Читать книгу Murder2share – Mord zum Teilen - Kris Wordsmith - Страница 3
Die geheimnisvolle Nachricht
Оглавление„Hey, wie geht es dir, du Bitch?“
Diese Nachricht erschien auf dem Smartphone-Display. Tina erschrak. Der Absender war unbekannt. Wer war es? In den letzten Tagen hatte sie mehrere eigenartige Nachrichten erhalten. Hatte jemand ihre Handynummer veröffentlicht? Aber wer würde so etwas tun? Nur ihre vertrautesten Freunde besaßen ihre Nummer. Sie überlegte es sich drei Mal, bevor sie jemandem ihre Nummer anvertraute. Sie dachte nach. Es fiel ihr niemand ein, der ihre Nummer veröffentlichen würde. Erlaubte sich jemand einen Scherz? Lustig war das nicht mehr, dachte sie. Wer würde sie als „Bitch“ bezeichnen? Das war unter der Gürtellinie.
Sie ignorierte die Nachricht und widmete sich wieder dem Video. Es musste bis zum Abend fertiggestellt sein. Sie hatte gar keine richtige Lust. Doch ihre Follower warteten auf einen neuen Beitrag. Seit zwei Tagen hatte sie kein Video mehr hochgeladen. Tina fühlte sich antriebslos. Sie dachte wieder an die Nachricht. Ihre Handynummer musste um jeden Preis geheim bleiben. Immerhin war sie ein Star. Zumindest fühlte sie sich wie ein Star. Letzte Woche hatte sie endlich die Million geknackt. Das musste sie sich noch einmal vor Augen führen, weil die Zahl so unglaublich war: Sie hatte über eine Million Follower in ihrem Kanal. Ihr bestes Video hatte über fünf Millionen Klicks. Das war ein Grund zum Feiern. Warum war sie dann nicht in Feierlaune? Seit vier Jahren betrieb sie ihren Videoblog. Seit dem letzten halben Jahr lief es richtig gut für sie. Ihre Werbeeinnahmen schossen in die Höhe. Sie bekam unzählige Produkte geschenkt, um sie zu bewerten. Die Hersteller umwarben sie wie einen Star. Das schmeichelte ihr. Sie konnte es sich sogar schon erlauben, Produkte abzulehnen. Ihre Meinung hatte Gewicht. Eine Million Menschen vertrauten ihr.
Vor vier Jahren hatte niemand an sie geglaubt. Ihre Freunde hatten sie verlacht. Sie hatte die Hersteller darum betteln müssen, ihr kostenlose Produkte zu senden. Anfangs hatte sie die Produkte wieder zurückschicken und sogar die Versandkosten übernehmen müssen. Diese Tage waren vorbei. Sie hatte es geschafft. Sie hatte ihr Hobby zum Beruf gemacht. Jetzt konnte sie gut davon leben. Anfangs hatte sie sich auf Beauty-Tipps und Pflegeprodukte beschränkt. Mittlerweile bewertete sie eine Bandbreite unterschiedlichster Artikel. Außerdem ließ sie ihre Follower auch vermehrt an ihrem Privatleben teilhaben. Das steigerte die Klickzahlen noch einmal enorm. Aus dem kleinen Beauty-Blog war in nur vier Jahren ein erfolgreicher Lifestyle-Kanal geworden. Aus der unbedeutenden Nano-Influencerin war eine reichweitenstarke Mega-Influencerin geworden. Tina war stolz auf sich.
Eine neue Nachricht poppte auf dem Display ihres Smartphones auf: „Hey, du Bitch, soll ich deiner Freundin Isa ein Geheimnis verraten?“
Sie war schockiert. Woher wusste der Absender von ihrer Freundin Isa? Das war doch ein Geheimnis. Sie verheimlichte nämlich, dass sie lesbisch war und mit einer Frau zusammenlebte. Ihr bester, schwuler Freund Tom spielte in den Videos ihren Partner. Tina dachte, das würde bei ihren Followern besser ankommen. Außerdem wollte Isa nicht in der Öffentlichkeit stehen.
