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Tabea - 5. Dezember 2020
ОглавлениеMit mörderischen Kopfschmerzen wachte sie auf. Es tat so weh, dass sie die Augen nicht öffnen wollte. Heilige Scheiße, war das ein fürchterlicher Alptraum mal wieder gewesen. So schlecht hatte sie lange nicht mehr geschlafen. Als wollte das Universum nicht akzeptieren, dass sie sich bei einer Freundin wohl fühlte und sich einfach mal erholen wollte. Widerwillig öffnete sie die Augen und sah sich um. Die Sonne war bereits aufgegangen. Annette lag neben ihr und schien noch zu schl...
Sie war voller Blut und dort, wo ihr rechtes Ohr war, war nur eine riesige Blutpfütze.
»Oh mein Gott!!«, schrie Tabea und fasste ihrer Freundin an die Schulter. Dann drehte sie ihren Kopf langsam zu ihr. Sie fühlte sich warm an und schien noch zu atmen. »Annette? Kannst du mich hören?«
Tabea bekam keine Antwort.
»Ich ruf den Notarzt!«, sagte sie und nahm sofort ihr Handy in die Hand. Sie hatte nur noch 3% Akku. Ohne ihr Display aufwändig zu entsperren, machte sie Gebrauch von der Notfall-Funktion und wählte 1-1-2.
Nach wenigen Sekunden hörte sie ein Freizeichen und dann eine männliche Stimme.
»Notrufzentrale! Wo ist der Notfall?«
Sie sagte ihre Adresse und ihren Namen in das Telefon.
»Um was für einen Notfall handelt es sich?«
Tabeas Stimme klang panisch und stotternd.
»M-meine Freundin wurde angeschossen und am Kopf getroffen. Sie atmet noch aber ist bewusstlos!«
»Angeschossen? Sind Sie in Gefahr?«
Tabea sah sich in der Wohnung um. Das Badezimmer konnte sie nicht einsehen ...
»Ich glaube, der Fremde ist weg. Ich weiß nicht, wie er in meine Wohnung gelangt ist.«
»Der Krankenwagen ist sofort da. Die Polizei ist auch unterwegs.«
»Vielen Dank!«
Der Mann legte auf. Tabea stand auf und brachte Annette ganz vorsichtig, so wie sie es im Erste-Hilfe-Kurs gelernt hatte, in die stabile Seitenlage. Dann überprüfte sie noch einmal ihre Atmung. Scheinbar hatte der Schuss zum Glück keine Arterie getroffen, also würde sie nicht verbluten. Ihre ganze Matratze war voll mit Blut. Auch Tabeas Kleidung und ihr Gesicht waren voll davon.
Wurde sie nicht auch angeschossen? Beunruhigt tastete sie ihre Stirn ab. Dann spürte sie dort ... ein Loch. Ach du Scheiße! Sie rannte sofort in das Badezimmer und machte das Licht an. Im Spiegel sah sie, dass sie ein Einschussloch in der Stirn hatte. Man konnte ein paar Zentimeter weit hinein bis in ihr Gehirn sehen. Wie konnte sie das überleben? Natürlich wusste sie, dass es Menschen gab, die einen Kopfschuss überlebten, aber sie spürte nichts weiter als Kopfschmerzen.
Verwundert sah sie in die Wunde hinein. Dort bewegte sich etwas. Winzige rote Ranken, die aussahen wie kleine Äderchen, zappelten dort hin und her und verbanden sich. Dann wuchs um sie herum eine rote Masse. Tabea wurde klar, dass sie gerade in ihr Gehirn hineinsah. Fuck, war das creepy. Wie konnte sie überhaupt wissen, dass sie noch bei klarem Verstand war? Träumte sie das alles vielleicht sogar noch? Sie kniff sich in den Unterarm so fest sie konnte. Aua. Das hatte richtig weh getan. Konnte sie jetzt sicher sein, dass sie wach war?
Sie ging zurück zu Annette und sah sie an. Es wirkte alles sehr real, aber taten Träume das nicht immer?
Moment ... Tabea rannte noch einmal in ihr Badezimmer und sah sich im Spiegel an. Wegen der Schusswunde auf ihrer Stirn hatte sie die andere Auffälligkeit kaum mitbekommen. Ihre Augenfarbe hatte sich geändert. Die Studentin hatte blutrote Pupillen bekommen. Sie hätte diesen verdammten Artikel über Stigmatisierte bis zum Ende lesen sollen! Was passierte mit ihr? Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Wenn der Krankenwagen und die Polizei kamen, würden die ihr hoffentlich helfen können.
Da hörte sie schon die Sirenen. Tabea rannte zum Fenster und sah einen Krankenwagen und ein Polizeiauto vor ihrem Haus parken. Kurz darauf klingelte es. Die Studentin öffnete die Tür und rannte in das Treppenhaus.
Die Polizisten kamen zuerst hochgelaufen. Es waren direkt drei: zwei Männer und eine ältere Frau. Sie trugen schwarze Masken und Uniformen.
»Sind Sie Tabea Ritter?«, fragte der vordere Polizist und sah mit aufgerissenen Augen auf ihre Stirn. Tabea nickte.
