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Tabea - 6. Dezember 2020

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Irgendwann hatte sie im blauen Licht das Bewusstsein verloren. Als sie wieder aufwachte, war es tiefste Nacht. Nur wenig Licht schien durch die Vorhänge hindurch. Annette lag schlafend neben ihr. Der Polizist hingegen lag einfach auf dem Boden vor der Couch.

Noch etwas benebelt stand Tabea auf und suchte nach einem Lichtschalter. Schließlich fand sie einen neben der Tür. Als das helle Licht der Deckenlampe den Raum flutete, kniff sie die Augen zusammen.

»Hm?«, stöhnten Annette und Adrian mit einem genervten Unterton. Dann richtete der Polizist sich auf und sah sich verwundert um.

»Was ist passiert?«, fragte er. Tabea konnte ihm keine Antwort geben. Sie ging zum Couchtisch und nahm die Fernbedienung. Dann schaltete sie den Fernseher wieder ein.

Doch auf dem Monitor sah sie nur weißes Rauschen. Die Informatikstudentin runzelte die Stirn. Dann ging sie zum Fenster und zog die Vorhänge auf. Es war mitten in der Nacht. Auf den Straßen waren weder Menschen noch Autos zu sehen. Nur Adrians Streifenwagen parkte vor der Tür.

»Ich hab kein Netz«, sagte der Polizist. Tabea drehte sich zu ihm um. Adrian war inzwischen aufgestanden und hatte sein Smartphone in die Hand genommen. »Mein WLAN finde ich auch nicht. Ich finde überhaupt kein WLAN in der Umgebung.«

»Ist das Smartphone kaputt?«, fragte Annette mit müder Stimme. Einen kurzen Moment später kam sie selbst auf die Idee, ihr eigenes Smartphone zu überprüfen. Sie kramte es aus ihrer Hosentasche. Auf ihrem Oberschichtengerät hatte sie bestimmt noch Akku.

»Ich habe auch kein Netz«, sagte sie. »Ist das Internet in der Stadt ausgefallen?«

»Das betrifft nicht die WLAN-Netze hier«, erklärte die Informatikstudentin.

Adrian steckte das Smartphone wieder in seine Hosentasche und sah sich um. Er sah noch bleicher aus als gestern, sofern das möglich war. Nur Annette wirkte wie immer.

»Wir haben 1 Uhr Nachts«, sagte Adrian. »Wir fahren jetzt auf die Wache!«

Tabea half Annette, aufzustehen. Inzwischen konnte sie wieder einigermaßen alleine gehen, aber ihr Verband musste gewechselt werden. Krankenhäuser assoziierte Tabea aber gerade nicht mit Sicherheit. Erst einmal auf eine Polizeiwache zu fahren und dann weiter zu sehen, war wahrscheinlich die beste Idee.

Tabea und Annette folgten Adrian hinaus in die Kälte. Wobei es ungewöhnlich warm war. Gestern noch hatten sie maximal 3 Grad gehabt und konnte nicht ohne eine Winterjacke vor die Tür gehen. Jetzt hätte Tabea fast schon im T-Shirt draußen herumlaufen können. Als sie auf die Straße traten, sahen sie sich um.

Alles wirkte wie ausgestorben. Ja, es war mitten in der Nacht, aber auch die parkenden Autos waren verschwunden. In keinem einzigen Fenster weit und breit brannte Licht und nirgendwo war auch nur ein Lebenszeichen.

Auch Adrian blieb kurz stehen und sah sich verwundert um. Dann legte Tabea den Kopf in den Nacken und sah in einen klaren Sternenhimmel.

»Oh mein Gott ...«, staunte sie. Jetzt sahen auch Adrian und Annette nach oben.

»Drei Monde?«, stellte Annette fest. Tatsächlich sahen sie drei Monde am Nachthimmel. Sofort musste Tabea an die Narben auf ihrem Oberschenkel denken, die wie drei Kreise aussahen. Wie war so etwas möglich?

Sie alle sahen die Monde an, aber keiner sagte mehr etwas. Nach etwa einer Minute ging Adrian weiter zum Auto und schloss es auf. Tabea und Annette folgten ihm. Im Kopf der Informatikstudentin brodelte es. Sie versuchte, all diese merkwürdigen Ereignisse in Verbindung miteinander zu bringen. Es war ein wenig, wie in einer dieser schlechten Mysteryserien. Es geschahen so viele merkwürdige Sachen, deren Zusammenhang sich einfach nicht erschloss. Wer waren die Kinder der Nacht?

Auf der Fahrt fiel ihnen schnell auf, dass nicht nur die Straße, in der Adrian wohnte, wie ausgestorben war. Nicht ein einziges Auto kam ihnen entgegen. In keinem der Fenster sahen sie Licht und einfach niemand war auf den Straßen. Nur die Straßenbeleuchtung sagte noch aus, dass sie sich in der Zivilisation befanden. Adrian fuhr ohne Blaulicht mit normaler Geschwindigkeit.

Diese Nacht war beängstigend und wirkte surreal. Tabea bekam ein merkwürdiges Gefühl. Sie saß mit Annette wieder auf der hinteren Bank und hielt die Hand ihrer Freundin, die mit leerem Blick aus dem Fenster sah. Auch sie schien furchtbare Angst zu haben und in Gedanken zu hängen.

»Wo sind die Menschen?«, fragte Tabea und unterbrach damit die Stille. Adrian nahm das Funkgerät, das immer noch auf dem Beifahrersitz lag. Funk sollte unabhängig vom Handynetz noch funktionieren.

»Hallo, Zentrale?«, sagte er hinein, nachdem er auf den Knopf gedrückt hatte. »Hier ist Adrian. Wer hat gerade Nachtschicht?«

Das Gerät rauschte nur, aber niemand antwortete.

»Du arbeitest erst seit einer Woche hier und alle kennen schon deinen Vornamen?«, fragte Tabea beiläufig. Dabei fiel ihr auf, wie leicht ihr diese Frage gefallen war. Bei ihrer Sozialphobie überprüfte sie sonst jeden Satz hundert Mal im Kopf, bevor sie ihn laut aussprach. Vielleicht machte sie endlich Fortschritte.

»Was soll ich sagen?«, fragte Adrian. »Ich bin ein sympathischer Typ, der schnell Freunde findet.«

»Das Gegenteil von mir ...«, sprach Tabea ihre Gedanken laut aus. Das Sprechen klappte ungewöhnlich gut. Machten normale Menschen ohne Sozialphobie das so? Einfach gerade aus sagen, was sie dachten, ohne lange zu überlegen?

Diese Frage war eigentlich absurd. Natürlich hatte auch Tabea schon soziale Interaktionen gehabt, wo sie nicht darüber nachdachte, was sie sagte. Aber die waren schon sehr selten und seit sie den Kontakt mit ihrer Familie abgebrochen hatte, noch seltener.

Meistens hatte es damit zu tun, ob sie Angst davor hatte, dass die andere Person sie nicht mochte. Bei Adrian war es ihr jetzt nicht so wichtig. Es war sein Job, sie zu beschützen. Gleichzeitig hatte sie schon etwas Vertrauen gefasst.

»Warum antwortet denn niemand?«, fragte Annette.

»Egal«, erklärte der Polizist. »Wir sind da.«

Sie bogen um eine Ecke und parkten vor einem Gebäude, wo noch fünf weitere Streifenwagen standen. Die Polizeiwache lag direkt neben einem Sexshop. Bunte Reklametafeln mit nackten Pornodarstellerinnen, deren Nippel nur durch weiße Flecken zensiert wurden, sprangen sofort ins Auge. Willkommen in Köln.

Als sie ausstiegen, fiel ihnen auf, dass vom Himmel ein merkwürdiger schwarzer Schnee fiel. Kleine schwarze Flocken schwebten leise nach unten. Annette zog sofort die Kapuze über den Kopf.

»Ist das der giftige Hagel?«, fragte sie. Tabea schüttelte den Kopf.

