchen Tagen liegt mehr an Zeit als in Jahren. Es gibt diese endlosen Augenblicke und Stunden, die man gar nicht wahrgenommen hat, so schnell sind sie verflogen.

In einem Tanzstück kreiere ich die Zeit. Weil es eigentlich keine objektive Zeit gibt, gestalte ich ein Zeitempfinden. Das Zeitempfinden ist das Kurzweilige oder Langatmige, welches das Stück mit sich bringt. Eine der schwersten Aufgaben ist es, die Zeit „aus-zu-dehnen" ohne langatmig zu werden. Wird die Zeit ausgestreckt, bedeutet das, dass die großen Kontraste im Raum und der Dynamik der Choreographie nicht mehr in der Form vorhanden sind, wie das in einer schnellen Choreographie der Fall sein wird. Der Geschwindigkeit werden sich weniger Zuschauer entziehen als der Langsamkeit. Die Geschwindigkeit verfügt leichter über eine Sogwirkung als die Retardierung.


Zusammenhang zwischen subjektivem Zeitempfinden und erlebtem Kontrast

Die Langsamkeit erfordert die Bereitschaft des Zuschauers, mit der Choreographie durch eine Durststrecke zu wandern, die mit weniger Reizen und Impulsen auskommen muss. Bevor Sie also beginnen, die Zeit auszudehnen, überlegen Sie sich genau, ob das Stück für Sie an der Stelle bereit ist, den Zuschauer in die Langsamkeit mitzunehmen. Schaffen Sie die Voraussetzung für die Langsamkeit, indem in der vorhergehenden Situation eine Sehnsucht für die Leere oder die Stille erzeugt wird.

Eine andere Möglichkeit ist es, die Geschwindigkeit des ganzen Stückes so allmählich zu verlangsamen, dass ich als Betrachter gar nicht bemerke, wie sich die Zeit ausdehnt. Wie auch immer - wenn Sie dieses Vorgehen über einen längeren Zeitraum praktizieren, ist die Gefahr sehr groß, einen beträchtlichen Teil des Publikums dabei auf der Strecke zu lassen. Wir sind nun einmal mehr auf dynamische Wechsel ausgelegt als auf gleichbleibende Einseitigkeit. Es braucht sehr viel Mut für den Choreographen, ein Stück zu kreieren, das sich in der Langsamkeit und Stille bewegt, und es braucht unglaubliche Kunstfertigkeit, ein solches Stück nicht einfach furchtbar langweilig erscheinen zu lassen. Als Choreograph werde ich unter Umständen Gefallen daran finden, in dieser Langsamkeit nach etwas Tiefem zu suchen, das ich in der Dynamik vermisse. Dabei wird die Frage auftauchen: „Was liefere ich den Zuschauern, um sie auf dem Weg in die Tiefe nicht zu verlieren?"

Da das natürliche Empfinden der Aufmerksamkeit dynamisch ausgelegt ist, erfordert es eine Art von Zuschauerausbildung für eine Betrachtungsweise, in der sich die Zeit immer mehr ausdehnt. Das bedeutet, wenn das Stück funktioniert, empfindet der Zuschauer die Zeit nicht, sondern ist in ihr, in der präsenten Sekunde. Er erlebt die Veränderungen als Zeichen der Weiterentwicklung - unabhängig von deren Amplitude. Entwickelt er das Gefühl, dass nichts mehr passiert, wird seine Aufmerksamkeit für das Stück abnehmen. Solange er die Choreographie in einer ständigen Veränderung aufnimmt, wird er eine Entwicklung sehen. Und damit sind wir bei der Frage: „Sind die Veränderungen sichtbar und erlebbar?" „Oder nehmen Sie als Choreograph die Veränderung wahr, weil Sie eine vorgeprägte Wahrnehmung haben - also wissen, was Sie sehen wollen?" Sie können die Zeit ins Endlose ausdehnen, aber die Veränderungen, die dann noch vonstattengehen, müssen wichtiger werden.

Beispiel

Die Tänzer bewegen sich in absoluter Langsamkeit oder stehen gar still. Von Zeit zu Zeit geht immer wieder ein Ruck durch verschiedene Tänzer. Immer durch andere. Der Ruck gleicht einem Schock, den die Tänzer als existenziell empfinden. Die Spannung entsteht zum einen dadurch, dass ich nie weiß, wen es trifft, und zum anderen dadurch, dass der Rhythmus, in dem die Rucke auftauchen, unvorhersehbar ist. Die Tänzer verhandeln innerlich die Frage, wen es als Nächstes trifft, und nehmen die Situation an. (Tun sie das nicht, werden die Rucke auch nicht vom Zuschauer als existenziell angenommen.) Wenn diese allerdings von den Zuschauern als etwas Großes verhandelt werden, dann kann die Zeit, die zwischen den Schocks liegt, mitunter sehr lange sein. Die Zeit wird hier sozusagen „ausgedehnt" ohne dabei einen dramaturgischen Verlust einzubüßen.