»Oh mein Gott«, staunte die Polizistin und sah dann über das Treppengeländer nach unten zu den vermutlich folgenden Notärzten. »Die junge Frau hat eine Schusswunde am Kopf! Kommen Sie schnell!«
Die Polizisten rannten bis zu ihr hoch. Dann folgten zwei Rettungssanitäter.
»Meine Freundin wurde auch angeschossen und ist bewusstlos!!«, rief Tabea verzweifelt. »Sie liegt auf dem Bett.«
Die Polizistin nickte und deutete ihren beiden Kollegen und einem der Sanitäter an, in die Wohnung zu gehen. Der andere Sanitäter, ein junger Mann mit roter Hose, weißem Hemd und weißem Mundschutz fasste sie am Kinn an und leuchtete mit einer kleinen Lampe in ihre Augen. Dann sah er skeptisch auf ihre Wunde. Tabea ließ sich untersuchen.
Die Polizistin stellte sich neben ihn und starrte die Studentin mit irritiertem Blick an.
»I-ich habe eine Pigmentstörung oder so«, erklärte sie beiläufig.
Der Sanitäter fasste ihr Handgelenk an und schaute dann auf seine Uhr. Er wollte wohl kurz ihren Blutdruck schätzen. Als er damit fertig war, leuchtete der mit der kleinen Lampe auf ihre Stirn.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte er verwundert.
»Ich habe nur etwas Kopfschmerzen.«
»Wie können Sie mit dieser Wunde überhaupt noch sprechen und herumlaufen?«
Tabea wusste nicht, was sie darauf antworten sollte.
»Kann die Wunde überhaupt echt sein?«, fragte die Polizistin. Bitte nicht schon wieder ihr Imposter Syndrome triggern ...
»Die Kugel ist tief eingedrungen«, erklärte der Sanitäter. »Das wird eine schwierige Operation, um sie wieder zu entfernen. Wir müssen Sie sofort ins Krankenhaus bringen!«
Oh Fuck. Hoffentlich war das wirklich nur ein Traum, denn eine Gehirn-OP wollte sie nicht so gerne durchleben müssen.
Die Polizistin stützte Tabea am Arm - obwohl sie problemlos alleine laufen konnte - und brachte sie hinaus. Die Sanitäter trugen Annette auf einer Trage vorsichtig die Treppen hinter ihnen her.
Als sie in den Krankenwagen einsteigen wollten, sprach die Polizistin noch mit einem der Notärzte. Dann ging sie auf Tabea zu.
»Können Sie uns sagen, was passiert ist?«, fragte sie. Tabea atmete tief durch. Sie musste es so erzählen, dass es nicht gelogen war, aber sich nicht so creepy anhörte.
»Annette wollte bei mir übernachten. Wir haben auf dem Laptop eine Serie geschaut. Als die Folge vorbei war und der Laptop dunkel wurde, ist ein fremder Mann vor dem Bett aufgetaucht und hat mit einer Pistole zuerst auf meine Freundin und dann auf mich geschossen.«
Die Polizistin hatte einen Notizblock herausgeholt und schrieb alles auf, was sie sagte.
»Können Sie den Mann beschreiben?«, fragte sie.
»E-er trug schwarze Kleidung ...«, stotterte Tabea. »Er war groß. So 1.90. Er hatte blasse Haut.«
Dass er kein Gesicht hatte, sollte sie vielleicht nicht erwähnen. Oder doch? Fuck ... Sie wollte nicht, dass man sie für verrückt hielt. Sobald Annette wieder bei Bewusstsein war, konnte sie das ja erklären.
Tabea war unheimlich froh, dass sie nicht tot war. Hoffentlich wachte sie bald wieder auf. Die Polizistin nickte, bedankte sich und wünschte ihr gute Besserung. Dann schlossen sich die Türen des Krankenwagens. Annette lag auf der großen Liege. Die Informatikstudentin setzte sich auf einen freien Platz und schnallte sich an.
»Wird sie wieder aufwachen?«, fragte sie besorgt.
Der Sanitäter nickte.
»Die Kugel hat ihren Kopf nur gestreift«, erklärte er. »Das blutet zwar stark, aber das wird wieder.«
Sie behandelten Annette weiter, während der Wagen fuhr. Für Tabea wurde die Situation zunehmend surreal. Je länger die Fahrt dauerte, desto mehr hatte sie das Gefühl, dass das hier kein Traum war. Es wirkte alles echt.
Im Traum etwas zu lesen war unmöglich, oder nicht? Tabea holte ihr Smartphone aus der Hosentasche. Nur noch 2% Akku. Sie entsperrte es und öffnete den Browser. Für sie war es kein Problem, einen Artikel über das aktuelle Pandemiegeschehen zu lesen. Angst stieg in ihr auf. Das konnte doch nicht etwa die Wirklichkeit sein?
Die Studentin versuchte, sich genau zu konzentrieren. Sie war bei klarem Verstand, konnte im Kopf die Fibonacci-Folge mal eben bis 610 aufsagen und spürte nichts weiter als starke Kopfschmerzen. Sie erinnerte sich an den Mann, der vor einigen Stunden erst in ihrer Wohnung erschienen und auf sie geschossen hatte. Wie war so etwas möglich? Der Fremde musste sie gestalkt, ihre Alpträume gekannt und sich entsprechend vorbereitet haben. Aber wie konnte er in ihre Wohnung kommen, ohne dass sie etwas davon mitbekam? Professionelle Einbrecher waren wahrscheinlich so leise.
