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Tabea - 3. Dezember 2020
Оглавление»Ich habe Ängste. Ängste, die mich auffressen! Es fühlt sich an, als wäre Angst die Materie, aus der mein ganzer Körper besteht, so präsent ist die Angst«, antwortete Tabea auf die Frage, warum sie eine Therapie beginnen wollte.
»Eigentlich hat Angst immer ein Ziel«, erklärte ihr Therapeut. »Einen Grund, eine Begründung, ein Wovor. Wovor haben Sie Angst?«
Die junge Studentin zuckte mit den Schultern.
»Ich habe Angst ... vor dem Nichts.«
»Dem Nichts?«
»J-ja ...«, stotterte Tabea. »Ich kann das nicht so gut beschreiben.«
Der alte Mann räusperte sich. Es war das dritte Mal, dass sie bei ihm war. Fünf Probesitzungen konnten sie machen, dann musste die Krankenkasse entscheiden, ob sie für eine Therapie die Kosten übernehmen würde. Herr Albert war der Einzige, der ihr zeitig einen Termin geben konnte, ohne dass sie ein halbes Jahr Wartezeit hatte. Der alte Mann mit der hohen Stirn hatte ein ... eigentlich wusste Tabea gar nicht, wie sein Gesicht vollständig aussah, da sie ihn bisher nur mit Mund-Nasen-Schutz gesehen hatte. Genau wie er ihr Gesicht noch nie gesehen hatte.
Sie waren mitten im Lockdown der zweiten Coronawelle. Die Welt stand kopf, doch Tabeas Leben stand noch viel mehr kopf.
Auf der Fahrt nach Hause, starrte die Studentin im Bus gedankenverloren aus dem Fenster. Diese Therapiestunde hatte ihr - mal wieder - kaum weitergeholfen. Ihr Leben war scheiße. Die Angststörung fraß sich durch ihre Organe und zerstückelte ihre Seele. Freunde hatte sie keine. Mit ihrer Familie hatte sie den Kontakt abgebrochen, seit sie vor einigen Monaten von zuhause ausgezogen war. Dank des Informatikstudiums und dem Bafög konnte sie sich eine kleine Wohnung leisten. Dort war sie endlich frei.
Aber das hatte ihre Ängste nicht weniger werden lassen. Wovor sie Angst hatte, hatte Herr Albert gefragt ... Wovor hatte sie keine Angst? Sie hatte Angst im Dunkeln, Angst vor Menschen, Angst vor öffentlichen Verkehrsmitteln, Angst, die Wohnung zu verlassen, Zukunftsängste, Versagensängste, Verlustängste.
Wobei die Verlustängste kein Problem darstellten, solange sie so einsam und ohne Freunde war. Doch die Angst davor, zu vereinsamen, war scheiße.
Gerade war es im Bus aber besonders schlimm. Es war zum Glück relativ leer, aber gleich würden sie am Kölner Hauptbahnhof vorbeifahren. Viele Leute würden einsteigen. Tabea steckte sich Kopfhörer in die Ohren, um sich davon abzulenken. Nur was sollte sie hören? Es gab keine neuen Folgen ihrer Lieblingspodcasts und Musik lenkte sie nicht genug ab. Aus purer Verzweiflung startete sie einen Nachrichtenstream.
»Soeben wurde vom Bundeskanzler ein neuer Kandidat für den Posten des Verteidigungsministers vorgeschlagen. Nachdem der ehemalige Verteidigungsminister Daniel Mor vor wenigen Tagen ...«
Die Stimme des Nachrichtensprechers stockte. War das Netz weg? Oder ihr Datenvolumen aufgebraucht? Nicht jetzt ...
Tabea aktivierte das Display und sah auf das Video. Der Nachrichtensprecher stand im Studio und hielt den Kopf gesenkt. Dabei zitterten seine Hände, die wenige Zentimeter über dem Tisch schwebten.