»Ich glaube das ist etwas anderes ...«, murmelte sie leise und ging einen Schritt auf die Straße. Dann streckte sie die Arme aus und legte den Kopf in den Nacken.

»Was machst du da?«, fragte ihre Freundin. Tabea antwortete nicht und ließ den schwarzen Schnee ihre Haut berühren. Ohne, dass sie etwas spürte, löste er sich auf ihrem Körper einfach auf und verschwand. Sie zog ihre Winterjacke und ihren Pullover aus und ließ beides auf die Straße fallen. Mit nackten Armen drehte sie sich langsam um. Hunderte kleine Schneeflocken landeten auf ihrer Haut und verschwanden einfach.

Adrian und Annette sahen sie verwundert an. Tabeas Mundwinkel zuckten. Es war irgendwie schön. Der schwarze Schnee war wieder so ein Ereignis, das sie nicht erklären konnte, aber sie hatte keine Angst davor. Das erste Mal seit langem, fühlte sie sich von ihren Ängsten befreit. Locker flockig hüpfte sie zurück auf den Bürgersteig und sah die beiden erwartungsvoll an.

Annette wirkte nicht so erleichtert. Sie stand unter Anspannung und zitterte immer noch vor Nervosität. Sie war ganz blass, aber man sah ihr an, dass sie einfach völlig mit den Nerven am Ende war. Sie verwandelte sich nicht, so wie Adrian und Tabea das getan hatten. Aber sie hatte Augenringe und ihr Gesicht war von Panik gezeichnet.

»Bist du fertig?«, fragte Annette und klang dabei etwas genervt. Komischerweise juckte Tabea das kaum. Sonst bekam sie bei jeder kritischen Frage sofort Verlustängste.

Die Informatikstudentin nickte nur. Dann gingen alle drei durch die Glastür in die Polizeiwache.

Der kleine Vorraum war durch eine Art Rezeption in zwei Teile getrennt. Den hinteren Teil konnte man nur durch ein kleines Tor auf Hüfthöhe erreichen, das verschlossen war. Hinter der Rezeption war ein Schreibtisch mit einem Computer. Doch nirgendwo war jemand zu sehen.

»Hallo?«, rief Adrian laut. Es gab zwei Flure, die von dem Vorraum nach hinten führten. Adrian öffnete das kleine Tor und ging auf die hintere Seite.

»Wartet kurz«, sagte er und verschwand in einem der Flure.

Tabea sah zu Annette. Die Biologiestudentin hatte ihr Smartphone wieder heraus geholt und suchte nach Mobilfunkempfang oder einem WLAN. In den Systemeinstellungen schaute sie auch, ob sich Bluetoothgeräte in der Umgebung befanden.

»Gar nichts?«, fragte Tabea. Annette schüttelte den Kopf.

»Wie kann denn das sein?«, fragte die Informatikstudentin. Ihre Freundin steckte das Smartphone wieder ein und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Rezeption. Ihr Kopf sank nach unten.

»Wo sind die Menschen?«, wimmerte Annette, ohne aufzusehen. »Das ist doch verrückt. Was passiert hier nur?«

»Vielleicht wurden sie evakuiert«, mutmaßte Tabea. »Vielleicht haben alle ihr WLAN ausgeschaltet und dann die Stadt verlassen.«

»Dann hätte ich trotzdem jemanden erreicht«, erklärte Adrian, der gerade wieder zu ihnen kam. »Hier ist niemand. Die Polizeiwache ist komplett leer.«

Annette seufzte verzweifelt. Dann vergrub sie das Gesicht in ihren Hände und begann zu weinen. Sofort kam Tabea zu ihr und nahm sie in den Arm. Mitleidsvoll sah der Polizist sie an. Die Stille in der Stadt war bedrückend und der leise Schnee schien es noch stiller werden zu lassen.

»Was machen wir jetzt?«, flüsterte Tabea zu dem Mann.

»Ich weiß nicht ...«, seufzte er. »Wir könnten zum Polizeipräsidium fahren.«

»Und wenn dort auch niemand ist?«

»In Köln leben eine Millionen Menschen. Man kann nicht so viele innerhalb einer Nacht evakuieren. Irgendwo muss doch jemand sein.«

»Und mehr als einen Mond sollte es auch nicht geben«, merkte Tabea an. »Ich glaube, wir müssen uns damit abfinden, dass nichts mehr normal ist.«

»Du meinst ...«, begann Adrian zögerlich. »Die Realität spielt verrückt?«

Der Polizist ging ein paar Mal auf und ab und dachte nach.

»Kinder der Nacht«, murmelte er. »In dem Artikel stand, dass die Ängste von Kindern der Nacht real werden können. Haben unsere Ängste die Menschen verschwinden lassen?«

»Oder das ist nicht mehr die Erde, die wir kennen«, vermutete Tabea.

»Sind wir tot?«, fragte Annette. Sie sah die beiden Menschen mit den roten Augen hilfesuchend an.

»Glaube ich nicht«, widersprach Tabea. »Ich habe mörderischen Hunger und Durst. Du nicht?«

»Doch ...«

Adrian ging wieder nach hinten und kam kurz darauf mit einem Kasten Mineralwasser wieder. Während sie ihren Durst stillten, standen sie um den Schreibtisch herum. Adrian hatte den PC hochgefahren, aber auch dort keine Verbindung zum Internet bekommen. Auch aktuelle Polizeiberichte konnte er nicht finden.

»Der letzte Bericht ist vom 1. Juni«, stellte er verblüfft fest.

»Das war die Zeit, als die ersten Kinder der Nacht erschienen sind«, sagte Tabea. »Oder?«

»Was sind Kinder der Nacht?«, fragte Annette verwundert. Tabea sah sie zögerlich an. Konnte sie ihr davon erzählen, ohne dass sie einen Zitteranfall bekam? Sie sollte es zumindest versuchen.

»Das ganze Internet ist voll von Berichten über etwa 150 Personen, die sich Kinder der Nacht nannten und in Deutschland große Katastrophen ausgelöst haben.«

Annettes Augen verengten sich. Dann blinzelte sie schnell, legte die Hände auf ihre Oberschenkel und begann, mit den Fingern zu zittern. Nur ein paar Sekunden später war es vorbei.

»Was sind Kinder der Nacht?«, fragte sie erneut.

»Verdammt«, fluchte Tabea. »Hast du mich eben gehört? In Deutschland sind Katastrophen passiert, an die sich niemand mehr erinnern kann.«

Wieder wurde sie ganz still. Jetzt zitterten ihre Hände noch mehr. Es dauerte fast eine halbe Minute, bis es vorbei war.

»Was sind Kinder der Nacht?«

Die Informatikstudentin schüttelte den Kopf.

»Es funktioniert nicht ...«

»Was funktioniert nicht?«, fragte Annette verblüfft. »Warum antwortest du mir nicht?«

»Ich habe dir geantwortet. Zwei Mal. Aber irgendwie ... irgendwie vergisst du es dann sofort. «

»Häh?«

»Wir sind die einzigen, die davon nicht betroffen sind«, stellte Adrian fest und deutete dabei auf sich und Tabea. »Als würde auf den Kindern der Nacht ein Fluch lasten, so dass alle gezwungen werden, sie zu vergessen.«

»Vielleicht wollten die Kinder der Nacht das so ...«, vermutete die Informatikstudentin. »Vielleicht waren diese Katastrophen zu schrecklich.«

Annette schrie laut auf. Sofort sahen Tabea und Adrian zu ihr. Die Biologiestudentin war vor einer gewaltigen Spinne zurückgeschreckt, die auf dem Schreibtisch erschienen war. Sie war etwa so groß, wie die Jumbopizza, die sie neulich erst verdrückt hatte. Tabea hatte in ihrem Leben noch nie eine so riesige Spinne gesehen.

»Ach du Scheiße!«, brüllte Adrian entsetzt, sprang auf und presste sich mit dem Rücken gegen die Wand. Annette rannte Tabea fast um, lief an ihr vorbei und dann zur Tür hinaus.