Scheiße. Sie hatte einen Stalker, der sie umbringen wollte. Was für ein krasses Glück hatte sie überhaupt, dass sie noch am Leben war?
Im Augenwinkel fiel Tabea eine Headline auf, die auf der Nachrichtenseite auf ihrem Smartphone, das sie immer noch in der Hand hielt, als Breaking News gekennzeichnet war.
+++ EILMELDUNG +++ 17 Tote durch giftigen Hagelregen in Köln +++ EILMELDUNG +++
What the Fuck? Tabea tippte den Artikel an und las.
»Gestern, am 2. Dezember 2020, kam es in Köln zu einem merkwürdigen Wetterereignis, bei dem mindestens 17 Menschen gestorben und mehrere Dutzend verletzt worden sind. Ein schwarzer Hagelregen, dessen Ursprung selbst Experten ein Rätsel ist, löste auf der Haut der Betroffenen sofort starke Verbrennungen aus. Die Behörden raten allen Menschen in Köln und im Umkreis, in ihren Wohnungen zu bleiben, bis eine Entwarnung gegeben werden kann.«
Dann fuhr das Smartphone herunter. Der Akku hatte den Geist aufgegeben. So ein Mist!
Kurz darauf hatte der Wagen das Krankenhaus erreicht. Zum Glück fuhren sie in eine große Garage, so dass sie vor weiterem Regen sicher waren. Ob die Sanitäter sich dieser Gefahr schon bewusst waren?
Die Sonne war inzwischen aufgegangen. Im Krankenhaus wollte Tabea nicht von Annette getrennt werden. So kamen sie zunächst auf dasselbe Zimmer. Eine Ärztin untersuchte staunend ihre Schusswunde. Wenigstens musste sie dieses Mal nicht stundenlang warten, bis sie behandelt wurde.
»Überhaupt keine Blutungen«, staunte eine Ärztin mit einem Kopftuch, die Tabeas Stirn mit hellblauen Gummihandschuhen abtastete. Sie hatte bereits einen Sehtest und verschiedene Reaktionstests gemacht.
»Die Kopfschmerzen sind auch schon fast wieder weg«, erklärte die Studentin. »Müssen wir die Kugel überhaupt rausholen?«
»Sofern das möglich ist«, sagte die Ärztin und begann damit, einen Verband um ihre Stirn zu legen. Tabea fand sie viel netter als die anderen und fühlte sich bei ihr irgendwie gut aufgehoben. Sie erinnerte sie an ihre Kinderärztin, die ihr damals immer Süßigkeiten gab, nachdem sie eine Spritze bekam.
»Sie sind ein Albino?«, fragte die Frau. Tabea schüttelte den Kopf.
»Das ist erst seit vorgestern so. Die roten Augen sind heute morgen dazugekommen.«
»Wie ...«, sagte sie verwundert. »Wie soll das denn möglich sein?«
Die Studentin zuckte mit den Schultern.
»Ich war gestern bei meinem Hausarzt«, sagte sie. »Der hat mich zu einem Hautarzt überwiesen.«
»Ja, aber das erklärt doch nicht die roten Augen.«
Tabea seufzte. Sie atmete tief ein und wieder aus, um sich zu beruhigen. Doch paradoxerweise wirkte die Atemübung ganz anders. Es war, als wäre ein Damm aufgebrochen. Auf einmal flossen Tränen aus ihren Augen.
»Ich habe auch keine Erklärung«, wimmerte sie schluchzend und wischte sich die Tränen weg, die schon von ihrem Kinn tropften. »Meine Haut ist weiß wie Schnee, meine Augen sind rot, Jemand hat mir in den Kopf geschossen und von oben fällt giftiger schwarzer Hagelregen. Ich habe keine Ahnung warum. Ich habe eine Angststörung und mache mir ständig Sorgen, ob Leute mich für eine Hochstaplerin oder Lügnerin halten. Wenn Sie mich für eine halten, dann gehe ich lieber sofort. Ich halte das nicht mehr aus!«
Sanft strich die Ärztin ihr über den Arm und sah sie mitleidig an.
»Ich glaube Ihnen«, sagte sie mit warmer Stimme. Dann reichte sie ihr ein Taschentuch. »Wir finden schon heraus, was mit Ihnen passiert ist.«
»Aber was kann das denn sein?«, schluchzte sie und wischte sich verzweifelt die Tränen weg.
»Manchmal treten ungewöhnliche Ereignisse gleichzeitig ein. Das ist dann trotzdem einfach nur Zufall. Das ist kein Beweis, dass es einen Zusammenhang gibt. Für jede dieser Sachen gibt es wahrscheinlich eine ganz eigene Erklärung.«
»Aber wie wahrscheinlich ist das denn, dass das alles nur Zufall ist?«
Die nette Ärztin legte eine Hand auf ihre Schulter und blickte sie mit Augenlächeln an. Natürlich trug sie auch einen Mundschutz.
»Es ist unwahrscheinlich. Aber immer noch wahrscheinlicher, als dass du dich in einen Vampir verwandelst, der mühelos einen Kopfschuss wegsteckt und es regnen lassen kann. Oder sind dir auch Fangzähne gewachsen.«
Tabea fühlte zur Sicherheit mit der Zunge an ihrer oberen Kauleiste nach. Dann schüttelte sie den Kopf.
