Читать книгу Die Angst vor dem Nichts - Krille Fear - Страница 4
Tabea - 4. Dezember 2020
ОглавлениеIrgendwann - sie erinnerte sich nicht mehr an den genauen Zeitpunkt - war sie eingeschlafen. Am nächsten Morgen wachte sie nackt und mit mörderischen Kopfschmerzen auf. Müde und verkatert zwang sie sich, einen Liter Wasser zu trinken und dann zu duschen.
Als sie ihre Haut im Licht des Badezimmers sah, wirkte sie noch blasser als gestern. Krass. Kam das nur von dem Lichteinfall oder wurde sie immer bleicher?
Tabea trocknete sich ab und ging zum Spiegel. Fuck. Ihre Haut war tatsächlich noch weißer geworden. Sie sah richtig kreidebleich aus. Sie musste dringend zum Arzt!
Den Tag zu überstehen, wenn man sich alkoholisiert hatte, war nicht leicht. Mehrmals musste sie sich konzentrieren, um sich nicht zu übergeben. Tabea hatte bestimmt einen ganzen Liter Kaffee getrunken. Müde zog sie sich eine Jeans und einen dicken Pullover mit einem Katzenmotiv an.
Um 13 Uhr hielt sie es dann nicht mehr aus und machte sich, verfrüht, auf dem Weg. Sollte sie vielleicht sofort in die Notaufnahme? Dort müsste sie wahrscheinlich länger warten, als jetzt beim Arzt.
Dr. Starr konnte sie zum Glück zu Fuß erreichen, auch wenn sie mehr als eine halbe Stunde brauchte. Vor der Eingangstür zur Praxis war eine lange Schlange. Eigentlich waren es nicht so viele Menschen, aber sie hielten alle einen Sicherheitsabstand von zwei Metern ein. Tabea reihte sich ein.
Nach wenigen Minuten des Wartens wurde ihr kalt. Sie zog sich die Kapuze ihrer Jacke über und den Mundschutz noch etwas höher, so dass er ihr Gesicht wärmte. Vor ihr hörte sie einige Menschen husten. Sie würde sich beim Warten auf den Termin noch anstecken und an dem Virus sterben, bevor sie überhaupt erfuhr, was mit ihrer Haut los war ...
Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis sie die Praxis überhaupt betreten konnte. An der Rezeption sah sie eine völlig erschöpfte Arzthelferin an.
Tabea reichte ihr ihr Kärtchen.
»H-hallo ...«, stotterte sie leise.
»Wie bitte?«, fragte die Frau laut.
»Hallo«, wiederholte Tabea etwas lauter. Sie hatte immer das Problem, dass sie zu leise sprach und stotterte, so dass die Menschen sie nicht verstehen konnten. Lag auch an der Angsterkrankung. »Ich heiße Tabea Ritter und hatte einen Termin um 16 Uhr.«
»Haben Sie Symptome?«
»Symptome?«, wiederholte Tabea verwundert. Seit dem Beginn der Pandemie war sie noch gar nicht beim Arzt gewesen.
»Fieber, Husten, Halsschmerzen, Geruchsverlust«, zählte die Frau auf.
»Nein, ich bin wegen Hautproblemen hier.«
Die Frau seufzte und verdrehte die Augen. Unter der Jacke, der Kapuze und dem Mundschutz konnte man Tabeas Haut kaum sehen. Das bisschen, dass man um ihre Augen herum sah, hielten die Menschen wohl für übertriebenes Make-up.
»Nehmen Sie bitte Platz!«, sagte die Frau und deutete auf die Tür zum Wartezimmer. Dieses war zum Bersten voll. Die Fenster waren trotz der Kälte geöffnet, da das Virus sich in gut gelüfteten Räumen wohl nicht so gut verbreiten konnte.
Fuck. So viele Menschen ... Und hier musste sie nun mehrere Stunden warten? Früher loszugehen war eine Scheißidee gewesen. Aber untätig herumzusitzen, hatte sie auch nicht mehr ausgehalten. Das Schlimmste war, wenn ihre unterschiedlichen Ängste um ihre Aufmerksamkeit stritten. Tabea konnte dann nur verlieren.
Ihr Herz schlug schneller und ihre Hände wurden feucht. Dann setzte sie sich auf den letzten freien Stuhl. Das Atmen fiel ihr schwerer. Oh nein ...