Woher wusste der Absender von Isa? Erlaubten sich Isa oder Tom einen Scherz? War es einer von ihnen, der ihr diese Nachrichten sandte? Sofort schickte sie ihnen eine Nachricht. Doch niemand antwortete sofort. Wahrscheinlich arbeiteten sie gerade. Isa war Fitness-Coach in einem Studio. Tom war Friseur.
Tina war ungeduldig, doch sie musste warten. Sie schaute sich im Zimmer um. Ihr Blick wanderte über die vielen neuen Produkte, die sie noch bewerten musste: Ein neuartiger BH mit Sensoren, welche die Temperatur messen konnten, eine digitale Pille mit Verhütungs-Chip und neue Hautcremes.
Sie hatte keine Lust, ein Video zu machen. Doch ihre Follower-Zahlen fielen schon wieder. Sie musste unbedingt ein neues Video ins Netz stellen. Sie war wie getrieben. Ihre Follower durften nicht unter die Million zurückfallen. Das war eine magische Grenze. Diese Zahl vermittelte ihr Glück. Sie leitete ihren eigenen Wert von dieser Zahl ab. Sie erinnerte sich an die Einhunderttausendmarke. Damals erschien ihr diese Zahl astronomisch. Heute war es nichts mehr. Bis zur Fünfhunderttausendmarke dauerte es über drei Jahre. Die letzten fünfhunderttausend Follower kamen ziemlich schnell. Wer weiß, vielleicht würde sie bald zwei Millionen erreichen? Das lag an ihr. Sie musste nur die richtigen Videos liefern.
Doch sie war müde geworden über die Jahre. Vor der Kamera musste sie stets ein freundliches Gesicht aufsetzen, auch wenn sie müde oder traurig war. Sie hatte das Business von Grund auf gelernt. Sie wusste, worauf es ankam. Sie wusste, wie man die Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Sie wusste, dass man etwas Neues bringen musste. Man musste den anderen immer einen Schritt voraus sein. Sie beobachtete ihre Konkurrentinnen ganz genau. Sie verglich sich ständig mit ihnen. War sie besser? Sah sie hübscher aus? Bewertete sie interessantere Produkte? War sie charismatischer, witziger, einzigartiger? Griff sie jeden neuen Trend auf? Sie schaute sich stundenlang andere Blogs aus den USA und Asien an, um frühzeitig neue Trends zu erkennen und sie aufzunehmen.
Manchmal wurde es zum Zwang. Sie stritt sich mit Isa darüber, wenn sie ihr zu wenig Zeit widmete. Manchmal musste sich Isa in der Wohnung verstecken, damit sie ihre Videos aufnehmen konnte. Diese öffentliche Leugnung von Isa zehrte an ihrer Beziehung. Manchmal war Isa auch auf Tom eifersüchtig, weil er öffentlich ihren Partner spielen durfte.
In den vier Jahren war Tina zu einer Schauspielerin geworden. Sie musste Tom an den Einnahmen beteiligen. Er war fester Bestandteil ihres Kanals geworden. Anfangs hatte es sich durch einen witzigen Zufall ergeben, dass er in den Videos zu ihrem Lebenspartner erklärt wurde. Während eines Life-Videos war er zeitweilig im Hintergrund zu sehen. Ihre Follower fragten sie dann, ob das ihr Freund sei. Das brachte sie auf die Idee. Außerdem steigerte ein Freund die Klickzahlen. Doch mit der Zeit wurde diese Rolle von Tom immer zwanghafter. Die Follower erwarteten immer mehr. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Tom war in die Rolle ihres Freundes gepresst. Er war nicht mehr wegzudenken.
Tina nahm den BH mit den Temperatursensoren in die Hand. Wie sollte sie diesen bewerten? Dazu musste sie ihn erst einmal tragen. Welchen Nutzen hatte es, die Temperatur der Brust zu messen? Angeblich konnte damit das Brustkrebsrisiko festgestellt werden. Das hörte sich nicht gut an. Krebs war kein beliebtes Thema. Sie legte den BH weg und widmete sich der Pille. Diese hatte einen integrierten Mikro-Chip. Eine digitale Pille zur Empfängnisverhütung? Das ging ihr fast zu weit. Sie musste doch auch nicht verhüten, weil ihre Partnerin Isa eine Frau war. Das wussten ihre Follower aber nicht.