»Na, siehst du«, erklärte sie. »Jetzt müssen wir ...«
Ein lautes Stöhnen unterbrach sie. Die Ärztin lief sofort zu Annettes Bett. Die Biologiestudentin richtete sich mit verschlafenem Blick auf.
»Wo bin ich?«, fragte sie benommen. Sie hatte eine Infusion erhalten und war bereits an einer Menge Kabel angeschlossen, die Herzfrequenz und ... andere Sachen die Tabea nicht kannte, maßen. Tabea stürmte sofort zu ihr.
»Gehst es dir gut?«
»Wo bin ich«, wiederholte sie nur und sah sich müde um.
»Alles okay«, sagte die Ärztin. »Du bist in der Notaufnahme.«
Annette hatte einen fetten Verband um ihr getroffenes Ohr. Wie das wohl aussehen würde, wenn es verheilt war? Die Arme ...
»Im Krankenhaus ...«, stöhnte sie leise.
»Ja«, sagte Tabea und nahm ihre Hand.
»Da war dieser Mann«, murmelte sie. »Hat ... hat er auf mich geschossen?«
In diesem Moment hörten sie einen lauten Knall, gefolgt von einem Schrei.
»Hilfe!!«, schrie eine weibliche Stimme irgendwo aus dem Flur. Verwundert sahen alle zur verschlossenen Tür des Krankenzimmers.
Dann hörten sie weitere Schüsse. Tabea rutschte das Herz in die Hose. Ihr Mund klappte auf. Sie sah, wie die Ärztin und auch Annette leichenblass wurden. Vor Angst waren sie wie versteinert.
Weitere Schüsse folgten. Bei jedem Knall zuckten sie zusammen. Tabea ging erschrocken einen Schritt zurück. Scheiße. Das musste wieder dieser Mann sein. Die Ärztin ging rückwärts, bis sie an der Wand stand. Dann sank sie zitternd auf den Boden. Annette sah nur geschockt zur Tür, die immer noch verschlossen war. Wer immer da im Flur mit der Pistole um sich schoss, konnte nicht weit entfernt sein.
»Polizei!«, rief eine laute männliche Stimme. »Lassen Sie die ...«
Er wurde von einem weiteren Knall unterbrochen. Die nächsten Schüsse hörten sie aus der anderen Richtung, wenn Tabea das richtig lokalisieren konnte.
»Fuck ...«, flüsterte Tabea und drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Sie sah sich im Raum um. Es gab ein Fenster und sie waren im Erdgeschoss. Aber Annette konnte in ihrem Zustand unmöglich herausklettern.
Trotzdem! Tabea rannte zum Fenster und öffnete es. Dann sah sie zu der Ärztin.
»Gehen Sie!«, befahl sie ihr. »Ich bleibe bei Annette!«
Sofort stand sie auf und rannte zu ihr. Sie stieg auf das Fensterbrett und hielt sich am Fensterrahmen fest. Kurz bevor sie nach unten stieg, sah sie zurück zu ihr.
Sie zögerte. Die junge Ärztin schwitzte und zitterte am ganzen Körper, aber sie wollte sie wohl nicht einfach alleine los.
»Los!«, forderte Tabea.
Dann hörte die Studentin, wie die Tür aufgerissen wurde. Ein lauter Knall folgte und die Ärztin wurde am Kopf getroffen. Ein Schwall von Blut schoss auf der anderen Seite ihres Kopfes heraus und der leblose Körper fiel nach vorne über. Auf dem Fensterbrett wurde er gebeugt und die tote Frau fiel kopfüber hinaus.
Tabea und Annette begannen wie kleine Mädchen panisch zu schreien und sahen zur Tür. Dort stand es! Das Wesen, mit der pechschwarzen Kleidung, der Kapuze und der schneeweißen Haut. Dort, wo das Gesicht sein sollte, die Augen, der Mund, die Nase, war einfach nur Haut. Es sah fürchterlich gruselig aus. Doch dieses Mal wirkte die Gestalt weiblich. Sie war etwas Kleiner als der Mann, der in ihre Wohnung eingebrochen war.
Es gab mehrere? Heilige Scheiße!
Die gesichtslose Frau richtete die Pistole auf Tabeas Kopf. Okay, sie war tot. Zwei Kopfschüsse in Folge überlebte niemand!
Ein lauter Knall folgte. Dann noch einer und noch einer. Insgesamt fünf Schüsse wurden abgefeuert, dann brach die fremde Frau vorne über zusammen.
Der Polizist, der ihr in den Rücken geschossen habe, stürmte in den Raum hinein und sah Tabea mit aufgerissenen Augen an.
Kurz ging eine Welle der Erleichterung durch ihren Körper. Vielleicht würde sie diesen Tag ja doch noch überleben. Dann sah sie sich das Gesicht des Beamten an und erstarrte.
»Hallo?«, rief der Polizist laut in sein Funkgerät. »Ich wiederhole: Schießerei im Krankenhaus! Es gibt Verletzte und Tote. Ich brauche sofort alle Einheiten hier!«
Von draußen hörten sie weitere Schüsse. Peng! Peng! Peng!