Eine Panikattacke in einem Raum zu bekommen, wo man die Maske nicht absetzen durfte, war das Schlimmste. Ruhig atmen, ermahnte sie sich.
Kopfhörer konnte sie sich auch nicht in die Ohren stecken. Dann würde sie verpassen, wenn man sie aufrief. Der Tag war beschissen. Sobald sie wieder zuhause war, würde sie sich wieder abfüllen. Bei dem, was sie hier leistete, hatte sie sich das verdient.
Ihr war zum Heulen zumute ... Warum war ihr Leben so furchtbar?
Tabea hatte schon öfter sehr dunkle Gedanken gehabt. Aber laut aussprechen durfte sie das nicht, sonst würde man sie noch zwangseinweisen und das war die absolute Horrorvorstellung für sie. Auf der geschlossenen Station mit einem Haufen von anderen Verrückten, würde sie durchdrehen vor Ängsten.
Niemand konnte ihr helfen. Sie war beim Psychiater gewesen, der ihr nur Medikamente verschrieben hatte. Als würde sie sich trauen, diese zu nehmen bei den krassen Nebenwirkungen, die auf der Packungsbeilage aufgelistet waren. Um einen Therapieplatz bemühte sie sich auch schon seit Monaten und alles, was sie bisher bekam, war diese Schlaftablette von einem Psychologen kurz vor dem Ruhestand, der ihre Geschichte sofort nach der Sitzung wieder vergessen hatte.
Tabeas Herz schlug schneller. Ihre Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen. Sie hatte das Gefühl, zu ersticken. Das war völlig unabhängig von dem Mund-Nasen-Schutz. Der Sauerstoff in dem Raum schien einfach verschwunden zu sein. Schlimm war es auch, zu sehen, wie entspannt all die anderen Menschen waren. Ihr gegenüber saß eine ältere, stark übergewichtige Frau. Sie sah gelangweilt aus, aber Panik hatte sie keine. Daneben saß ein junger Mann, der auf seinem Smartphone herumspielte. Völlig ohne Sorgen. Tabea beneidete sie alle so.
Dann kamen die Tränen. Man sollte sich ja wegen Corona nicht ins Gesicht fassen ... aber jetzt ging es nicht anders. Verzweifelt versuchte Tabea, sich die Tränen wegzuwischen, bevor sie sichtbar wurden. Sie konnte es nicht mehr lange zurückhalten. Aber sie wollte auch nicht aufstehen. Andere Menschen, Jene ohne Angsterkrankung, konnten nicht verstehen, dass sie nicht einfach zur Arzthelferin gehen konnte und sagen konnte, dass es ihr nicht gut ging. Das hätte nur ihre Angst getriggert, dass andere sie für eine Hochstaplerin hielten.
Eine Zwickmühle, aus der es kein Entrinnen gab. Eine Hölle, aus der es keinen Ausweg zu geben schien. Und das nur, weil sie beim Arzt saß. Sie konnte nicht mehr.
»Frau Ritter?«, rief die Arzthelferin in das Wartezimmer.
Als Tabea aufstand, fühlte sich alles ganz surreal an, als wäre sie in einer Traumwelt. Nichts hatte noch eine Bedeutung. Ihr Kopf fühlte sich an, als würde er in einem Goldfischglas stecken. Sie folgte der Arzthelferin durch den Flur in eines der Behandlungszimmer.
Hinter einem Schreibtisch saß der Arzt. Ein älterer Mann mit rasiertem, faltigen Gesicht - sofern sie das unter der Maske erkennen konnte - und grauen Haaren. Er trug einen weißen Kittel.
»Danke«, sagte er zu der Sprechstundenhilfe, die daraufhin die Tür hinter Tabea schloss. »Frau Ritter, was kann ich für Sie tun?«
Tabea konnte kaum sprechen, als sie sich auf den Stuhl ihm gegenüber setzte. Mit angsterfüllten Augen sah sie den Mann an und begann, zu hyperventilieren. Der Arzt sah verwundert auf.
»Was haben Sie?«
Hinter dem Arzt war eine große Fensterfron, wodurch die Sonne schien. Obwohl die Sonnenstrahlen die Stadt noch erhellten, schien es zu regnen. Einzelne schwarze Regentropfen schlugen mit einem lauten Poltern gegen das Fenster. Waren das Hagelkörner? Echt große Hagelkörner ... Warum waren sie schwarz?