Die Spinne bestand aus einem vorderen und einem hinteren Körperteil und natürlich den acht langen Beinen. Der hintere Teil war rot und pulsierte, wohingegen der vordere mit unzähligen schwarzen Augen gespickt war. Die langen Beinchen waren pelzig und bewegten sich hin und her. Die Spinne trat auf der Stelle und drehte sich in verschiedene Richtungen.

Tabea sah zum Polizisten, der sich schweißgebadet gegen die Wand drückte. Er zitterte am ganzen Körper und hyperventilierte.

Ihr wurde alles klar. Adrian hatte eine Spinnenphobie! Vorsichtig ging Tabea um den Schreibtisch herum, wobei sie keine hektischen Bewegungen machte und ganz leise blieb. Sie näherte sich dem Polizisten, der sich vor Panik kaum bewegen konnte. Wenn diese Spinne nicht die ganze Zeit so pulsieren oder auf der Stelle treten würde, wäre es einfacher gewesen. Tabea reichte dem Mann die Hand.

»Komm!«, flüsterte sie. »Wir gehen ganz langsam nach draußen.«

Zögerlich nahm er ihre Hand. Tabea ging voran und führte den Polizisten langsam an dem Vieh vorbei. Es war wirklich ekelhaft. Die Studentin war über alle Maßen froh, dass sie selbst keine Arachnophobie hatte. Sie wusste nicht, ob das mehr oder weniger schlimm als eine generalisierte Angststörung gewesen wäre.

Zum Glück schafften sie es. Als sie die Polizeiwache verlassen hatten und Tabea die Glastür schloss, atmete Adrian tief durch. Tabea sah sich nach Annette um.

Dann kreischte sie selbst laut auf. Annette lag mitten auf der Straße und bewegte sich nicht. Direkt über ihr hockte eine noch größere Spinne, die genau so aussah, wie die auf dem Schreibtisch. Nur war sie so groß wie Annette selbst. Mit ihren Beinchen stand sie auf den Armen und Beinen der jungen Frau und hielt diese am Boden. Annette wehrte sich überhaupt nicht mehr und schien das Bewusstsein verloren zu haben. Die Spinne näherte sich ihrem Gesicht. Es sah aus, als würde sie ihr Gesicht fressen wollen.

»Scheiße!!«, rief Adrian erschrocken und zog seine Dienstwaffe. Sofort ging Tabea ein paar Schritte aus der Schusslinie. Dann entsicherte der Polizist seine Waffe, hielt sie mit beiden Händen fest und nahm einen sicheren Stand ein. Der erste Schuss traf die Spinne sofort am Kopf. Doch der Polizist überließ nichts mehr dem Zufall und schoss noch einmal. Dieses Mal traf er sie in den Hinterkörper. Eine dunkelrote Flüssigkeit platzte aus der Riesenspinne und sie fiel leblos auf Annette zusammen.

Als Adrian die Waffe senkte, rannte Tabea sofort zu ihrer Freundin. Der Spinnenkadaver war furchtbar ekelhaft. Sie nahm Annettes Arme und zog sie vorsichtig nach hinten und so unter den Überresten der Spinne weg. Oh Gott ... war sie tot?

Sie musste Annette fast 10 Meter weit ziehen, bis Adrian sich traute, zu ihr zu kommen. Die junge Frau war von oben bis unten durchnässt von Spinnenblut. In ihrem Gesicht waren merkwürdige Bisswunden. Tabea hielt einen Finger unter ihre Nase.

»Sie atmet nicht mehr!«, rief sie panisch.

Drei Meter vor ihr hielt der Polizist an und starrte immer noch auf den Spinnenkadaver und das ganze Blut überall. Die Straße war davon getränkt.

»Was soll ich tun?«, fragte Tabea ihn. Er konnte nicht zu ihr, das verstand sie. Adrian schien eine Panikattacke zu haben. Sein Körper zitterte und er verharrte in seiner Position. Fuck. Tabea erinnerte sich an den Erste-Hilfe-Kurs, den sie mal gemacht hatte. Notdürftig zog sie ihr Top aus und wischte damit das Blut aus Annettes Gesicht. Dann öffnete sie ihren Mund und presste ihre Lippen darauf. Zwei mal pustete sie kräftig Luft hinein.

Sofort danach begann sie mit der Herzmassage. Dabei suchte sie den Punkt, an dem sie feste drücken musste, und stemmte dann ihr ganzes Gewicht darauf. Sie versuchte, das im richtigen Tempo zu machen. Wie oft sollte man das nochmal machen? Fuck, sie hatte es vergessen. 15-mal vielleicht? Egal! 15 musste reichen!

Als sie fertig war, presste sie wieder ihre Lippen auf Annettes Mund und pustete Luft hinein. Als sie das das zweite Mal machen wollte, riss die Biologiestudentin die Augen auf, atmete laut ein und richtete sich etwas auf. Sofort wich Tabea zurück.

Annette atmete wieder selbstständig. Sie nahm kurze, aber tiefe Atemzüge und sah sich schockiert um.

»Holla die Waldfee ...«, hechelte Tabea ganz außer Atem.

»W-was ist ...«

»Alles okay«, sagte die Informatikstudentin. »Die Spinne ist tot. Aber wir müssen dich in ein Krankenhaus bringen.«

»Falls wir eines finden, wo jemand ist«, gab Adrian zu bedenken, der sich wohl wieder gefangen hatte. »Aber wir müssen es versuchen! Steigt ein!«

»Kannst du laufen?«, fragte Tabea. Annette nickte. Trotzdem half Tabea ihrer Freundin auf und stützte sie, als sie zum Polizeiwagen gingen. Nervös sah Adrian sich um. Er hielt immer noch seine Pistole in der Hand. Niemand wusste, ob hier noch mehr Spinnen waren.

Als Tabea ihrer Freundin half, in den Wagen einzusteigen, sah diese sie erstaunt an.

»Du hast mich wiederbelebt?«, fragte sie ganz erschöpft.

»Ich ... äh ...«, stotterte Tabea. Wenn sie eines nicht mochte, dann, wenn jemand dachte, dass er ihr etwas schuldete. »Ich war eifersüchtig, dass die Spinne mit dir rumgeknutscht hat und da wollte ich auch.«

Annette sah sie mit großen Augen an. Fuck. Hatte Tabea gerade versucht, witzig zu sein? Das lag ihr wohl nicht so besonders. Soziale Interaktion war creepy.

Die beiden Studentinnen saßen wieder hinten, als Adrian losfuhr. Er machte das Blaulicht an und fuhr mit einem Affenzahn über die große vierspurige Hauptstraße. Der Motor brummte laut und musste schon von Weitem zu hören sein. Ob die Stadt wirklich komplett leer war? War wirklich niemand anderes mehr hier?

Im Auto atmete Annette wieder laut ein, als hätte sie einen Asthmaanfall.

»Kannst du das Fenster aufmachen?«, rief Tabea nach vorne. Sofort drückte Adrian auf einen Knopf neben der Gangschaltung und die hinteren Fenster fuhren automatisch herunter. Lauwarmer Wind blies durch das Auto. Jetzt fiel der Informatikstudentin auf, dass sie obenrum nur noch einen BH anhatte. Mist. Den Pullover und die Jacke, die sie auf die Straße geworfen hatte, hatte sie eben nicht mehr wiedergefunden.

Annette steckte den Kopf aus dem Fenster und atmete ruhiger. Besorgt sah Tabea zu ihr rüber. Sie zitterte immer noch.

Auch Adrian zitterte. Das konnte die Informatikstudentin sehen, als sie ihren Kopf zu ihm drehte. Das war nicht gut, wenn er so schnell vor ...

An einer großen Kreuzung bogen sie nach links ab. Im Scheitelpunkt der Kurve drückte der Polizist wieder aufs Gas. Mit einem Affenzahn fuhren sie durch die leere Kölner Innenstadt.