Der Polizist drehte sich erschrocken um und richtete seine Pistole auf die Tür. Einen Moment lang war es ganz ruhig. Martinshörner tönten in der Ferne.
Der Beamte schloss die Tür und schob ein leeres Bett davor. Dann drehte er sich wieder zu Tabea um. Die Studentin ging einen Schritt auf ihn zu und runzelte die Stirn. Ihr Mund stand leicht offen.
»S-sie ...«, stotterte sie. »Rote Augen und kreidebleiche Haut?«
»Das selbe könnte ich dich fragen!«, sagte der Mann. Er setzte den Mund-Nasen-Schutz ab und zeigte sein schneeweißes Gesicht. Der Polizist sah aus wie Ende 20, hatte ein kantiges Gesicht, einen Drei-Tage-Bart und wirkte sehr selbstbewusst und muskulös.
»B-bei mir hat das vorgestern angefangen ...«, stotterte die Studentin.
Dann hörten sie wieder Schüsse.
»Egal!«, sagte der Polizist und ging zum offenen Fenster. »Wir müssen hier verschwinden!«
»Aber meine Freundin ...«
»Kannst du laufen?«, fragte der Mann Annette. Diese nickte und stand langsam auf. Tabea legte ihren rechten Arm um ihre Schulter und stützte sie. »Dann los!«
Gemeinsam halfen sie der Verletzten durch das Fenster auf die Wiese, vor dem Krankenhausgebäude. Fuck ... Nicht auf die Leiche sehen! Nicht auf die Leiche sehen!
Als sie draußen waren, stützte Tabea ihre Freundin wieder und sie folgten dem Polizisten, der mit geladener Pistole in der Hand vorausging. Er warf einen Blick in jede Richtung und bewegte sich leicht geduckt an der Hauswand entlang.
Vorsichtig warf er einen Blick um eine Ecke. Dann drehte er sich um, nickte Tabea zu und ging weiter. Hinter der Ecke kamen sie an einen kleinen Parkplatz, wo ein Streifenwagen stand. Der Beamte entriegelte die Türen mit seinem Schlüssel und half Annette auf die Rückbank. Sofort lief Tabea um den Wagen herum und stieg auf der anderen Seite hinten ein. Der Polizist setzte sich an das Lenkrad, schloss die Tür und startete den Motor.
Tabea saß schräg hinter ihm, als er losfuhr. Zuerst fuhr er im Rückwärtsgang eine Kurve und dann mit Vollgas vom Gelände des Krankenhauses herunter auf die Straße. Als das Krankenhaus nicht mehr in Sichtweite war, schaltete er das Blaulicht und die Sirene an. Die anderen Fahrzeuge machten sofort Platz und sie fuhren mit 70 Sachen über rote Ampeln durch die Innenstadt.
»Was geht hier vor?«, fragte Tabea mit verzweifelter Stimme. »Wer sind Sie?«
»Keine Sorge! Ich bin Polizist«, sagte er. Dann schüttelte er den Kopf. »Mein Name ist Adrian. Als ich im Polizeifunk gehört habe, dass es noch jemanden mit kreidebleicher Haut und roten Augen gibt, bin ich sofort zum Krankenhaus gefahren.«
»Sie sind wegen mir gekommen?«
»Als ich heute morgen aufgewacht bin, sah ich so aus und konnte mir das nicht erklären, aber im Internet habe ich etwas gefunden.«
»Kinder der Nacht!«
»Ja! Aber jeder, den ich darauf ansprach, schien plötzlich einen Anfall zu bekommen und dann, als wäre nichts geschehen, das Thema zu wechseln.«
Adrian klang völlig aufgebracht. Er steckte wohl in der gleichen Situation wie sie. Nur hatte er wenigstens keine Angststörung.
Aber war er damit wirklich besser dran? Tabea konnte sich daran erinnern, dass sie einmal überfallen wurde. Ein Mann hatte sie auf dem Nachhauseweg mit einem Messer bedroht und ihr ihr Smartphone und ihr Bargeld abgenommen. Trotz ihrer Angststörung blieb sie in dieser Situation merkwürdig ruhig und besonnen. Sie hatte zwar Angst, Panik sogar, doch stellte sie verwundert fest, dass diese Angst nicht stärker war, als die, mit der sie ohnehin tagtäglich zu kämpfen hatte. Ihre Ängste waren einfach immer auf hundert Prozent und da konnte ein bewaffneter Raubüberfall sie kaum noch beeindrucken.
Auch in dieser Situation hatte sie natürlich Angst, aber sie konnte einen kühlen Kopf bewahren. Nicht so Annette. Sie starrte die ganze Zeit nur geradeaus und wirkte, als hätte sie einen Geist gesehen. Sie stand unter Schock.
»Du hast gesagt, bei dir hätte das schon vor zwei Tagen angefangen«, sagte Adrian. »Weißt du, was hier los ist?«
»Nein.«
Mehrere Einsatzwagen der Polizei fuhren auf der anderen Straßenseite in die entgegengesetzte Richtung. Auch sie hatten Blaulicht an. Der normale Autoverkehr war vollständig zum Erliegen gekommen.