Doch wenn sie Sex mit Tom hätte, wäre diese Pille vielleicht von Nutzen. Daraus konnte sie doch eine Geschichte stricken. Sollte sie das wirklich tun? Sie schaute sich die weiteren Artikel an, die auf dem Schreibtisch lagen. Sie fand ein Höschen mit integrierten Vibratoren, die über App am Smartphone gesteuert werden konnten. Der Mann konnte die Partnerin über Fernsteuerung stimulieren, wenn sie das Höschen trug – sogar in der Öffentlichkeit. Ging das nicht zu weit? Doch Sexthemen kamen immer gut an und steigerten die Klickzahlen. Außerdem würden ihr die Hersteller des Vibrators und der Pille viel Geld zahlen. Es winkten eine Extra-Prämie und weitere Geschenke. Sie war zwar dadurch nicht mehr ganz unparteiisch, aber so lief das Geschäft. Letztlich war sie abhängig von den Herstellern. Bei ihren Followern stellte sie sich als neutral und unabhängig dar, aber der Wahrheit entsprach das nicht immer.
Aufmerksam las sie die Handbücher des Höschens und der Pille durch. Dann richtete sie sich ihr Haar und schminkte sich. Sie musste perfekt aussehen. Sie zog ein Top mit einem extra großen Ausschnitt an. Das passte zum Thema. Außerdem trug sie einen Push-Up-BH.
Es war so weit. Sie setzte sich vor die Kamera und schaltete sie ein: „Hallo meine Lieben, bitte verzeiht, dass ich seit zwei Tagen nichts mehr von mir habe hören lassen, aber ich habe mit Tom ein paar schöne Tage verbracht.“
Das war zwar gelogen, aber wer konnte das schon überprüfen? Es war eine perfekte Geschichte.
„Wir haben ein paar romantische Tage in den Bergen verbracht. Dabei haben wir ein paar neue Produkte ausprobiert, die ich euch heute vorstellen will. Ich hoffe, es geht euch gut.“
Sie nahm das Höschen mit dem Vibrator.
„Das ist ein neues Höschen, mit dem ihr eure Liebsten verwöhnen könnt. Es hat einen integrierten Vibrator und lässt sich mit App steuern. Das habe ich mit Tom ausprobiert. Während wir shoppen gegangen sind, hat er mich über sein Smartphone remote gestreichelt. Und ich muss sagen, es fühlt sich an wie echt. Es stimuliert voll. Es reagiert richtig gut auf das Smartphone. Das war richtig freaky. Aber wir mussten dann aufhören, weil wir ja in einem Geschäft waren. Die Leute haben mich verwundert angeschaut. Zuhause haben wir dann weitergemacht, aber mehr verrate ich euch nicht. Ich kann mir auch vorstellen, dass das Höschen voll geil bei Fernbeziehungen ist. So kann man sich auch aus der Distanz berühren. Jetzt fehlt nur noch das Pendant für Männer, damit die Mädchen auch ihre Jungs beglücken können. Ich frage mal den Hersteller, ob das in Entwicklung ist.“
Tina überlegte. Sie versuchte, so stark wie möglich zu lächeln. Dann nahm sie die Pille.
„Jetzt muss ich euch eine echt geniale Erfindung zeigen. Ich habe sie mit Tom auch gleich ausprobiert. Es ist eine digitale Verhütungspille mit Mikro-Chip. Sie ist genauso sicher wie die herkömmliche Pille, aber man hat nicht mehr die Nebenwirkungen der Hormone bei der normalen Pille. Viele von euch vertragen das ja nicht, ich auch nicht. Deshalb mussten wir immer Kondome verwenden. Aber mit dieser neuen Pille ist es echt geil. Es fühlt sich halt ohne Kondom doch viel besser an. Also diese elektronische Pille ist eine einzigartige Erfindung. Mal sehen, was sie kosten wird. Das wird für viele von euch sicher ein wahrer Lebensretter.“
Tina wurde unterbrochen, weil ihr Smartphone aufleuchtete. Es war eine neue Nachricht: „Was ist, du Bitch, soll Isa dein Geheimnis erfahren?“
Sie erschrak. Sie stoppte die Videoaufnahme.