»D-daniel Mor ...«, stotterte der Nachrichtensprecher. Dann schüttelte er den Kopf. »Zum Wetter ...«
Das war seltsam.
Egal. Sie brauchte irgendetwas, dass sie ablenkte! Sie startete einen Podcast, den sie schon einmal gehört hatte.
Der Bus hielt und unzählige Menschen mit Masken stürmten hinein. Darunter eine Schulklasse von Kindern. Die waren für ihre Ängste am schlimmsten. Tabea zuckte bei jedem Schrei der Kinder zusammen und wurde daran erinnert, wie sie in der Schule früher gemobbt wurde. Fuck ...
Zehn endlose Minuten später hielt der Bus an ihrer Haltestelle. Erleichtert nahm sie die Maske ab, als sie draußen war.
Es war die Hölle. Jedes Mal, wenn Tabea ihre kleine Wohnung verließ, begann die Hölle. Doch auch innerhalb ihres Nestes war es schrecklich. Ihr Zuhause war ein Hort aus Einsamkeit und Tränen. Seufzend schlug sie die Wohnungstür hinter sich zu.
Ihr Zuhause hatte gerade einmal 25 Quadratmeter und bestand aus einer Küchenecke, einem winzigen Badezimmer mit viel zu kleiner Badewanne und einem Schlafzimmer. Hier verbrachte sie die meiste Zeit ihres Lebens. Meistens am kleinen Schreibtisch vor ihrem Laptop.
Aber jetzt starrte sie in den Spiegel, der neben der Tür an der Wand hing. Irgendetwas stimmte hier nicht. Tabeas Haut war völlig blass.
Verwundert zog sie sich die dicke Jacke und die Schuhe aus. Dann krempelte sie die Ärmel ihres Pullovers hoch. Auch dort war ihre Haut ungewöhnlich blass. Sie hatte zwar von Natur aus helle Haut, aber jetzt sah sie schon fast aus wie ein Albino.
Tabea machte die Vorhänge zu und zog sich dann den Pullover und ihr Top aus. Diese weiße Farbe war überall. Krass. Wie kam denn sowas?
Skeptisch beäugte sie sich. Tabea war recht klein und erreichte gerade einmal 1,55 Meter. Sie war schlank, hatte wenig Taille, aber dafür recht große Brüste. Ihr Gesicht war langweilig. Sie hatte schmale Lippen und Rehäuglein, die immer unsicher und hilfesuchend wirkten.
Eigentlich war sie ganz süß. Sie weckte bei den Kerlen den Beschützerinstinkt. Leider hatte sie sich noch nie getraut, sich mit jemanden auf eine Beziehung einzulassen. Sie war scheu und immer vorher geflohen. In der Schule hatte sie mal einen Jungen geküsst, aber sonst ... war sie eine bemitleidenswerte Jungfrau, die sich Freunde wünschte, aber ständig vor allen Menschen floh, die ihr nahekamen.
Wenn man so einsam war, war es besonders schlimm, dass man einfach niemanden hatte, mit dem man über Probleme reden konnte. Was sollte sie jetzt machen? Sollte sie zum Arzt gehen? Sie fühlte sich gut und die Praxen waren bestimmt schon alle mehr als ausgelastet. Sie wollte niemanden zur Last fallen.
Glücklicherweise litt sie (noch) nicht unter Hypochondrie. Aber - Ängste hin oder her - es war wohl vernünftig, sich darüber zu informieren. Tabea setzte sich an ihren Schreibtisch und fuhr ihren Laptop hoch. Dann suchte sie im Internet nach Ursachen von plötzlicher Verfärbung der Haut.
Zuerst fand sie die Weißfleckenkrankheit, aber das sah gar nicht so aus, wie das, was sie hatte. Ihre Haut war immer noch rein und normal, eben viel blasser. Albinismus? Das war etwas Angeborenes und trat nicht einfach so auf. Vielleicht hatte sie eine seltene Pigmentstörung?