Etwa 10 Minuten später kamen sie an einem Krankenhaus an. Es war zum Glück ein anderes, als das, wo sie zuletzt von den Gesichtslosen angegriffen worden sind. Adrian parkte direkt vor dem Haupteingang und die drei stiegen aus. Tabea stützte Annette, während der Polizist mit der Waffe in der Hand die Umgebung im Auge behielt.

Adrian ging vor. Die automatischen Türen des Haupteinganges öffneten sich und die drei Flüchtlingen traten in einen langen breiten Flur ein. Das kalte Licht der Deckenlampen flackerte hin und wieder. Der Polizist hielt seine Waffe auf den Boden gerichtet.

Sie mussten fast 50 Meter weit laufen, bis sie zu einer großen offenen Tür kamen, worüber ein Schild mit der Aufschrift »Notaufnahme« hing. Dort fanden sie eine Rezeption in der Ecke und viele Sitzbänke, die im großen Saal verteilt waren. Hinweistafeln gaben Auskunft darüber, wie man sich während der Pandemie zu verhalten hatte.

Doch niemand war da. Kein einziger Patient wartete auf einen Arzt und kein Krankenpfleger stand an der Rezeption.

»Hallo!«, rief Adrian laut. Das Echo seiner Stimme hallte durch den Saal und die angrenzenden Flure.

»Ist hier jemand?«, rief auch Tabea. Sie half Annette auf eine Sitzbank und setzte sich neben sie.

Adrian seufzte.

»Verdammt. Das hätten wir uns auch denken können.«

»Annette braucht einen Arzt!«, stellte sie klar und sah dann zu ihrer Freundin. Diese sah nur betrübt auf den Boden. Ihr Verband am Ohr war, genau wie ihre Kleidung, völlig von den Innereien der Spinne getränkt. Im Gesicht hatte sie offene Bisswunden, die zum Glück nicht weiter bluteten. Sie sah fürchterlich aus.

»Schon gut ...«, stöhnte sie leise. »Ich brauche keinen Arzt. Nur ein Bad.«

»Und wenn die Spinne giftig war?«

»Dann wäre ich schon längst tot ...«

»Vielleicht wurde nur Köln evakuiert«, sagte Adrian. »Wir könnten es in einem Krankenhaus in einer anderen Stadt versuchen.«

»Ich kann nicht mehr ...«, flüsterte Annette mit schwacher Stimme. »Ich will einfach nach Hause.«

»Wir müssen sie von dem Spinnendreck befreien«, sagte Tabea zu Adrian. »Und sie braucht Ruhe. Fahren wir zurück in deine Wohnung und machen eine Pause. Wir brauchen alle etwas zu Essen!«

»Na gut«, sagte der Polizist und strich sich über die Stirn. Dann atmete er tief durch. »Fahren wir nach Hause. Ich müsste noch Tiefkühlpizza da haben. Wenn der Strom noch da ist, kann ich die schnell machen.«

Tabea nickte und half ihrer Freundin hoch. Müde quälten sie sich zurück zum Auto. Das Krankenhaus war gruselig. Es war immer noch mitten in der Nacht und hier waren nirgendwo Menschen. Adrian hielt immer noch seine Pistole in der Hand. Er dachte wohl gar nicht daran sie wegzustecken. Wenn auf der Polizeiwache riesige Spinnen waren, konnten sie überall sein.

Sobald sie bei Adrian waren, würde Tabea ihn erst einmal nach einem Shirt fragen. Auch Annette brauchte neue Klamotten. Der Schleim der Spinne stank auch noch fürchterlich. Eigentlich hatten sie gar keinen Appetit ...

Wenig später kamen sie wieder bei Adrians Wohnung an. Der Polizist stieg zuerst aus und suchte die Umgebung ab. Dann liefen die drei schnell zum Hauseingang und betraten das Treppenhaus. Adrian schloss die Haustür zwei Mal ab. Dasselbe tat er mit der Wohnungstür, als sie in seine Wohnung eingetreten waren. Zusätzlich ließ der Polizist auch noch den Schlüssel im Schloss stecken. So konnten sie jederzeit schnell flüchten, aber das Schloss konnte nicht geknackt werden.

»Das Bad ist da hinten, die letzte Tür«, erklärte er mit müder Stimme. Dann lehnte er sich gegen die Wand und sank nach unten.

Mitten im Flur setzte der Mann sich auf den Boden. Seine Kleidung war durchnässt von Angstschweiß. Adrian war völlig am Ende seiner Kräfte. Tabea kannte das. Ängste waren unglaublich anstrengend. Nach einer Angstattacke fühlte man sich ausgelaugt, als hätte man 10 Schichten hintereinander durchgearbeitet. Mit einer Angsterkrankung litt man quasi permanent unter einem Burnout.

Der Polizist schloss die Augen und schien jeden Muskel seines Körpers zu entspannen. Nur seine Pistole ließ er nicht los. Auch das konnte sie gut nachempfinden. Wenn man Ängste hat, verspannte man sich schnell.

»Ich kümmere mich um Annette«, sagte Tabea zu ihm. Adrian nickte leicht.

Sein Badezimmer war ganz schön groß. Trotzdem hatte er gar keine Dusche, sondern nur eine Badewanne. Diese war echt riesig und hatte die Form eines Dreiecks. Als hätte man einen Whirlpool in der Mitte in zwei Teile geschnitten.

»Hilfst du mir?«, fragte Annette mit schwacher Stimme.

»Okay.«

Sie setzte ihre Freundin auf dem Beckenrand ab und zog zuerst die Schuhe und die Socken aus. Selbst die waren voller Schleim. Mit viel Mühe hielt sich die Biologiestudentin noch aufrecht. Sie hob die Arme hoch, als Tabea ihr den großen Pullover über den Kopf zog. Das Kleidungsstück war durch die Feuchtigkeit unheimlich schwer geworden. Das musste eine große Erleichterung sein, nicht mehr dieses Gewicht tragen zu müssen. Etwas schwerer war es, die Hose auszuziehen. Dafür musste sie ihr kurz aufhelfen.

»Oh man ...«, jammerte die Biologiestudentin. »Ist doch alles bescheuert.«

Dann griff Annette hinter sich und öffnete den Verschluss von ihrem BH. Sofort drehte Tabea sich erschrocken um und hob die Hände.

»Oh! Äh ...«, stotterte sie.

»Ach, ist okay«, sagte Annette leise. Zögerlich drehte Tabea sich zurück und sah, dass sie sich auch gerade den Tanga über die Knie zog. Dann hob sie die Arme, um sich an ihr hochzuziehen. Tabea half ihr in die Badewanne. Sie nahm die Duschbrause, die an einem langen Wasserschlauch an der Wand hing, und drehte den Hahn auf.

Annette lehnte sich zurück und schloss die Augen. Hin und wieder strich sie sich das Wasser vom Körper. Irgendwie wurde die Informatikstudentin total nervös. Sie atmete schwer und kam nicht so ganz damit zurecht, sie völlig zu sehen. Sie wollte auf keinen Fall etwas Falsches sagen. Sollte sie etwas sagen? Sollte sie lieber nichts sagen?

»D-du ...«, stotterte sie. »bist hübsch.«

Oh Gott, wie peinlich.

»Danke«, sagte Annette müde und hielt die Augen geschlossen. Tabea sah ihren Körper an. Sie hatte eine schlanke Figur, recht kleine Oberweite und ein breites Becken. Sie sah eh nicht, wohin Tabea Schaute also konnte sie auch einen kurzen Blick nach unten werfen. Warum war sie so neugierig?

»Was glaubst du, was hier passiert?«, fragte Annette mit müder Stimme.

»Es hat irgendetwas mit den Kindern der Nacht zu tun«, vermutete Tabea. »Das finden wir schon noch raus.«

»Und wohin sind die Menschen verschwunden?«

Tabea sah, wie der letzte Rest von dem Spinnenblut im Abfluss versickerte, nachdem sie auch ihre Haare abgewaschen hatte. Sorgfältig sprühte sie die Stellen der Wanne sauber, wo noch etwas Dreck war.