„Wer bist du? Lasse mich in Ruhe!“ antwortete sie.
War das richtig? Sollte sie diese Nachrichten nicht einfach ignorieren und löschen? So ließ sie sich darauf ein.
Eine weitere Nachricht erschien: „Ich weiß, dass du sie vor einem Jahr betrogen hast.“
Angst stach wie ein Messer in ihr Herz. Das war richtig. Sie hatte Isa tatsächlich betrogen mit einem Mann. Aber woher wusste das der Absender? Das wusste niemand. Das hatte sie niemanden erzählt. War der Absender etwa der Mann, mit dem sie Isa betrogen hatte? Sie überlegte. Wie war sein Name? Ihr fiel er nicht mehr ein. Außerdem war es ein Spanier, der kein Deutsch sprach. Wusste der Absender das wirklich? Oder unterstellte er es einfach? Sie beschloss, nicht mehr zu antworten und die Nachrichten zu ignorieren.
Es war schon spät. Bald würde Isa nach Hause kommen. Sie musste noch schnell das Video abschließen und hochladen. Sie öffnete die Kamera ihres Smartphones und betätigte den roten Aufnahmeknopf.
„Hey meine Lieben, ich führe euch noch kurz durch meine Wohnung. Tom und ich haben neue Teppiche verlegt.“
Sie hielt das Smartphone nach vorne und ging durch die Wohnung.
„Mit dem Codewort ‚Isa30‘ erhält ihr Dreißig Prozent Rabatt bei Teppichkönig, wo wir sie gekauft haben. Service und Preisleistungsverhältnis sind echt super.“
Während sie am Schlafzimmer vorbeiging, bekam sie eine Idee und betrat es:
„Ach ja, das ist mein neues Bett. Die Matratze hat unzählige Sensoren, die meine Schlafaktivität messen. Das bespreche ich ausführlicher in einem zukünftigen Video.“
Sie filmte jedes Detail des Bettes. Das reichte für heute. Jetzt ging es an die Videobearbeitung.
Sie setzte sich wieder an den Computer. Sie war nicht zufrieden mit ihrem Aussehen. Sie hätte ein helleres Makeup und stärkeren Eyeliner benutzen müssen. Ihr Gesicht wirkte zu breit im Video, dachte sie. Außerdem hatte sie einmal genuschelt. Doch sie hatte keine Lust mehr, ein neues Video aufzunehmen. Sie setzte einfach einen Untertitel an die Stelle: „Sorry fürs Nuscheln.“
Das machte das Video zudem authentischer und natürlicher. Hatte sie schon zu viele Falten? Sie war doch erst Dreißig. Ihre Augenbrauen mussten gezupft werden. Außerdem waren ihre Nägel nicht gefeilt. Sie wirkte müde auf dem Video. Außerdem war ihr Lachen künstlich. Würden das ihre Follower erkennen? Sie setzte einen Weichzeichner über das Bild, damit ihre Haut glatter aussah. Er durfte nicht zu stark sein, damit man ihn nicht bemerkte. Natürlichkeit war das Wichtigste, auch wenn sie künstlich erzeugt wurde. Außerdem hellte sie ihre Haarfarbe etwas auf. Helles Blond kam an. Sie hatte schon zu lange keinen Haarbleicher mehr benutzt. Der digitale Aufheller war ebenso gut. Sie selbst staunte über ihr helles Haar auf dem Video. Dann vergrößerte sie noch ihre Augen. Der Unterschied war nur unmerklich, aber er war da. Große Augen wirkten niedlicher. Digital war heute fast alles möglich. Die Matratze gefiel ihr nicht. Sie veränderte die Farbe.
Endlich war sie fertig. Der Klick auf den Upload-Button war eine Erlösung für sie. Freudig sah sie dabei zu, wie der Prozentbalken immer größer wurde. Sie beobachtete, wie die Daten ins Netz geladen wurden, wie sie in die Cloud schossen, sich verteilten in der Welt, in den allumspannenden digitalen Äther übergingen, ewig und unendlich wurden. Die Daten wurden zu Lichtsignalen, strömten über die Meere um die Welt, wurden wieder zu elektrischen Signalen, zu hochfrequenten Wellen, schwirrten unsichtbar durch die Luft, bis sie auf die Empfänger stießen. Dort verwandelten sie sich wieder in Licht. Welch ein Wunder war das. Und doch war es gewöhnlich geworden. Bald würden ihre Daten überall sein, sie würden hunderttausendfach verbreitet sein, auf unzähligen Screens würde ihr Antlitz erscheinen, durch zahllose Lautsprecher würde ihre Stimme zu hören sein. Sie war ein Star. Sie war stolz auf sich. Sie zählte. Sie umarmte die Welt.
