Читать книгу Choreographie - Handwerk und Vision - Konstantin Tsakalidis - Страница 27
Die Zeitspanne bis zum Wendepunkt
ОглавлениеUm in einer Situation einen Bruch, einen Kipppunkt, herstellen zu können, muss die Situation ausreichend aufgebaut sein. Stellen Sie sich eine Szene vor: Sie malen ein Bild und wollen demonstrieren, dass Sie ab einem bestimmten Zeitpunkt das Bild nicht mehr gut finden, indem Sie alles durchstreichen - egal, ob Sie etwas Abstraktes malen oder ein Gesicht. Das Malen muss sich vom Durchstreichen unterscheiden, sonst wird der Bruch nicht erkennbar. Es lässt sich nichts zerstören, was im Vorfeld nicht aufgebaut wurde.
Bevor eine Enge bedrückend wirken kann, müssen die Freiheit und Weite positiv erlebt werden und andere Gefühle, wie Angst vor dem Ungewissen, überwunden sein. Wenn Sie die Ordnung der Dinge stören möchten, müssen Sie diese zuerst herstellen. Für diesen Aufbau ist ein präzises Timing notwendig.
Kommt der Bruch oder Kipppunkt von einer Situation in die nächste zu früh, also bevor die Stimmung etabliert ist, funktioniert der Bruch nicht, weil der Zuschauer noch nicht so weit ist. Um ein Beispiel auf der Erzählebene zu geben: Eine Frau leidet unter der Untreue ihres Mannes, die sie nie wirklich beweisen kann, aber es verdichten sich die Hinweise. Sie erkrankt psychisch und hält es nicht mehr aus. Irgendwann explodiert sie. Das heißt, ein Bruch hat dann eine Maximalwirkung, wenn die Inszenierung den Zuschauer mitnimmt und die eintretende Veränderung zum Zeitpunkt der maximalen Identifikation des Zuschauers mit der Szene stattfindet - und zwar noch bevor sich der Zuschauer in der Szene ausruht.
Der Bruch wird an Wirkung verlieren, wenn nach dem Aufbau einer Stimmung die etablierte Szene zu lang in sich selbst ruht, weil der Zuschauer dann das Interesse verliert, und ihn die durch den Bruch ausgelöste Veränderung nicht mehr oder nur mehr wenig betrifft.
Das Phänomen des zu früh oder zu spät eintretenden Kipppunktes lässt sich in einer Erzählstruktur einfach nachvollziehen und kann ins Abstrakte übertragen werden. Mit derselben Achtsamkeit, die ein Erzähler dem Prozess von Aufbau, Einführung, Identifikation und Kipppunkt schenkt, kann auch der Aufbau einer reinen Bewegungsidee betrachtet werden.
Um mit Kontrasten, die sich über Brüche herstellen, Gefühle zu provozieren, um Spannung zu erhalten oder aufzulösen, gilt es, innerhalb des dramaturgischen Bogens die folgenden Komponenten mit einem sensiblen Blick auf das Timing zu überprüfen:
Dramaturgische Komponenten der Kipppunkte
Beispiel eines Spannungsbogens mit einem Wendepunkt
Der Zeitpunkt, an dem Sie eine Szene oder eine Idee als nicht mehr verfolgenswert empfinden, wird an einer anderen Stelle des Stückes liegen als bei Ihrem Zuschauer. Sie setzen sich zwangsläufig mit dem Stoff auseinander und haben daher dem Zuschauer gegenüber einen Vorsprung an generellem Interesse. Es ist daher ratsam, seine Sensibilität für Langeweile höherzuschrauben, um die Notwendigkeit für die Steigerung oder den Wendepunkt zu erkennen. Stellen Sie sich einfach vor, das Stück oder die Szene interessiert Sie jetzt nicht brennend, und schauen Sie zwischendurch wie beiläufig auf die Szene: Dabei merken Sie, wie und ob Sie dranbleiben.
Der Auslöser für einen Wendepunkt ist aber nicht durch die Tragfähigkeit der Szene definiert, denn das Verdichten des Geschehens löst jeweils den nächsten Wendepunkt aus. Nehmen wir als Beispiel die Frau aus der oben beschriebenen Szene. Es kommt zu einem Bruch, zu einer dramatischen Änderung, wenn es in einer bestimmten Form nicht mehr weitergeht, wenn sich eine Situation zuspitzt. Die Aufgabe ist nun, das Zuspitzen der Situation, den Prozess mit allen Facetten bis zum Wendepunkt hin zu erzählen, ohne sich darin auszubreiten. Ein Zustand, der sich nicht weiterentwickelt, wird vom Zuschauer als verstanden abgelegt. Ein stagnierender Zustand wird kein steigerndes Interesse auslösen. Habe ich als Zuschauer die Situation verstanden, will ich, dass es damit weitergeht. Bleibt die Situation stehen, verliere ich das Interesse. Würde ich diese Aussage in den nächsten Zeilen immer wieder auf verschiedene Weise wiederholen, würden Sie als Leser nicht mehr wissen wollen, wie es weitergeht. Behandle ich aber den Stoff zu oberflächlich, entsteht nicht genug Einblick, um Interesse am Fortgang zu schüren.
Will ich eine Bewegungsidee auf der Bühne etablieren, muss ich wissen, wann die Idee vom Zuschauer als verstanden eingeordnet wird, und ein Konzept entwickeln, mit dem ich weitergehe. Beispiel: Jemand will eine Eröffnungssituation choreographieren. Die Körper sind am Boden und sehr entspannt. Aus dieser Entspannung entsteht ein sehr organischer Fluss aus Bewegungen über den Boden. Weil dem Choreograph das Bild so gefällt und er mehr Material entwickeln kann, als es die Szene brauchen würde, entwickelt er das Bild nicht weiter, sondern breitet sich in diesem Anfangsbild aus. Die Folge ist, dass das Stück langweilig wird, bevor es richtig beginnt. Der Choreograph verliert den Zuschauer bereits in der ersten Szene, und es dauert lange, bis er einen Teil der Zuschauer wieder für sich gewinnen kann. Das Eintauchen in die Tiefe, das Ausloten der Situation, steht der Progression des Stückes entgegen.
Das In-die-Tiefe-Gehen steht der progressiven Entwicklung entgegen. Es braucht die Balance zwischen diesen beiden Komponenten.
Andererseits arbeitet eine zu rasch ansteigende Entwicklung des Stückes gegen die Verfolgbarkeit, weil sich der Betrachter nicht mehr mitgenommen fühlt. Das heißt, Stück und Zuschauer entfernen sich voneinander, weil die Stufen der Entwicklung zum Wendepunkt hin im Stück zu groß sind und vom Zuschauer nicht nachvollzogen werden können.
Um eine Fallhöhe für einen emotionalen Auslöser zu erreichen, müssen Sie sich immer wieder die Frage stellen: „Bin ich an dieser Stelle der Komposition bereit für den Kipppunkt?" Bei jedem Sehen des Stückes verändert sich der Blick. Sie wissen, was als Nächstes kommt, und Sie wissen, welchen Effekt Sie erwarten. Sie wissen, welches Gefühl Sie mit welchem Bild erzeugen wollen. So kann das häufige Sehen den Auslöser für den Kipppunkt zeitlich weiter nach vorne verlagern, weil die Ungeduld größer wird, oder zeitlich nach hinten, weil Sie immer mehr in der Szene erkennen, und weil Sie sich im Verlauf der Arbeit immer tiefer damit auseinandersetzen.