»Frau Ritter?«
»E-entschuldigung ...«, stotterte sie. »Seit gestern hat sich die Haut an meinem gesamten Körper komplett schneeweiß verfärbt. Noch heller als bei einem Albino und ich wollte sichergehen, dass das keine gesundheitlichen Auswirkungen hat.«
Der Arzt sah sie einen Moment lang verwundert an. Glaubte er ihr nicht? Tabea blieb einfach regungslos auf ihrem Stuhl sitzen und beobachtete seine Reaktion. Von ihm für eine Hochstaplerin gehalten zu werden, war eine Alptraumvorstellung.
»Darf ich mal sehen?«, fragte er.
Die junge Frau stand auf und hängte die Jacke über ihren Stuhl. Dann zog sie ihren Pullover und ihr Oberteil in einem über den Kopf. Dabei verrutschte kurz ihr Mundschutz. Oben ohne vor dem Arzt zu stehen war etwas unangenehm, aber sie hatte ja noch den BH an.
Dr. Starr stand auf und tastete die Haut an ihrer Hüfte ab.
»Hm«, machte er. »Und das ist kein Bodypainting?«
Oh mein Gott, er hielt sie wirklich für eine Hochstaplerin. Tabea bekam einen fürchterlichen Schreck. Ihr rutschte das Herz in die Hose.
»D-das ist seit gestern so ...«, stotterte sie. »Heute morgen wurde es noch viel schlimmer. Gibt es denn keine Krankheit, die so etwas auslöst?«
Der alte Mann schüttelte den Kopf und sah sie skeptisch an.
»Auf der Website von meiner Krankenkasse war ein Artikel über Stigmatisierung oder so. Da stand etwas von fast 150 dokumentierten Fällen mit plötzlicher weißer Verfärbung der Haut.«
»Stigmatisierung? Was soll das sein?«
Tabea schloss die Augen, atmete langsam tief ein und dann wieder aus. Das war ein Alptraum.
»Kinder der Nacht«, stotterte sie fast flüsternd. »Haben Sie schon einmal von Kindern der Nacht gehört?«
Auf einmal ging der Arzt einen Schritt zurück. Dann senkte er den Kopf auf seine Brust. Seine Hände verkrampften sich und seine Finger zitterten wild. Der alte Mann schien nur noch flach zu atmen. Tabea sah ihn verwundert an.
Hatte er einen Schlaganfall? Die junge Frau beugte sich vor und versuchte, einen Blick in sein Gesicht zu werfen. Seine Augen waren geschlossen und sein Mund stand einen Spalt weit offen. Tabea runzelte die Stirn. Was war mit ihm los? Sollte sie etwas sagen?
Einen Moment später war es vorbei. Er öffnete wieder die Augen und sah sie an.
»Ich würde Sie an einen Dermatologen überweisen«, sagte er. »Eine Pigmentstörung dieser Art ist ungewöhnlich und da bin ich kein Fachmann für.«
Tabea riss die Augen auf.
»Was ...«, stotterte sie.
»Wie bitte?«
»Nichts.«
Der Mann setzte sich an seinen Schreibtisch und tippte etwas in den Computer ein. Schnell zog die junge Frau sich wieder an. Ihr Mund stand weit offen vor Schreck, was er wegen ihrer Maske zum Glück nicht sehen konnte.
Der Drucker neben dem Bildschirm gab laute piepende Geräusche von sich. Dann reichte der Arzt ihr eine frisch gedruckte Überweisung. Tabea nahm sie mit zitternder Hand entgegen und verließ, so schnell sie konnte, das Zimmer.
Ohne noch etwas zu sagen, flüchtete sie aus der Praxis. Draußen an der frischen Luft nahm sie die Maske ab und atmete tief durch.
Holy Shit ... Was war das denn gerade? Tabea machte keine Pause, sondern ging mit hohem Tempo zurück nach Hause. Waren alle um sie herum verrückt geworden? Sie musste daran denken, wie sie gestern in dem Stream der Nachrichtensendung den Mann gesehen hatte, wie er den genau gleichen Anfall hatte und dann danach einfach weiter moderierte. Fuck, war das gruselig. Bildete sie sich das ein? Garantiert! Sie übertrieb mal wieder und spann wilde Verschwörungstheorien. Wahrscheinlich würde sie morgen früh Echsenmenschen jagen, Corona für eine Erfindung der Illuminaten halten und sich nachts davor fürchten, dass der Mond sie in ein Windkraftwerk verwandelte.