Gegenbeispiel

Haben Sie ein Stück, in dem die Schauspieler nur sitzend ihren Text aufsagen und die Tänzer über lange Zeit statisch stehen, um irgendwann eine neue Position einzunehmen, die von der gleichen Wichtigkeit ist wie die vorhergehende, dann wird es dem Betrachter irgendwann egal sein, wie die Tänzer nun dastehen. Irgendwann wird die Erkenntnis im Betrachter entstehen: So oder so, nichts passiert mehr. Dies ist eine dramaturgische Katastrophe. Leider gibt es so etwas immer wieder zu sehen. Vermutlich hängt das mit dem Wunsch der Choreographen zusammen, gegen den Trend zu arbeiten.

Eine dynamische Dramaturgie ist kein einfacher Trend, sie ist ein natürliches Empfinden, das Menschen nicht angedichtet wird, sondern mit Grundgesetzen der Wahrnehmung einhergeht. Wenn Sie hier dagegenarbeiten, dann müssen Sie schon genau wissen, wie. Und Sie benötigen einen sehr langen Atem, um Gesetzmäßigkeiten auszutesten, mit denen die ausgedehnte Zeit dennoch wieder funktioniert.

Trotzdem können Sie die Ausdehnung der Zeit als manipulatives Mittel einer Bewegungsfolge einsetzen. Sehen Sie sich eine Choreographie an, und versuchen Sie, Momente zu finden, in denen es funktioniert, die Zeit auszudehnen. Die Zeit lässt sich innerhalb einer Bewegung ausdehnen oder über ein ganzes Stück hinweg. Sie besitzen als Choreograph die fantastische Möglichkeit, die Wahrnehmung der Zeitempfindung des Zuschauers zu steuern. Jeder wird diese Stunde ein bisschen anders wahrnehmen, aber es wird etwas geben, das die Stunde schnell oder lang, aber trotzdem nicht langweilig empfinden lässt.

Die Frage, ob die Veränderungen sichtbar sind, trifft natürlich auch auf die Geschwindigkeit zu. Wenn etwas nur wirbelt, werde ich durch Überforderung keine Veränderungen mehr wahrnehmen, das Ganze „steht" mein Interesse wird verschwinden. Eine einzelne Bewegung verliert ihre Deutlichkeit; sie vermag keinen Reiz mehr auszuüben. Das ist, wie wenn Sie durch ein Maisfeld laufen: Ein einzelnes Blatt, das die Haut streift, werden Sie wahrnehmen. Werden Sie allerdings von 100 Blättern gleichzeitig gestreift, werden Sie Ihr Interesse kaum auf ein einzelnes Blatt lenken können.

Lassen Sie den Tanz loswirbeln, und stellen Sie in dem Moment, wo Sie als Zuschauer keine einzelne Bewegung mehr sehen, dem Tanz eine ganz ruhige Musik gegenüber; dann benutzen Sie den Tanz als schnelle EINHEIT, dem die Musik als langsame EINHEIT gegenübersteht. Damit ist das Prinzip der Visualisierung der Veränderung aufgehoben, und es entsteht ein Spannungsfeld zwischen Tanz und Musik, das sich verändert. Ein solches Spannungsfeld lässt sich über verschiedene Techniken herstellen, und es treten andere dramaturgische Gesichtspunkte in den Vordergrund. Überall dort, wo Sie diese anderen dramaturgischen Gesichtspunkte nicht anwenden können, werden Sie als Zeichen der Weiterentwicklung die einzelnen Reize der Bewegungen wahrnehmen. Wo sich diese Reize gegenseitig aufheben, wird die Zeit still stehen.

Ein für das Auge schneller werdender Reizimpuls treibt an, und alles wird schneller. Ab einer gewissen Geschwindigkeit aber lassen sich die Impulse nicht mehr voneinander trennen. Einzelne Bewegungen verschwimmen zu einem Feld. Alles scheint wieder langsamer zu werden, obwohl sich die Tänzer schneller bewegen. Damit wird deutlich, dass das „Sich-schnell-Bewegen" und das „Zeitempfinden beschleunigen" zwei verschiedene Dinge sind.


Spannung aus Kontrasten gegenüberliegender Einheiten


Choreographie - Handwerk und Vision

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