Mit Glück betrachtete sie die Statistik. Die Zahlen schossen in die Höhe. Schon nach wenigen Sekunden hatte sie Hunderte von Aufrufen. Nach einigen Minuten waren es Tausende. Sie war im Freudentaumel. Sie vergaß alles um sich herum. Das Video nahm Fahrt auf, es erschien auf unzähligen Startseiten und Empfehlungslisten. Das Video fuhr steil bergauf, so steil wie noch nie. Der Algorithmus liebte sie. Sie liebte ihn auch. Sie wusste genau, auf was er stand. Er war ihr heimlicher Freund. Sie stellte sich ihn als einen Mann vor, den sie befriedigen musste.
Am meisten Angst hatte sie vor Veränderungen des Algorithmus. Doch jetzt war sie wie in Trance. Zehntausend Aufrufe waren es nun. Sie rechnete, dass es bis morgen eine Million sein könnten. Wie sehr sehnte sie sich wieder nach einem viralen Video. Ihr bestes Video hatte über fünf Millionen Aufrufe. Doch das lag drei Monate zurück. Damit hatte sie nicht gerechnet. Es war ein gewöhnliches Video, dachte sie. In dem Video unterhielt sie sich mit Tom über Vorlieben im Bett. Es war ein spontanes Video. Trotzdem war es erfolgreich.
Wie gerne würde sie diesen Erfolg wiederholen. Doch man konnte nichts vorhersehen, nichts planen. Der Algorithmus ging manchmal eigenartige, unergründliche Wege.
Sie las die unzähligen Kommentare, die sich mittlerweile unter ihrem Video angehäuft hatten. Die Liste war unendlich. Sie wurde überflutet von Smileys und Beglückwünschungen. Sie wischte mit ihrem Zeigefinger über das Display. Sie streichelte es.
Was repräsentierte diese eigenartige, künstliche Pixelwelt der Icons und Emojis? Was bedeuteten diese schrillen Farben, diese Perfektion, Glätte und Gleichförmigkeit? Diese Welt war zu einem eigenständigen Raum geworden. Es war ein Zauberreich des Zuspruchs, ein Positivraum, der nur den Like kannte.
Sie vergaß die Zeit. Sie musste doch das Abendessen für Isa vorbereiten. Schnell ging sie in die Küche. Der smarte Kühlschrank meldete, dass keine Milch mehr da war. In Gedanken war sie immer noch in ihrem Video.
„Alexia, spiel chillige Musik.“ sprach sie.
Doch es spielte keine Musik. Tina ging zu dem intelligenten Lautsprecher und sagte erneut: „Spiel chillige Musik!“
Doch es passierte nichts. Plötzlich sprach Alexia, ihr Sprachassistent, zu ihr: „Hey, was ist jetzt? Soll ich Isa erzählen, dass du sie betrogen hast?“
Sie wurde wie aus einem Traum gerissen. Wie war das möglich? Wer sprach da zu ihr? Sie hatte doch nur gute Erfahrungen mit Alexia gemacht. Wer sprach da zu ihr? Es war der gleiche Wortlaut wie in der Nachricht auf ihrem Smartphone. Doch wie konnte das Alexia sagen? Das war unmöglich.
„Was hast du gesagt?“ fragte sie.
Doch es kam keine Antwort mehr. Jetzt wurde die Musik gespielt, die sie sich gewünscht hatte. Das Gerät wurde ihr unheimlich.
„Alexia, was hast du gerade gesagt? Was sollst du Isa erzählen?“
„Ich verstehe dich nicht.“ antwortete Alexia.
Hatte sie sich etwa verhört? Nein, das hatte sie nicht.