Tief durchatmen, ermahnte sie sich.
Wurde sie verrückt? Wurde sie verrückt? Nein. Ihr Therapeut hatte gesagt, dass Verrückte nicht merken, dass sie verrückt waren.
Tabea blieb stehen und sah verwundert in den strahlend blauen Himmel. Es war keine einzige Wolke am Himmel. Eben hatte es doch noch geregnet, beziehungsweise gehagelt. Fuck. Jetzt war sie sich doch nicht mehr so sicher, ob sie nicht doch verrückt wurde. Schnell ging sie weiter.
Auf dem Weg schlug ihr Herz immer schneller. Ihr brach der Schweiß aus und ihre Hände wurden ganz feucht. Das war schlimmer als die Angstanfälle, die sie sonst hatte.
Okay, das reichte! Morgen früh würde sie wieder beim Psychiater anrufen und sagen, dass sie bereit war, Medikamente zu nehmen. Keine Nebenwirkungen konnten schlimmer sein, als das, was sie jetzt gerade durchmachte. Es war ja nicht zum Aushalten.
Tabea kam bei ihrem Haus an. Sie schloss die Tür auf, ging in das Treppenhaus und dann hinauf in die dritte Etage zu ihrer Wohnung.
Vor ihrer Wohnungstür saß jemand auf dem Boden.
Die Studentin erkannte die Person. Es war Annette, ihre Kommilitonin. Sie war die, die einer »Freundin« für Tabea am nächsten kam. Eigentlich war sie die Einzige, mit der Tabea überhaupt ab und zu sprach während der Vorlesungen.
»Hey«, grüßte die Kommilitonin. Sie war ein Jahr jünger als Tabea, aber dafür wesentlich größer. Sie hatte lange blonde Haare, eine schlanke Figur und ein hübsches Gesicht, das von einer riesigen Nerdbrille verdeckt wurde. Sie trug eine schicke Winterjacke und eine löchrige Bluejeans.
»Was machst du denn hier?«, fragte Tabea überrascht mit leiser Stimme.
»Ich komme bei dem aktuellen Übungsblatt nicht weiter und du warst nicht bei der Vorlesung.«
»Du warst noch nie bei mir zuhause ...«
Annette runzelte die Stirn.
»Ist alles okay? Du bist ja extrem blass.«
»I-ich weiß nicht ...«, stotterte sie. »Hautprobleme oder so. Ich komme gerade vom Arzt, aber der hat mir nur eine Überweisung zum Hautarzt gegeben.«
»Autsch«, sagte Annette darauf. »Bis du einen Termin beim Facharzt hast, ist das wahrscheinlich eh wieder vorbei. Also kannst du mir helfen?«
Die Übungsblätter waren so etwas wie wöchentliche Hausaufgaben, die alle Studenten in ihrem Kurs abgeben mussten. Sie wurden nicht benotet, aber ihre Abgabe war Pflicht für die Klausurzulassung. Die nächste Abgabe war morgen. Tabea hatte das Übungsblatt tatsächlich schon fertig.
»Ja«, seufzte sie und schloss die Wohnungstür auf. »Komm rein.«
Sie betraten ihre Höhle der Einsamkeit. Annette schloss die Tür hinter ihnen und sah sich dann neugierig um.
»Ganz schön spartanisch«, merkte sie an. Hatte sie Poster mit halbnackten Gitarristen erwartet?
Dann ging sie zu Tabeas Schreibtisch und nahm ein Bild in die Hand, das neben ihrem Monitor stand. Am Bilderrahmen war ein schwarzes Band. Was machte sie da?
»Wer ist das?«, fragte Annette. Tabea runzelte die Stirn. Verwundert nahm sie ihr das Bild aus der Hand und sah auf das Foto.
Es war ein Bild von ihr, als sie noch klein war. Sie saß auf dem Sofa im Haus ihrer Eltern und grinste frech. Neben ihr saß ein Junge, der etwas älter zu sein schien.