»Adrian!«, sagte eine Stimme aus dem Funkgerät. Tabea konnte den Mann bei der schlechten Verbindung kaum verstehen. »Bist du in Sicherheit?«
»Ich melde mich später!«, antwortete der Polizist und stellte das Funkgerät aus. Dann warf er es auf den Beifahrersitz und gab noch mehr Gas. Beunruhigt stellte Tabea fest, dass er inzwischen 80 Kilometer pro Stunde fuhr. Die Straße vor ihm war völlig frei.
Dann fing Annette an zu schreien. Erschrocken zuckte die Informatikstudentin zusammen und sah zur Seite. Ihre Freundin kniff die Augen zu, hielt sich die Hände an den Kopf und schrie laut los. Annette holte dazu immer wieder tief Luft und schrie dann erneut jeweils fast eine halbe Minute am Stück ein lautes Kreischen.
»Verdammt!«, fluchte Adrian. »Du musst sie irgendwie beruhigen!«
»Wie soll ...«, Tabea wurde durch einen weiteren Schrei unterbrochen. Annette drehte völlig durch und schlug wild mit den Händen um sich. Verzweifeltet versuchte Tabea, sie an den Unterarmen zu packen und festzuhalten. »Wie soll ich sie beruhigen? Sie hat gerade mitangesehen, wie jemand erschossen wurde und ...«
Wieder schrie Annette laut los. Tabea nahm all ihre Kraft zusammen und packte ihre Hände. Dann kam sie nah an sie heran.
»Es ist alles gut!«, sagte sie, als Annette wieder Luft holen musste. »Du bist in Sicherheit!«
Annette sah sie mit weit aufgerissenen Augen an. Sie schwitzte am ganzen Körper. Diese Panikattacke, die sie gerade durchmachte, war viel krasser als alles, was Tabea kannte. Holy Shit.
»Ich bin bei dir, hörst du? Ich passe auf dich auf. Wir sind in einem Polizeiauto mit einem Polizisten. Hier wird dir niemand etwas tun! Wir stehen das jetzt zusammen durch.«
Die Biologiestudentin nickte hektisch und sah Tabea dabei direkt an. Dann atmete sie schneller und schneller. Scheiße. Sie begann zu Hyperventilieren!
Als hätte sie einen Asthmaanfall, begann sie laut einzuatmen. Tabea sah ihr an, dass sie kaum Luft bekam.
»Ruhig atmen!«, rief Adrian von vorne, der immer schneller im Slalom durch die Autos auf der großen Hauptstraße fuhr. »Wir sind fast da!«
»Wo fahren Sie uns hin?«, fragte Tabea und hielt dabei weiter fest die Hände von ihrer Freundin.
»Erstmal zu mir nach Hause.«
Adrian bremste und bog in eine Seitenstraße ein. Dann parkte er vor einem großen Mehrfamilienhaus und stellte den Motor ab. Tabea sah Annette wieder an.
»Wir steigen jetzt aus, okay? Ich bin die ganze Zeit bei dir.«
Ihre Freundin sagte nichts und nickte nur. Die Panik stand ihr immer noch ins Gesicht geschrieben. Adrian entriegelte die Türen, stieg aus und öffnete die Tür von Annette. Vorsichtig verließ sie den Wagen. Tabea folgte ihr.
In dieser Seitenstraße, nicht weit von einer sechsspurigen Hauptstraße entfernt, waren sie von vier bis fünf Stockwerke hohen Altbauten umgeben. Adrian hatte seine Waffe gezogen und auf den Boden gerichtet. Skeptisch sah er sich um. Nirgendwo waren Menschen. Sie waren wegen des Giftregens von gestern wohl alle in ihren Wohnungen.
»Los!«, rief Adrian und ging flink zwischen den parkenden Autos zu einer Haustür. Tabea stützte ihre Kommilitonen und folgte ihm, so schnell es ging. Der Polizist schloss die Tür mit seinem Schlüssel auf und winkte die beiden Frauen hinein.
Sie gingen nur ein paar Meter in das Treppenhaus hinein, dann blieb Adrian vor der ersten Wohnungstür auf der rechten Seite stehen und entriegelte diese.
»Alles gut«, sagte Tabea nebenbei zu Annette, die sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. »Wir haben es fast geschafft.«
Der Polizist öffnete die Tür. Dann trugen sie gemeinsam Annette durch einen kleinen Flur in ein Wohnzimmer und setzten die verletzte Studentin auf einem großen Sofa ab. Sofort danach zog Adrian die Vorhänge zu und verriegelte alle Türen. Tabea setzte sich neben ihre Freundin und hielt ihre Hand.
»Gibt es schon etwas in den Nachrichten?«, fragte der Beamte, als er wieder in das Wohnzimmer kam.
»Mein Handyakku ist leer«, erklärte Tabea. Adrian nahm eine Fernbedienung vom Couchtisch und schaltete den großen Flachbildfernseher gegenüber vom Sofa ein. Sofort sahen sie eine Nachrichtensendung. Die Laufschrift am unteren Bildschirmrand verriet ihnen bereits alles.