»Vielleicht sind sie noch alle da, nur wir sind woanders.«

»Das ist nicht die Echte Welt, meinst du?«

»Vielleicht. Vielleicht greifen uns auch außerirdische an, die wie Spinnen aussehen.«

Tabea grinste kurz, aber Annette verzog keine Miene. Das mit dem Humor sollte sie lieber bleiben lassen.

»Oder wir sind alle auf Drogen und bilden uns das nur ein.«

»Das wäre noch das Beste.«

Auf einmal öffnete Annette die Augen und sah sie an. Tabea fühlte sich irgendwie ertappt.

»Meinst du, Adrian hat Gras da?«

»Er ist Polizist«, merkte Tabea stirnrunzelnd an.

»Ach, stimmt ...«

Wow, war sie verplant. Ob sie ein Drogenproblem hatte? Wahrscheinlich. Sonst würde sie nicht mit einem Trauerkloß wie Tabea abhängen. Annette richtete sich auf und streckte sich. Dann nahm sie den Stöpsel und steckte ihn in den Abfluss, um dann am Wasserhahn warmes Wasser einzulassen.

»Kommst du mit rein?«, fragte sie und blickte Tabea mit großen Augen an.

Die Informatikstudentin entschied sich, nur die Schuhe und die Jeans auszuziehen. Die Unterwäsche ließ sie einfach an, als sie zu Annette in die Wanne stieg.

»Warum bist du so schüchtern?«, fragte Annette. »Hast du schlechte Erfahrungen gemacht?«

»Nein ... Ich bin einfach. Ä-ähm ...« Tabea stotterte wieder. »Ich habe noch nie Sex gehabt.«

Annette sah sie stirnrunzelnd an.

»Warum nicht?«

»Na ja. Ich komme Menschen nicht so nahe. Meine Sozialphobie bringt mich dazu, ständig vor allen Leuten zu flüchten, die mit mir abhängen wollen. So hat es sich einfach nie ergeben. Bei anderen bin ich dadurch immer recht ablehnend oder arrogant angekommen. Dann gewöhnt man sich irgendwann an diesen Zustand. Mit jedem Jahr wird es schwieriger, andere Menschen an sich heranzulassen, aber deshalb habe ich ja nun eine Therapie angefangen.«

»Falls es noch Therapien gibt«, gab Annette zu bedenken. »Aber hast du noch nie das Bedürfnis gehabt, mit einem Jungen zu vögeln?«

»D-doch ... schon«, gab sie stotternd zu.

»Oder bist du vielleicht lesbisch?«

Tabeas Pupillen wanderten in die linke obere Ecke ihrer Augen. Das machte sie immer, wenn sie nachdachte.

»Ich weiß es nicht. Woher soll ich das wissen? Ich habe gar keine Ahnung.«

Annette beugte sich nach vorne. Da die Wanne inzwischen vollgelaufen war und sie eine Menge Badezusatz, der am Beckenrand stand, hineingetan hatten, konnte man wegen des Schaumes gar nichts mehr sehen. Die Biologiestudentin kam noch näher. Erschrocken wich Tabea etwas zurück, bis sie sich dann nicht weiter nach hinten lehnen konnte. Dann bekam sie einen schnellen Kuss auf den Mund. Ihr Herz schlug vor Schreck sofort dreimal so schnell. Mit aufgerissenen Augen sah sie Annette an, die sich wieder ihr gegenüber hinsetzte und den Kopf schief legte.

»Wie war das?«

»Ä-äh ...«, stotterte die junge Frau. »Ich weiß es nicht.«

Annette rollte mit den Augen.

»Ich sag dir mal was. Du solltest dich echt ausleben, solange du noch jung und so hübsch bist. Denn du bist hübsch unter all dieser Angst und Einsamkeit. Im Leben bereut man immer das, was man nicht getan hat mehr, als das was man getan hat. Lass dir das Leben nicht von diesen Ängsten kaputt machen und genieße es!«

Normalerweise wäre Tabea jetzt genervt, denn diese Binsenweisheiten hatte sie schon tausendmal gehört. Aber eine Angsterkrankung verschwand nun einmal nicht, wenn man der erkrankten Person sagte, dass man mal sein Leben genießen sollte.

Doch Tabea war noch viel zu geflasht von dem Kuss. Das war jetzt der zweite Kuss in ihrem Leben gewesen. In ihr spielten alle Gefühle einfach verrückt.

»Na ja«, seufzte Annette. »Falls wir morgen überhaupt noch am Leben sind und herausfinden, wohin die Menschen alle gegangen sind, können wir ja daran arbeiten.«

»Wie denn?«

»Es gibt einen ganz einfachen Grundsatz«, erklärte sie. »Sprich mir nach. Ich ...«

»Ich.«

»Nehme jede Chance wahr.«

»... nehme jede Chance wahr«, vervollständigte Tabea.

Als sie fertig gebadet hatten, hatten sie sich ein paar Handtücher von Adrian geklaut. Tabea holte zwei Boxershorts und viel zu große T-Shirts für sie beide. Dann gingen sie in die Küche, wo der Polizist bereits die Pizzen serviert hatte. Mit Tellern, Messern und Gabeln sah es gar nicht mehr so traurig aus, dass man mitten in der Nacht Tiefkühlpizzen verdrückte.

»Geht es euch besser?«, fragte er. Ihm musste wohl aufgefallen sein, dass Annette wieder alleine gehen konnte. Sie hatten den Verband an ihrem Kopf notdürftig neu gemacht mit Verbandszeug, das sie in seinem Badezimmerschrank gefunden hatten.

»Und dir?«, stellte Tabea eine Gegenfrage. Der Polizist hatte seine Uniform gegen ein schwarzes Slimfit-Shirt und eine graue Jeans gewechselt. Er war sehr attraktiv und Tabea musste sofort an das denken, was Annette ihr eben geraten hatte. Aber er war unerreichbar. Da sollte sie sich keine Illusionen machen.

»Ich komme klar«, sagte er mit tiefer Stimme. Sie setzten sich hin und aßen. Jetzt wurde Tabea erst bewusst, wie lange sie nichts Essbares mehr im Magen hatte.

»Wie spät ist es jetzt?«, fragte sie beiläufig. Adrian sah auf sein Smartphone, das neben seinem Teller lag.

»Gleich 5 Uhr«, erklärte er. »Es dauert noch bis die Sonne aufgeht.«

»Vielleicht sollten wir bis zum Sonnenaufgang hier bleiben«, schlug sie vor.

»Klingt vernünftig«, merkte Adrian an. »Ich wollte mir noch einmal ein paar Unterlagen ansehen, die ich gefunden habe.«

»Was denn?«, fragte Tabea neugierig mit vollem Mund.

»Ein Tagebuch. Das führe ich eigentlich schon seit Jahren und mir ist eingefallen, wenn ich mich nicht an die Ereignisse der Kinder der Nacht erinnern kann, dann habe ich sie vielleicht in meinem Tagebuch aufgeschrieben.«

»Kinder der Nacht?«, fragte Annette verwundert. Die beiden Menschen mit den roten Augen seufzten.

»Darf ich mitlesen?«, fragte Tabea.

Der Polizist zögerte mit der Antwort.

»Entschuldigung«, lenkte sie ein. »Das ist bestimmt sehr privat.«

»Ich weiß nicht, was ich getan habe«, erklärte er. »Ich habe früher mal richtig Scheiße gebaut und mir vorgenommen, das nie wieder zu tun. Und ich der schlimmste Alptraum wäre, wenn das der Fall ist und ich mich nicht daran erinnern kann.«

»Was?«, fragte Annette. »Was hast du denn getan?«

Beunruhigt, doch neugierig, sah Tabea zuerst zu ihrer Freundin und dann zum Polizisten. Sie hätte sich nicht getraut, das zu fragen. Adrian schien antworten zu wollen, atmete vorher aber - betont langsam - einmal tief durch.