„Alexia, was sollst du Isa erzählen?“
„Ich weiß nicht, was du meinst. Soll ich eine Nachricht für Isa aufnehmen?“
„Nein.“
Sie wurde wütend. Wer hatte ihr diese Nachrichten geschickt? Wer hatte sogar Zugriff auf ihre smarten Geräte in der Wohnung? Erlaubte sich Tom einen Scherz? Aber Tom wusste doch nichts von ihrer Affäre vor einem Jahr.
Sie musste das Essen vorbereiten. Sie blickte auf ihr Smartphone und öffnete die Gesundheits-App. Heute hatte sie zu wenig Kalorien verbraucht. Sie hatte zu wenig Bewegung. Ihr Puls war zu hoch. Ihre Cholesterinwerte waren zu hoch. Deshalb musste sie ein kalorienarmes Essen zubereiten.
„Alexia, welche Gerichte kann ich zubereiten, die wenig Kalorien haben, mit Lebensmitteln aus dem Kühlschrank?“
„Salat, Kartoffelgratin, gekochte Karotten.“
Das gefiel ihr nicht. Ein Gratin dauerte viel zu lange. War sonst nichts mehr im Kühlschrank?
„Alexia, was ist noch im Kühlschrank?“
„Joghurt, Wasser.“
Sonst nichts mehr? Ihr machte das nichts aus, aber Isa hatte immer Lust auf Fleisch. Sie bereitete den Salat zu und warf Kartoffeln und Karotten in einen Kochtopf.
„Hi.“ vernahm sie die Stimme von Isa. Sie freute sich und lief in den Flur. Da war Isa. Sie umarmten sich. Tina fuhr mit ihrer Hand durch Isas kurzes, schwarzes Haar. Das gefiel ihr. Isa sah wie ein Junge aus. Ihr Körper war muskulös. Das hatte sie ihrer Arbeit im Fitnessstudio zu verdanken. Sie küssten sich. Sie waren seit drei Jahren ein Paar.
„Alles gut?“
„Ja, hab ein neues Video hochgeladen. Bei dir?“
„Habe mir, glaube ich, einen Muskel überdehnt.“
„Hast du es wieder mit den Gewichten übertrieben?“
„Nein, man muss viel Gewicht nehmen, wenn man die Muskeln aufbauen will.“
„Aber du hast doch schon so viele.“
Sie nahmen am Küchentisch Platz. Tina schaute Isa tief in die Augen. Sie bekam ein schlechtes Gewissen. Sie musste wieder an die Nachrichten denken. Sie musste daran denken, wie sie sie vor einem Jahr betrogen hatte mit einem Mann. Was hatte sie sich dabei gedacht? Es war auf einer Spanienreise passiert. Tina hatte für ihren Videoblog ein Weingut besucht. Isa musste leider zu Hause bleiben. Der Weinproduzent hatte nur einen Flug bezahlt. Am Abend nach der Weinverkostung war es passiert. Sie hatte zu viel getrunken. Sie war mit dem Sohn des Winzers in den Weingarten gelaufen.
„Was ist los meine Maus?“ fragte Isa.
„Nichts.“
„Doch, es ist doch was.“
Konnte Isa ihre Gedanken lesen? Sie schämte sich so sehr. Wie hatte sie ihr das antun können? Sie liebte sie doch. Von wem waren nur diese Nachrichten? Wieso kam dieses Thema wieder auf? Es war doch über ein Jahr her.
Warum war sie nur alleine zum Weingut gereist? Im Nachhinein hatte sich die Partnerschaft mit dem Weingut nicht ausgezahlt. Bei ihren Followern kam Wein nicht so gut an. Auf die versprochenen Weinflaschen wartete sie heute noch.
„Was ist jetzt?“ fragte Isa.
„Ach, ich habe nur Stress wegen Video. Ich muss so ein doofes Vibrator-Höschen testen.“
„Wie bitte?“ Isa lachte. „Was es alles gibt. Wer kauft diesen Schrott?“
„Du kannst es doch mal ausprobieren. Mit einer App auf meinem Smartphone kann ich dich dann stimulieren.“
„Nur über meine Leiche. Ich mag diese technischen Gimmicks nicht. Ich möchte lieber von deiner Hand berührt werden.“
„Ich auch.“