+++ Terroranschlag in Köln +++ Mehrere bewaffnete Täter greifen Krankenhaus an +++ Mehrere Tote und Verletzte +++
»... haben wir zu der Lage vor Ort leider noch kaum Informationen. Die Polizei ist mit einem Großaufgebot aufmarschiert, hält sich mit offiziellen Angaben aber noch zurück«, sagte die Nachrichtensprecherin im Studio der Livesendung. »Auch über die Motive der Terroristen haben wir noch keine Kenntnisse.«
Adrian schaltete die Nachrichten auf stumm und lehnte sich erschöpft gegen die Wand. Dann atmete er kurz durch und massierte seine Schläfen.
»Was passiert jetzt?«, fragte Tabea.
»Ich weiß es nicht ...«, erklärte er. »Es ist alles ... merkwürdig unmöglich.«
»Merkwürdig unmöglich«, wiederholte die Studentin.
»Wie heißt du überhaupt?«
»Tabea Ritter«, antwortete sie. »Meine Kommilitonin heißt Annette.«
»Und du kannst mir auch nicht sagen, warum ich heute morgen mit diesem Aussehen aufgewacht bin?«
»Ich habe nur diesen Artikel über Stigmatisierte ... oder Kinder der Nacht überflogen«, stotterte die Informatikstudentin und schaute dann, ob Adrian bei der Erwähnung dieser Begriffe ebenfalls einen Zitteranfall bekam. Doch abgesehen davon, dass er völlig erschöpft aussah, wirkte er normal. Annette schien eingeschlafen zu sein.
»Kinder der Nacht ...«, wiederholte der Polizist seufzend. »Ich habe noch etwas sehr ungewöhnliches gefunden.«
Adrian ging auf die andere Seite des Zimmers zu einigen Kartons in der Ecke. Erst jetzt fielen Tabea die vielen Umzugskartons auf, die noch nicht ausgepackt waren. Der Polizist öffnete den obersten Karton und nahm einen Schnellhefter heraus. Dann reichte er diesen Tabea.
Die Studentin nahm den Hefter und las die erste Seite durch.
»Ein Arbeitsvertrag?«, fragte sie verwundert.
»Ja. Als Bodyguard.«
»Bundesministerium für Verteidigung«, las sie mit verblüffter Stimme vor. »Du warst persönlicher Bodyguard des Verteidigungsministers?«
Tabea hoffte, dass es okay war, dass er den Polizisten jetzt auch mit Du ansprach.
»Nein! Jedenfalls erinnere ich mich nicht daran. Ich war Polizist in Berlin und es ist nie etwas ungewöhnliches passiert, bis sich auf einmal irgendein Fehler mit meinem Arbeitsvertrag ereignet hatte. Die einzige Lösung der Buchhaltung war, dass ich einen neuen Arbeitsvertrag bekam. Dadurch hatte ich die Chance, vor einer Woche endlich unkompliziert nach Köln zu ziehen, wo meine Familie wohnt. Denen war es egal, bei welcher Einheit der neue Vertrag aufgesetzt wurde.«
»Verteidigungsminister Daniel Mor«, las Tabea laut vor und stockte. Diesen Namen hatte der Nachrichtensprecher in dem Stream gesagt, bevor er auch so einen Anfall bekommen hatte.
Adrian holte einen Laptop aus einem der Kartons und setzte ihn auf dem Tisch ab. Krass. Er wohnte seit einer Woche hier und hatte seinen Laptop noch nicht ausgepackt? Das hätte Tabea als Erstes getan. Nach etwas Suchen fand Adrian auch das Netzteil, versorgte das Notebook mit Strom und schaltete ihn an. Er setzte sich neben Tabea und öffnete den Browser.
Annette lag direkt hinter den beiden und schien zu schlafen. Die Arme war völlig fertig mit den Nerven.
»Daniel Mor«, sagte Adrian laut, als er den Namen in das Suchfeld der Suchmaschine mit der Ente eingab. Ein ganzer Haufen von Suchergebnissen war die Folge. Ganz oben war ein Artikel auf Wikipedia. Rechts vom Text sahen sie ein Foto eines Anzugträgers, Mitte 30, mit kreidebleicher Haut, schwarzen Haaren und roten Augen.
»Daniel Mor ist ein Berliner Politiker und der amtierende Verteidigungsminister der Bundesrepublik Deutschland«, las der Polizist vor. »Amtierend? Ich dachte der Posten wird gerade neu besetzt.«
»Warte!«, sagte Tabea und legte ihre Finger auf das Trackpad. Dann tippte sie auf den Button »Versionsgeschichte«.
»Der Artikel wurde seit einem Monat nicht mehr aktualisiert«, stellte die Informatikstudentin fest.
»So ungenau ist Wikipedia sonst nicht, oder?«
Tabea schüttelte den Kopf und las weiter vor.
»Während der Verschmelzung verwandelte Daniel Mor sich zu einem Kind der Nacht, womit er der erste Verwandelte innerhalb des Bundeskabinetts wurde.«
»Verschmelzung?«, fragte Adrian verwirrt. »Wurde der Artikel von Internettrollen umgeschrieben?«
»Ich glaube nicht«, sagte Tabea und klickte auf den Hyperlink, der auf den Wörtern »Kind der Nacht« lag. Er führte zu einem anderen Artikel.