»Ich wurde in Berlin häufig auf Demonstrationen eingesetzt«, erzählte er. »Dort herrscht immer eine sehr aufgeheizte und angespannte Stimmung. Bei linken Demos hat man ständig Angst, dass man am Ende des Tages im Krankenhaus landet. So steht man ständig unter Strom und lässt sich leicht provozieren.«

Tabea fiel auf, dass er in der dritten Person sprach und nicht explizit von sich.

»Ein paar Male«, fuhr er fort, »habe ich mit dem Schlagstock häufiger zugeschlagen, als notwendig gewesen wäre.«

»Polizeigewalt?«, fragte Annette. »Hast du dafür keinen Ärger bekommen?«

Adrian schüttelte den Kopf.

»Wenn Polizisten Scheiße bauen, werden sie von anderen gedeckt. So funktioniert das eben. Ich konnte mich nicht beherrschen. Darum wollte ich nach Köln in die Verwaltung versetzt werden, um dem zu entgehen. Ich habe das Tagebuch geschrieben, um mit meinen Gefühlen umzugehen. Als Polizist braucht man ein dickes Fell. Ständig wird man angepöbelt, gilt als Feindbild oder sogar als Monster. Meine Kollegen kamen damit irgendwie zurecht, aber ich habe das in mich hineingefressen.«

»Daher die Angst vor Spinnen«, stellte Tabea fest.

»Was?«, fragte Adrian verwundert.

»Ich habe es dir angesehen. Du hast Angst vor Spinnen. Ich bin Expertin, was Ängste angeht und explizite Phobien sind manchmal ein Ausdruck von dem, was in dir tief drinnen geschieht. Die Spinnen sind für dein Innerstes eine Projektionsfläche dafür, dass du diese Ablehnung in dich hineingefressen hast.«

Für einen Moment sah Adrian so aus, als wäre sein Betriebssystem abgestürzt. Er sah nur verwundert auf seinen leeren Teller.

»Es ist nicht schlimm«, tröstete Tabea ihn. »Es klingt, als hättest du mit einer ganzen Reihe von Problemen zu kämpfen gehabt. Ich weiß nicht, wie es unter Polizisten so ist, aber gerade im Einsatz darf man wohl keine Schwäche zeigen. Auch wenn man mal welche hat. Das macht einen kaputt und man zerbricht daran. Und wenn man deshalb Fehler begeht und dann mit Schuldgefühlen zu kämpfen hat, gerät man ... gerätst du in einen Strudel, aus dem man nur schwer herauskommt. Was, wenn die Spinnen symbolisch nur für diese Wahrheit stehen, dass du nicht der emotionslose Polizist bist, der du gerne wärst? Dass du im Inneren jemand bist, der nicht abgelehnt werden möchte?«

»Was, wenn in meinem Tagebuch steht, dass ich sogar jemand ganz anderes bin? Jemand, den ich gar nicht kenne ...«

»Das könnte auf uns alle zutreffen«, sagte Tabea. Dann fiel ihr auf, dass Annettes Hände wieder begannen, zu zittern. »Wir sollten das Thema vielleicht nicht ansprechen, wenn Annette mit dabei ist ...«

Um Annette nicht zu überfordern, unterhielten sie sich noch eine ganze Weile über belangloses Zeug. Wobei nichts wirklich belanglos war im Moment. Sie erzählten sich einfach ihre Geschichten und lernten sich kennen. Annette wollte eigentlich Musik studieren, doch sie sah ein, dass sie als Cellistin niemals ihren Lebensunterhalt verdienen konnte. Dafür war die Konkurrenz viel zu groß.

Danach verdonnerten sie Annette zu Bettruhe und brachten sie in Adrians Schlafzimmer. Es dauerte nicht lange, bis sie offline war und Tabea und der Polizist im Wohnzimmer das Tagebuch lesen konnten.

Das Tagebuch war eigentlich ein Textdokument auf Adrians Laptop. Er öffnete es in LibreOffice und scrollte langsam nach oben.

»Jetzt wird es spannend«, murmelte er und scrollte weiter nach oben. Sie überflogen die Einträge. Adrian schrieb für jeden Tag, wie er sich fühlte. Teilweise war es wirklich sehr persönlich. Die Spinnenphobie schränkte ihn im Alltag tatsächlich sehr ein.

Eigentlich konnte Tabea sich nicht vorstellen, wie eine spezifische Phobie jemanden im Alltag einschränkte. Ihre Ängste waren immer da und das war furchtbar, aber bei etwas wie einer Spinne ... da konnte man doch einfach Abstand nehmen. Aber so leicht war es anscheinend nicht. Adrian konnte zum Beispiel keine Keller betreten, da er dort immer welche vermutete. Dazu die ständige Angst, dass er bei einem Einsatz mal wieder in eine Messie-Wohnung geschickt wurde, wo es von Ungeziefer und Spinnen nur so wimmelte ...

Am 26. November wurde es merkwürdig. Diesen Eintrag schien ein ganz anderer Mensch geschrieben zu haben.

»Was zum Teufel bedeutet das denn?«, fragte der Polizist.

»Heute ist der große Tag der Abreise«, las Tabea laut vor. »Ich bin etwas nervös und in Alarmbereitschaft, aber ich denke, mein Team ist auf alle Eventualitäten vorbereitet. Sobald wir die Erde verlassen haben, könnte mein Job ganz schön langweilig werden. Die meisten Bedrohungen der letzten Wochen kamen aus schließlich aus dem Ausland.«

»Die Erde verlassen«, wiederholte Adrian völlig verblüfft und lehnte sich zurück. »Bin ich jetzt ein Astronaut?«

»Mit Job hast du dort wahrscheinlich deinen Job als Bodyguard für Daniel Mor gemeint.«

»Aber die Erde habe ich offensichtlich nicht verlassen.«

»Aber vielleicht Daniel Mor und die Kinder der Nacht. Ab diesem Tag ist vielleicht die Grenze, ab dem sich niemand mehr an sie erinnern konnte.«

»Einen Tag später wollte ich, wie gewohnt, in Berlin zur Arbeit gehen. Da war mein Arbeitsverhältnis aber verschwunden und niemand wusste, was los war. Dass ich längst nicht mehr Polizist war, sondern für das Verteidigungsministerium gearbeitet habe, daran konnte sich auch niemand mehr erinnern.«

»Hochscrollen?«

Die schauten sich die Einträge davor an. Sie lasen sich, als würden sie von einer ganz anderen Person stammen. Sie waren außerdem viel kürzer. Er schrieb nur, wenn er etwas seelisch zu verarbeiten hatte.

‚Vergessene Katastrophen‘ war völlig untertrieben. Adrian hatte in seinem Tagebuch von seinen Sorgen um einen neuen Weltkrieg berichtet, wegen der enormen politischen Spannungen mit anderen Ländern.

»Das kann man sich gar nicht vorstellen«, erklärte er. »Man erkennt nicht nur mich gar nicht wieder, sondern das ganze Land.«

»Wir lesen das auch in der falschen Reihenfolge. Eigentlich sollten wir es ja vom Juni an vorwärts lesen und nicht rückwärts.«

Die ersten Wochen fanden sie fast gar keine ungewöhnlichen Einträge. Adrian erwähnte einmal kurz, dass er von den Kindern der Nacht im Fernsehen gehört hatte und das die Polizei angewiesen wurde, nach ihnen zu suchen, da sie mit merkwürdigen Ereignissen und Geistererscheinungen in Verbindung gebracht wurden. Dann gab es eine Lücke. Einige Tage, in denen er sein Tagebuch nicht weitergeführt hatte. Ein langer Eintrag erklärte diese Abwesenheit. Sie lasen ihn gemeinsam. Anschließend klappte Adrian den Laptop zu und lehnte sich schockiert zurück. Tabea tat es ihm gleich und wirkte dabei so, als würde sie ihn nachmachen.

»Holy shit ...«, staunte sie.