»Keine Ahnung«, murmelte Tabea. Woher kam dieses Bild? Das musste sie völlig vergessen haben. Wer war der Junge?
»Dein Bruder?«, fragte Annette und zeigte auf die Rückseite des Bilderrahmens. Tabea drehte das Bild um. Dort war eine Inschrift.
»Lieber Michael, ich werde dich nie vergessen. In Liebe - deine Schwester«, las Tabea vor. »Keine Ahnung. Ich bin Einzelkind. Vielleicht habe ich mir einen Bruder gewünscht, als ich klein war und das dann vergessen.«
»Achso.«
Annette ging zu ihrem Bett und schien sich weiter umzusehen. Skeptisch betrachtete Tabea das Foto. Wie konnte sie das Bild denn vollständig vergessen und ausblenden, wenn es direkt neben ihrem Laptop stand?
»Hast du diesen krassen Hagel mitbekommen?«, fragte Annette aus dem Badezimmer. Scheinbar wusch sie sich gerade die Hände oder so.
Tabea stellte das Bild zurück und atmete erleichtert aus.
»Ja«, sagte sie und musste fast schon lächeln. »Ich dachte schon, ich hätte mir das eingebildet.«
»Dachte ich auch«, rief Annette und erschien dann wieder in ihrem Schlafzimmer. »Schwarze Hagelkörner, obwohl keine Wolke am Himmel war. Echt schräg oder?«
»Total schräg.«
Okay. Sie war wohl doch nicht verrückt. Soziale Interaktion war kompliziert, aber irgendwie war es ganz angenehm, mal nicht alleine zu sein.
Sie packten ihre Unterlagen aus. Annette holte ihren Laptop aus ihrer Umhängetasche und die Studentinnen setzten sich nebeneinander auf das Bett.
Annette hatte im Grundkurs »Programmieren in C« einige Probleme, mitzukommen. Sie studierte eigentlich Biologie und brauchte den Kurs nur nebenbei.
»Ich kapiere immer noch nicht ganz, was Integer-Variablen so wirklich sind«, sagte sie und deutete auf die Aufgabe, bei der sie den Inhalt von zwei Variablen tauschen sollten, so dass die zweite Variable den Inhalt der ersten hatte und anders herum. Tabea war eigentlich auch kein Nerd. Sie musste nur irgendwas studieren, um Bafög zu erhalten, und Programmieren gelang ihr in der Schule meist ganz gut.
»Stell dir das wie zwei Gläser vor«, sagte Tabea. Dann holte sie schnell zwei Becher aus der Küche. Den einen füllte sie mit Leitungswasser und den anderen mit Cola.
»Also«, fuhr sie fort. »Wir wollen, dass die Cola in dem einen Becher ist und das Wasser in dem anderen Becher, ohne dass wir da was vermischen. Wie machen wir das?«
»Äh ...«, stotterte Annette. Tabea musste sich zurückhalten, nicht mit den Augen zu rollen. Dann schnipste ihre Kommilitonin mit dem Finger. »Wir nehmen einen dritten Becher, füllen das Wasser da rein, dann die Cola in den anderen und das Wasser in den einen Becher.«
»Jepp. Du hast eine Cola gewonnen«, beglückwünschte Tabea und reichte ihr den Becher. Annette nahm ihr den Becher ab und grinste.
»Und in der Uni bist du immer so introvertiert ...«
Tabea rollte mit den Augen.
»Ich bin nicht introvertiert. Ich bin Soziophob.«
»Heißt das«, begann Annette. »du wärst eigentlich gerne unter Menschen, aber traust dich nicht?«
Die junge Frau mit der kreidebleichen Haut nickte.
»Wow«, staunte ihre Kommilitonin. »Das wusste ich nicht. Du bist einsam?«
Tabea seufzte. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass Annette nicht die Hellste war. Sie war jetzt nicht direkt eine Tussi oder ein Richkid, aber man merkte ihr schon an, dass sie recht sorgenfrei vom Geld ihrer Eltern lebte. Sie trug Markenklamotten und hatte einen wesentlich teureren Laptop als Tabea.
Wahrscheinlich kiffte Annette zu viel. Sie roch recht häufig nach Gras, wenn sie in die Vorlesung kam. Und sie hatte einfach immer diesen Schlafzimmerblick. Na gut, das war vielleicht etwas klischeehaft.