Tabea wusste, dass es eigentlich nicht klug war, nach Symptomen im Internet zu suchen. Dort fand man immer unzuverlässige Aussagen, die einen verunsicherten. Aber das, was sie hatte, war recht spezifisch. Dazu musste sie doch etwas finden, oder nicht?
»Stigmatisierung/Kinder der Nacht«, war der Titel von einem Artikel, den sie fand. Kinder der Nacht? Das klang okkultistisch. Aber der Artikel war auf der Website ihrer Krankenkasse.
»Als Stigmatisierte oder Kinder der Nacht werden Menschen bezeichnet«, las Tabea laut für sich vor, »die eine plötzliche weiße Verfärbung ihrer Haut feststellen. Weitere Symptome sind eine schwarze Verfärbung der Haare, eine rote Verfärbung der Augen und Narben, die auf der Haut erscheinen. Die Verwandlung kann nur wenige Minuten dauern oder sich über mehrere Tage erstrecken. Seit dem Juni 2020 sind insgesamt 148 Fälle dokumentiert.«
Tabea stand wieder auf und ging zum Spiegel. Also Vampiraugen hatte sie noch nicht. Waren ihre langen Haare schwärzer als sonst? Sie hatte von Geburt an fast schwarze Haare, da war das schwer zu sagen.
Und was war das mit den Narben? Tabea zog sich den BH aus und die Hose runter. Dann suchte sie jede Stelle ihres Körpers ab.
Was war das auf ihrem rechten Oberschenkel? Drei Kreise waren dort auf der Haut erschienen. Sie sahen aus wie Brandnarben. Wo kam das denn her? Sie musste wirklich unter dieser komischen Stigmatisierung leiden.
Tabea bückte sich runter und kramte das Smartphone aus ihrer, auf dem Boden Liegenden, Hose. Dann rief sie bei ihrem Hausarzt an.
Das Freizeichen ertönte.
»Guten Tag«, sagte eine Stimme.
»H-hallo ich ...«, stotterte Tabea, bis sie unterbrochen wurde.
»Dies ist die automatische Bandansage der Praxis von Dr. Starr. Aufgrund der aktuellen Situation möchten wir Sie bitten, Termine online auf unserer Website zu beantragen. Sollten Sie akut Hilfe benötigen, begeben Sie sich bitte umgehend in die nächste Ambulanz.«
Fuck. Die waren wohl so beschäftigt, dass sie nicht mal mehr ans Telefon gehen konnten. Na gut. Tabea setzte sich an ihren Laptop, öffnete die Website und gab auf einer Benutzeroberfläche, die aussah wie aus den Neunzigern, ihre Daten ein. Dann bekam sie einen Termin für morgen um 16 Uhr. Das war noch echt lange hin ...
Bis dahin konnte sie zumindest ausnüchtern. So war es okay, wenn sie ihre Ängste mit etwas Alkohol betäubte. Tabea holte sich eine Flasche Wein aus dem Kühlschrank, setzte sich auf ihr Bett und ließ irgendeine Sitcom auf ihrem Laptop laufen.
Ohne Licht und ohne, dass sie jemanden reden hörte, konnte sie nicht schlafen. Auch mit, konnte sie eigentlich nicht schlafen. Eigentlich konnte sie sich gar nicht daran erinnern, jemals angstfrei geschlafen zu haben. Die Dunkelheit war furchtbar.
Na ja, doch. Wenn sie Alkohol trank, machte das die Angst ganz gut weg. Dafür kamen dann andere Gefühle hoch. Als sie die erste Hälfte der Flasche auf hatte, kamen die Tränen. Die Tränen darüber, wie beschissen ihr Leben war und dass sie Wein überhaupt brauchte, um ein paar Stunden frei von der Angst zu sein.
Generalisierte Angststörung bedeutete, dass man ständig Angst hatte und nicht wusste, wovor. Das war die schlimmste Form einer Angsterkrankung. Wenn man, wie Tabea, unter so vielen Ängsten litt, konvergieren alle diese Phobien in einem Monster, dass einem das Leben raubt.