»Die Welt mit den drei Monden«, wiederholte er, was er gelesen hatte. »Wir sind auf einem anderen Planeten und ich bin nicht das erste Mal hier.«

In dem Eintrag erzählte Adrian, wie er einem Kind der Nacht begegnet war. Eine junge Psychologiestudentin namens Mia hatte sich verwandelt und wurde von ihren eigenen Angstmanifestationen erschossen. Genau wie Tabea. Die Notärzte brachten ihren Leichnam in zur Autopsie, wo sie wieder aufgewacht war. Adrian und ein Kollege hatten eine Vorgesetzte begleitet, die einen Blick auf die Tote werfen wollte. Als Mia wieder aufgewacht war, wurde sie von einem blauen Licht angezogen. Adrian wollte sie festhalten und wurde dabei, unabsichtlich, mit ihr auf diese andere Welt gezogen. Dort verbrachten sie einige Zeit und Adrian beschützte Mia vor weiteren Monstern. Er lernte noch weitere Kinder der Nacht kennen. Als sie ihn zurück auf die Erde brachten, half er ihnen sogar dabei, neue Verwandelte zu finden, um sie schnell auf den Nachtplaneten zu bringen, wo sie in Sicherheit waren und ihre Ängste niemanden Schaden konnten.

»Du kanntest die Kinder der Nacht«, stellte Tabea fest. »Sogar sehr gut.«

»Das ist schwer zu begreifen. Wieso erinnere ich mich nicht daran? Es ist, als wäre das ein ganz anderes Leben gewesen.«

»Ein Leben, wo du deine Probleme überwunden hattest. Du hattest einen anderen Job ein anderes Umfeld und ... andere Freunde.«

Vielleicht sollte Tabea aufhören, so etwas laut auszusprechen. Sie wusste nicht, ob sie ihn damit zum Nachdenken brachte, oder deprimierte. Langsam wurde ihr klar, dass soziale Interaktion vor allem Übung bedeutete. Sie war völlig aus der Übung und damit so einfühlsam wie ein Kleiderschrank.

Diese ganze Sache war, als hätte sich eine Tür zu einem alternativen Leben geöffnet. Wie sah wohl Tabeas Vergangenheit aus? Was war mit ihr die letzten Monate geschehen, woran sie sich nicht erinnern konnte? Sie führte kein Tagebuch, aber sie hatte auf ihrem Smartphone einen Haufen von Chatverläufen. Sie schrieb über FluffyChat manchmal mit Leuten aus dem Ausland, die sie noch nie gesehen hatte. Das waren oftmals die einzigen Kontakte, die sie so hatte.

»Oh mein Gott ...«, rief sie plötzlich laut und stand auf. »Ich muss sofort in meine Wohnung.«

»Was ist los?«

»Ich habe vielleicht einen Bruder.«

Adrian überredete sie, bis zum Sonnenaufgang zu warten, um Annette noch etwas mehr Schlaf zu gönnen. Da all dieser Input erst einmal mehr als genug war, lasen sie an diesem Tag nicht weiter im Tagebuch. Tabea hatte ohnehin das Gefühl, dass jeder Eintrag mehr neue Fragen aufwarf, statt welche zu beantworten.

Sie ruhten sich stattdessen auch etwas aus und schlossen für einen Moment die Augen. Tabea legte die Füße hoch auf den Couchtisch und döste für sich hin. In ihrem Kopf schwirrten unzählige Gedanken hin und her. Das war anstrengend.

Einige Zeit später, sie hatte das Zeitgefühl verloren, fiel ihr die Schusswunde an ihrer Stirn wieder ein. Sie war nur notdürftig mit einem Verband verbunden. Tabea stand leise auf, um Adrian nicht zu wecken, der auf der anderen Seite des Sofas wohl eingeschlafen war. Sie ging zu dem großen Spiegel im Flur. Dann löste sie den Verband und nahm ihn vollständig ab.

Krass.

Die Wunde war einfach verschwunden. Auf ihrer schneeweißen Stirn war nicht einmal eine Narbe zurückgeblieben. Tabea dachte darüber nach, was das zu bedeuten hatte. Ihre Alptraumfiguren konnten sie vielleicht gar nicht töten. Sie stammten schließlich aus ihr selbst. Konnte das die Erklärung sein?

Sie würde es wohl irgendwann genauer verstehen.

Tabea ging zurück in das Wohnzimmer und verband ihr Smartphone mit einem Ladekabel, das in einem der Regale herumlag. Als sie dieses an eine Steckdose anschloss, summte das Smartphone und schaltete sich an.

1% Akku.

Nachdem es hochgefahren war und sie ihre Pin eingegeben hatte, schaute sie nach, ob sie inzwischen Empfang hatte. Natürlich nicht. Nach dem, was sie im Tagebuch erfahren hatten, war das hier nicht die Erde, also auch nicht das echte Köln. Es gab auch kein WLAN in der Umgebung und auch keine Bluetooth-Geräte.

Krass, sie hatten schon 11 Uhr? Tabea ging zum Fenster und zog die Vorhänge einen Spalt auf. Es war immer noch mitten in der Nacht. Nur die Monde erhellten den Sternenhimmel. Wurde es hier niemals Tag?

Vielleicht nannten sie sich darum »Kinder der Nacht« ...

Die Studentin setzte sich auf die Fensterbank und sah hoch in den Himmel. Die Sterne sahen anders aus. Sie war keine Expertin, aber sie kannte ein paar Sternbilder. Sie fand den Stern »Wega«, den hellsten Stern am Nachthimmel. So erkannte sie das Sternbild der Leier. Das sah man eigentlich im Sommer. Nicht im Dezember.

Wenn diese Welt, auf der sie jetzt waren, nicht die Erde war, was war sie dann? Eine Parallelwelt, in der es gerade Sommer war? Eine Welt, in der die Zeit um 6 Monate genau verschoben war? Vielleicht war in diesem Paralleluniversum die Erde auf der gegenüberliegenden Seite des Sonnensystems. Als wäre dieses Universum ein dunkler Spiegel des echten.

Moment.

Tabea erinnerte sich dunkel an die Zeit, als sie sich für Astronomie interessierte. Damals war sie 13 Jahre alt gewesen, aber sie hatte Nächte lang auf dem Dach ihres Elternhauses mit ihrem Fernrohr verbracht. Sie war eine totale Amateurin, aber eine Theorie fand sie besonders interessant. Die Theorie von der Gegenerde. Ein Planet, der auf derselben Umlaufbahn lag, aber genau auf der anderen Seite der Sonne war. Sollte diese Welt existieren, wäre sie unsichtbar für die Menschen.

Wer sagte, dass sie in einem Paralleluniversum waren? Sie waren vielleicht sogar im selben Sonnensystem.

Tabea fielen ein paar Schwächen ihrer naiven Theorie auf. In den Artikeln, die sie mit 13 Jahren im Internet gelesen hatte, ging es fast immer darum, warum eine Gegenerde gar nicht möglich war. Die Schwerkraftverhältnisse im Sonnensystem passten einfach nicht dazu und die Gleichungen gingen nicht auf. Es gab keine Gegenerde.

Aber wenn ihre Ängste Realität werden konnten und sie einen Schuss in den Kopf überleben konnte, dann war alles möglich.

Die Studentin lächelte. Sie brauchte also nur ein Raumschiff, mehr nicht, um nach Hause zu kommen.

Adrian und Annette schliefen noch fast zwei Stunden. In etwa diese Zeit brauchte auch die Waschmaschine, die Tabea noch mit ihren Klamotten angemacht hatte. Zum Glück hatte sie einen Trockner integriert, so dass sie ihre Sachen direkt wieder anziehen konnten.

Frisch und gestärkt machte Adrian noch einen Kaffee für alle. Dann waren sie sich einig, sich auf den Weg zu machen. Zuerst bestand Annette darauf, dass sie zu ihrer Wohnung fuhren. Sie wollte sehen, ob ihre Eltern da waren. Natürlich war das nicht gerade erfolgversprechend, aber man konnte verstehen, dass sie ganz sichergehen wollte.