»Warum hast du denn Ängste?«, fragte Tabeas unsensible Kommilitonin. Die Informatikstudentin rollte schon wieder mit den Augen.
»Ich habe eine generalisierte Angststörung«, erklärte sie. »Ich weiß nicht warum ich Ängste habe. Meine Kindheit war halt nicht so toll.«
»Und wovor hast du Angst?«
»Das ist ... schwer zu erklären. Vor allem und vor nichts. Irgendwie.«
»Hast du auch Alpträume?«
Die Frage überraschte sie.
»Fast jede Nacht«, erklärte sie. »Ich träume oft davon, dass ich vor etwas weglaufe. Manchmal sind das Zombies oder etwas ähnliches. Oft sind es Menschen, die mich erschießen wollen. Sie jagen mich durch die ganze Welt, die nur von ihnen bevölkert wird. Sie wollen mich mit einem Kopfschuss hinrichten. Obwohl das angeblich nicht geht, habe ich manchmal das Gefühl, sogar Schmerzen im Traum zu spüren, wenn sie mich treffen. Oft habe ich dann einen Streifschuss, der mir das Ohr zerfetzt und dann bin ich taub. Trotzdem renne ich dann weiter, aber sie kreisen mich immer weiter ein. Sobald sie mich dann umzingeln und mir in den Kopf schießen, wache ich auf.«
»Wow«, staunte Annette wieder. »Und wer jagt dich da?«
Tabea stand auf und ging an ihren Schreibtisch. Dort öffnete sie eine Schublade und holte einen Zeichenblock heraus. Sie blätterte ein wenig darin herum, dann reichte sie den Block ihrer Freundin.
»Wow«, sagte diese schon wieder, als sie das Bild betrachtete. »Du kannst ja wahnsinnig gut zeichnen.«
Tabea setzte sich wieder neben sie und sah sich die Zeichnung auch noch einmal an. Sie hatte die schwarze Gestalt, die aussah, als würde sie aus purer Dunkelheit bestehen, mit einer Einpunktperspektive gezeichnet. Die Konturen hatte sie mit einem Fineliner nachgezeichnet und dann schwarz ausgemalt.
»Diese Gestalten in meinem Traum sehen immer so aus, als würden sie aus einer pechschwarzen Materie bestehen, die so schwarz ist, dass das Auge sie nicht richtig verarbeiten kann und sie wie ein Loch im Sichtfeld aussehen. Das kann man in einem Bild natürlich nicht so richtig darstellen.«
»Das kann man sich auch nur schwer vorstellen«, fügte Annette hinzu und betrachtete weiter staunend die Zeichnung. »Das muss schlimm sein, wenn du sowas träumst. Hast du mal mit einem Arzt darüber gesprochen?«
Tabea seufzte.
»Ich versuche gerade einen Therapieplatz zu bekommen, aber leicht ist das nicht.«
Annette sah sie mitleidig an. Es tat zwar gut, dass alles Mal von der Seele reden zu können, aber eigentlich hatte sie nicht vor gehabt, ihr Mitleid zu erregen.
»Sollen wir uns vielleicht öfter mal so treffen?«, fragte sie. »Ich glaube, du kannst eine Freundin gebrauchen.«
»I-ich ...«, stotterte die Informatikstudentin. »Das sollte kein Hilferuf sein. Ich komme schon irgendwie zurecht.«
»Du gibst mir dauernd Nachhilfe.« Fuck. Sie sollte jetzt nicht denken, dass sie ihr etwas schuldete. »Komm, ich übernachte heute bei dir.«
Tabea und Annette streamten über den Laptop eine Serie über eine illegale Streamingseite. Zwischendurch hatten sie sich Pizza bestellt. Tatsächlich tat der Studentin die Gesellschaft irgendwie gut. Sie verzichtete sogar auf den Alkohol.
Im Gegensatz zu ihr hatte Annette überhaupt keine Berührungsängste. Sie kuschelte sich unter der Decke an sie und legte den Kopf auf ihre Brust. Was für sie völlig normal war, war für Tabea ein ungewohntes Gefühl. Zögerlich legte sie den Arm um ihre neue Freundin und streichelte dann über ihren Rücken.