»Kinder der Nacht ist die selbstgewählte Bezeichnung für einen von der Wissenschaft noch völlig unverstandene Veränderung des menschlichen Körpers, bei der die Betroffenen bleiche Haut, schwarze Haare, rote Augen und Narben bei sich feststellen. Seit dem Juni 2020 sind insgesamt 148 Fälle dokumentiert. Die Betroffenen litten vorher ausnahmslos alle unter einer Angsterkrankungen, scheinen sonst jedoch keine Gemeinsamkeiten aufzuweisen. Die Ängste der Kinder der Nacht manifestieren sich als reale Ereignisse, wodurch es im Jahr 2020 zu gewaltigen Katastrophen kam.«
»Katastrophen?«, fragte Adrian verwirrt. »Habe ich etwas verpasst?«
»Meine Ängste manifestieren sich ...«, stotterte die Studentin und musste sofort an die Gestalten aus ihren Alpträumen denken. »Diese Wesen, die Annette angeschossen haben und im Krankenhaus um sich schießen ...«
Adrian scrollte den Artikel weiter herunter. Er war irrsinnig lang. Über Kinder der Nacht gab es Haufen an Informationen, Bildern und Videomaterial.
»Tristan Giese?«, las Adrian vor. »Der Sohn von Florentin Giese ist ein Kind der Nacht? Moment ...«
Adrian öffnete den Artikel zu Florentin Giese, dem Vorsitzenden der rechtspopulistischen Partei »Neue Rechte«. Tabea hatte Angst vor diesem Mann, seit er gefordert hatte, dass man Menschen mit einer psychischen Erkrankung nicht behandeln, sondern wegsperren sollte. Er war ein furchtbares Arschloch, hatte jedoch bei einigen Bevölkerungsschichten eine gewisse Beliebtheit.
»Da!«, sagte Adrian und zeigte auf das Wort »Kinderlos«, bei der Beschreibung des rechten Politikers.
»Zwei Wikipedia-Artikel widersprechen sich«, stellte Tabea fest. Adrian schloss den Tab und überflog weiter den Beitrag zu den Kindern der Nacht.
»Neuwahlen?«, las Adrian überrascht vor und markierte einen Absatz über eine Bundestagswahl im November 2020.
»Davon habe ich gar nichts mitbekommen«, sagte Tabea.
»Die gab es auch nicht«, protestierte Adrian. »Die nächsten Bundestagswahlen sind noch lange hin.«
Er klickte auf den Link zum Ergebnis dieser vorgezogenen Wahlen. Die Partei »Neue Rechte« schien dabei den Einzug in das Parlament verpasst zu haben. Dafür gab es eine neue Fraktion.
»Partei für Humanistischen Fortschritt«, las Tabea vor und runzelte die Stirn. Davon hatte sie noch nie etwas gehört. Adrian suchte schnell nach weiteren Informationen im Netz.
Annette richtete sich auf einmal auf. Sofort drehte Tabea sich um und stützte ihren Kopf.
»Alles okay?«
»Ja ...«, stöhnte die Biologiestudentin. Sie sah aus, als wäre sie extrem verkatert. »Wo sind wir?«
»In Adrians Wohnung. Es ist alles gut. Du bist in Sicherheit.«
Müde sah Annette sich um.
»Das ergibt alles keinen Sinn«, murmelte Adrian vor sich her. »Das Internet ist voll von Ereignissen, die mit den Kindern der Nacht zu tun haben.«
»Warum sind wir hier?«, fragte Annette.
»Wir versuchen herauszufinden, was hier los ist.«
»Ich möchte nach Hause ...«
Adrian drehte sich zu ihr um und sah die Biologiestudentin besorgt an.
»Du solltest nicht nach draußen gehen, Annette«, riet er mit ruhiger Stimme. »Zumindest bis die Polizei die Lage unter Kontrolle hat.«
»Sind diese Mörder noch da?«
Adrian und Tabea antworteten nicht. Irgendwie war es etwas ironisch, dass diejenige, die nicht unter Ängsten litt, von ihnen beruhigt werden musste. Ob dieser Polizist, der so stark aussah, als könnte er Tabea mit dem kleinen Finger verprügeln, auch eine Angststörung hatte? Sie traute sich nicht, zu fragen. War das wirklich eine Voraussetzung, um ... stigmatisiert ... zu werden?
Das konnte doch nicht die Realität sein. Tabea wähnte sich nicht mehr in einem Traum, aber ihre ganze Welt stand kopf. Wie konnte sie wieder normal werden?
Ein Schreck fuhr durch ihren Körper, als ihr wieder dieser Gedanke kam, dass diese Gestalten, die im Krankenhaus unschuldige Menschen ermordet hatten, eine Kreation ihres Geistes waren. Konnte das wirklich so sein? Das klang total verrückt. Diese Terroristen mussten das alles so eingefädelt haben, dass sie genau das dachte. Das war Gaslighting!
Ein helles blaues Licht erschien im Wohnzimmer. Kleine blaue Lichtpunkte tanzten auf einmal überall herum, wie Glühwürmchen. Sie vermischten sich miteinander zu größeren Lichtpunkten und umkreisten die drei.
Verwundert sahen sich alle um. Es wurde immer heller und blauer im Raum.
»Was ist das?«, fragte Tabea staunend. Es sah wie eine beeindruckende Lichtshow aus. Ihre Haut strahlte in dem blauen Licht. Schließlich wurde es so hell, dass die Studentin nichts anderes mehr sehen konnte, außer dem omnipräsenten Blau.