Annette wohnte in einem der Außenbezirke von Köln. Hier waren Einfamilienhäuser und die Gegend sah etwas gehobener aus. Doch in der Dunkelheit und bei den leeren Straßen überall machte das nicht mehr viel Unterschied. Als sie an ihrem Haus ankamen, warteten Tabea und Adrian im Wagen. Der Polizist hatte seine Uniform auch wieder angezogen. Es dauerte nicht lange, bis die Tabeas Freundin mit enttäuschtem Gesicht wiederkam und sich wortlos zurück in den Wagen setzte. Die Informatikstudentin legte eine Hand auf ihre Schulter und sah sie mitleidsvoll an.

»Du wirst sie wiedersehen«, versuchte sie sie zu motivieren. »Wir finden einen Weg, wie alles wieder normal wird.«

»Nichts wird mehr normal«, murmelte Annette. »Wir sind tot. Wir sind in der Hölle.«

»Das glaube ich nicht.«

Das nächste Ziel war Tabeas Wohnung. Sie wollte unbedingt das Bild holen, das auf ihrem Schreibtisch stand. Solange es noch dort war. Die Fahrt dauerte wieder fast eine halbe Stunde. Sie redeten kaum. Der Polizist war auf die Fahrbahn fokussiert, während die Studentinnen gelangweilt aus dem Fenster sahen. Mit Annette war ein Gespräch etwas anstrengend. Da ihr halbes Ohr zerfetzt war, hörte sie nicht mehr so gut. Tabea hatte sich bereits angewöhnt, etwas lauter zu sprechen.

Als sie an Tabeas zuhause ankamen, lief die Informatikstudentin alleine schnell nach oben. Beim Eintritt in ihre Wohnung fiel ihr gar nichts Besonderes auf. Es sah aus wie immer. Sogar die Pizzaschachteln, die Annette und sie bestellt hatten, lagen noch auf dem Boden.

Das Bild fand sie auf dem Schreibtisch.

»Lieber Michael, ich werde dich nie vergessen. In Liebe - deine Schwester«

Die junge Frau sah das Foto lange an. Hatte sie mal einen Bruder? War er durch die Kinder der Nacht gestorben und sie hatte ihn völlig vergessen?

Einen Bruder zu haben war eine völlig merkwürdige Vorstellung. Hatte sie sich gut mit ihm verstanden? Vielleicht sogar einen Freund in ihm gesehen? Vielleicht war sie gar nicht so einsam, wie sie immer dachte?

Dann kam Tabea eine Idee. Sie holte ihr Smartphone aus der Hosentasche und öffnete ihre Messenger-App. Dann suchte sie nach Michael.

Oh Gott ... Da war er. In FluffyChat fand sie einen ganzen Nachrichtenverlauf. Erschrocken hielt Tabea sich die Hand vor den Mund. Sie vergrößerte das Profilbild von Michael und sah einen jungen Mann, der ihr wirklich ähnlich sah. Er sah aus wie Tabea, nur in männlich. Aber sie hatten die gleichen Augenbrauen, die gleiche Nase und die gleichen Rehäuglein.

Tabea scrollte nach oben und überflog den Verlauf. Michael musste irgendwann im Juli gestorben sein, denn danach fand sie nur noch Nachrichten von ihr, die sie ihm geschrieben hatte. Sie schrieb ihm, dass sie ihn vermisste, und wie einsam es ohne ihn war.

Dann las sie die ersten Nachrichten von ihm. Ihre Unterhaltungen waren herzlich. Sie schrieben über alltägliche Dinge. Sie verwendeten viele Herzchen-Emojis. Sie hatten sich wirklich gut verstanden.

Schlimmer, als einen Bruder zu verlieren, war, sich nicht mehr an ihn erinnern zu können. Wer hatte ihr ihre Erinnerungen genommen? Wer hatte ihr ihre Familie geraubt? Ein unbändiger Cocktail von Emotionen kochte in ihr hoch. Trauer, Verwirrung und Wut waren darin omnipräsent. Die ganze Zeit dachte sie, sie wäre einsam, aber das war sie nicht immer. Auch wenn sie so oder so nur noch die Erinnerungen an Michael gehabt hätte, es waren ihre Erinnerungen.

Die Kinder der Nacht - wer immer sie waren - hatten ihren Bruder ermordet. Tabea wusste nicht, wer diese Menschen waren oder welche Ziele sie verfolgten, aber sie wusste, dass sie ihnen das niemals verzeihen konnte. Sie wollte auf keinen Fall zu ihnen gehören!

Als sie die Treppe nach unten ging, hatte sie das Gefühl, dass sie eine völlig neue Tabea Ritter geworden war. Ihre Ängste waren Trauer und Wut gewichen. Warum sollte sie auch noch Angst haben? Was sollte ihr noch Schlimmeres passieren als ein Kopfschuss?

Tabea stieg so wortlos in den Wagen, wie Annette es eben getan hatte. Eine Zeit lang sahen die anderen Beiden sie an. Dann seufzte Adrian.

»Dann fahren wir jetzt in die nächste Stadt und versuchen dort, ein Krankenhaus zu finden, wo noch jemand ist.«

Die Fahrt dauerte einige Zeit. Adrian fuhr auf die Autobahn und beschleunigte auf 190. Auch dort war keine Menschenseele. Inzwischen war es schon fast Nachmittag und die Sonne war immer noch nicht aufgegangen. Als sie nach einiger Zeit von der Autobahn abfuhren, waren sie in Leverkusen. Sie fuhren mehrere Polizeiwachen und Krankenhäuser ab, hielten dort und sahen nach. Nirgendwo war eine Menschenseele.

Die Verzweiflung wuchs mit jedem Stopp, den sie machten. Sie arbeiteten sich von Leverkusen weiter in Richtung Norden vor, bis sie schließlich kurz vor Wuppertal entschieden, es aufzugeben.

»Wir könnten versuchen, zur Landesgrenze zu fahren«, schlug Adrian vor. »Vielleicht finden wir dort jemanden.«

»Meinst du wirklich?«, fragte Annette vom hinteren Sitz.

»Nicht mehr heute ...«, bat Tabea. »Wir sind jetzt genug herumgefahren. Hier ist niemand.«

»Was sollen wir sonst tun?«, fragte der Polizist, während der bei einem Autobahnkreuz die richtige Ausfahrt suchte, um zurück nach Köln zu kommen.

»Wir sollten weiter dein Tagebuch durchgehen. Vielleicht finden wir Anhaltspunkte, wo wir die Kinder der Nacht finden.«

»Was?«, fragte Annette verwundert. Ach verdammt. Tabea dachte nach. Vielleicht konnte sie ihr erklären, wer die Kinder der Nacht waren, ohne sich auf die Vergangenheit zu beziehen. Konnte man diesen - Fluch - vielleicht so austricksen?

»Die Kinder der Nacht sind Menschen, die sich wie Adrian und ich verwandelt haben. Also mit weißer Haut, roten Augen ... und so.«

»Woher weißt du das denn?«

»H-habe ich im Internet gelesen«, stotterte sie.

»Achso.«

Es funktionierte. Sie blieb wage und bezog sich nicht auf die Ereignisse der vergangenen Monate. Diese sollten wohl vergessen bleiben.

Bevor sie wieder in Adrians Wohnung ankamen, fuhren sie noch bei einem Supermarkt vorbei. Dort holten sie sich jeder das, worauf er gerade Lust hatte. Adrian und Tabea nutzten die Chance und holten sich irre teures Grillfleisch. Annette rümpfte die Nase und nahm sich stattdessen vegane Schnitzel.

In Adrians Wohnung bereiteten sie sich das Essen zu. Ein herausragender Koch war offensichtlich keiner von den dreien. So warm, wie es war, sprach aber nichts dagegen, irgendwann eine kleine Grillparty zu veranstalten.

Die Angst vor dem Nichts

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