Auf einmal wurde Annette dann viel wärmer. Richtig warm. Und sie begann zu schnarchen. War sie eingeschlafen? Irgendwie fühlte Tabea sich geschmeichelt, dass sie sich bei ihr so wohl fühlte, dass sie einfach einschlief. Auch sie war langsam müde, aber mit dieser riesigen Wärmflasche war es viel zu warm. Von ihrem Smartphone aus schaltete sie die Heizung etwas runter. In den letzten Semesterferien hatte sie die Thermostate an den Heizungen ausgetauscht mit solchen, die sie über eine App steuern konnte.
Kein Wunder, dass Annette so schlank war, obwohl sie problemlos eine XXL-Pizza alleine verschlingen konnte. Ihr Körper schien die Kalorien direkt in Wärme umzuwandeln.
Auf ihrem Laptop ging die aktuelle Folge gerade zu Ende. Mist ... Sie konnte nicht aufstehen, um die Nächste anzumachen, ohne Annette aufzuwecken. Die plötzliche Stille war beunruhigend und da ihre neue Freundin offline war, fühlte sie sich wieder etwas einsam. Das triggerte Angst ...
Tabea warf einen Blick auf die Zeichnung, die immer noch direkt neben ihr auf dem Bett lag. Der Mann aus ihrem Alptraum hatte schwarze Haare und kein Gesicht. Seine Haut war kreidebleich, so wie ihre jetzt, und seine Kleidung war pechschwarz. In ihren Träumen waren die langen schwarzen Mäntel so dunkel, dass ihr Auge sie kaum begreifen konnte.
Inzwischen war es dunkel geworden. Sie hatten kein Licht angemacht, da das Licht vom Bildschirm des Laptops ausgereicht hatte und sie zu müde waren, um aufzustehen. Jetzt schaltete der Laptop sich langsam in den Ruhemodus um und wurde dunkler. Als es ganz finster war, nahm Tabea ihr Smartphone in die Hand und aktivierte die integrierte Taschenlampe über einen Button in der Statusleiste.
Dann schrie sie auf.
Vor ihrem Bett stand ein Mann. War das echt? Bildete sie sich diese Gestalt nur ein?
Annette wachte durch ihren Schrei sofort auf und sah sich erschrocken um. Sofort bemerkte sie den Eindringling ebenfalls, schreckte hoch und krabbelte rückwärts an die Wand.
»Was?«, schrie sie erschrocken.
Tabea sah den Fremden mit panischen Augen an und richtete die Taschenlampe auf ihn. Er stand keine zwei Meter von ihnen entfernt und richtete eine Pistole auf die Studentinnen. Seine Kleidung war so schwarz, dass sie das Licht ihrer Taschenlampe zu verschlingen schien.
»Nicht!!«, rief Annette panisch und hob die Hände. Tabea leuchtete nach oben auf das Gesicht des Mannes. Doch hatte er keines. Er sah aus, wie der Mann von ihrer Zeichnung und wie die Gestalten in ihren Alpträumen.
»Das kann doch nicht die Wirklichkeit sein«, kreischte die Studentin panisch. »Das muss doch ein Traum sein. Ich bin eingeschlafen und träume das. Oder?«
Sie leuchtete dem Fremden direkt in das nicht vorhandene Gesicht. Der Mann, der eine Kapuze über seinen Kopf gezogen hatte, bewegte diesen langsam nach links. Dann änderte er die Richtung und drehte den Kopf nach rechts. Ein Kopfschütteln.
»B-bitte ...«, stotterte Annette. Tabea sah zu ihr. Dann folgte ein lauter Knall. Die Kugel schleifte Annettes Kopf und zertrümmerte das Ohr, das ihr zugewandt war. Blut spritzte herum und besudelte Tabeas Gesicht und ihre Klamotten. Die Angeschossene verlor sofort das Bewusstsein.
Entsetzt sah Tabea wieder zu dem Mann, der seine Pistole jetzt auf ihre Stirn richtete.
»Das ist ein Traum!«, sagte sie entschlossen. »Fick dich Traum! Fick dich!«
Der Kopf des Mannes wackelte leicht vor und zurück. Dabei schien sich unter der Kleidung, sein Bauch mitzubewegen. Es wirkte, als würde er lachen.
Dann legte er den Finger an den Abzug und drückte ihn durch. Ein lauter Knall folgte und sofort wurde Tabea schwarz vor Augen.