Читать книгу Mit eurem Blut sollt ihr bekennen - Kristin Adler - Страница 10

5

Оглавление

Eine Weile stand der Mann ganz starr auf dem breiten Fenstersims, dann beugte er sich vor. Das Geschrei, das losbrach, ließ ihn zusammenzucken und zurückweichen. Er wankte wie ein Betrunkener, ehe ein Ruck durch seinen Körper ging und er erneut auf den Rand des Fenstersims zutrat. Nur mehr ein Schritt, und er würde in die Tiefe fallen. Wegen der geringen Höhe könnte er den Sprung, wenn auch verletzt, überleben – es sei denn er sprang mit dem Kopf voran. Und wirklich ... eben streckte er beide Hände nach unten, als würde ein Schwimmer zu einem Kopfsprung ansetzen.

„O, mein Gott!“

Clara fühlte warme Speicheltröpfchen auf ihrem Hals. Sie hatte nicht bemerkt, wie Bischof Engelhardt vom Rednerpult zurückgewichen war und sich auf seinen Stuhl plumpsen ließ. Er war ganz rot im Gesicht geworden, japste nach Luft.

Nicht nur Clara hatte seinen entsetzten Aufschrei gehört. Auch der Mann, der eben zum Sprung angesetzt hatte, straffte seinen Körper.

„Ach, jetzt fällt Ihnen Gott wieder ein?“, fragte er heiser von oben herab.

Es war Othmar Rautenberg, der Bistumsökonom der Diözese und der Vorsitzende des Vermögensverwaltungsrat des Bischöflichen Stuhls. Vorhin hatte Clara ihn begrüßt und mit seiner Frau Judith geplaudert, die später ein Aspirin für ihren Mann gesucht hatte.

Na, so schlimm können seine Kopfschmerzen nicht sein, dass er sich deswegen gleich umbringen will.

Clara schämte sich ein wenig für diesen zynischen Gedanken, zugleich hatte sie das Gefühl, dadurch nicht mehr ganz und gar vom Entsetzen ausgehöhlt zu sein, und das gab ihr die Kraft, aufzuspringen. Alle Anwesenden starrten auf Othmar Rautenberg, nur sie sah sich nach Judith um, die Einzige, die ihren Mann vielleicht zur Vernunft bringen konnte. Leider entdeckte sie sie nirgendwo. War sie immer noch auf der Suche nach Aspirin? Waren die Kopfschmerzen vielleicht ein Vorwand ihres Mannes gewesen, um sie wegzuschicken?

Plötzlich hätte sie schwören können, dass Othmar Rautenberg nicht springen würde, zumindest nicht sofort. Sonst hätte er sich nicht eben an den Bischof gewandt.

Er ... er will reden ...

Oder vielmehr: Er will gehört werden.

Tatsächlich erhob er eben wieder seine Stimme: „Wer das Amt eines Bischofs anstrebt, der strebt nach einer großen Aufgabe. Deshalb soll der Bischof ein Mann ohne Tadel sein, nur einmal verheiratet, nüchtern, besonnen, von würdiger Haltung, gastfreundlich, fähig zu lehren; er sei kein Trinker und kein gewalttätiger Mensch, sondern rücksichtsvoll; er sei nicht streitsüchtig und ...“ Othmar Rautenberg machte eine kurze Pause, „und er sei nicht geldgierig“, schloss er mit Nachdruck.

Als er zu reden begonnen hatte, war Clara kurz überzeugt gewesen, er wäre doch betrunken, aber dann erkannte sie den Text. Er stammte aus der Bibel ... dem Neuen Testament ... genauer gesagt aus dem Brief des Apostels Paulus an Timotheus, in dem unter anderem das Idealbild eines Bischofs und eines Diakons entworfen wurde.

Bischof Engelhardt hatte sich wieder ein wenig gefangen und erhob sich. „Was um Himmels willen treiben Sie da?“

„Das wissen Sie ganz genau.“

Clara vermeinte, dass sein Gesicht noch um eine Spur röter wurde, aber sie schenkte dem Bischof nicht lange ihre Aufmerksamkeit. Gleich hinter der Tribüne befand sich die Tür zu den Räumen der Sonderausstellung und von dort führte eine Treppe in den ersten Stoff. Während alle wie erstarrt hochblickten, war sie die Einzige, die auf die Türe losstürzte, sie aufriss, in den ersten Stock hoch hastete und durch einen Notausgang jenen langen Gang erreichte, wo alte Heiligenskulpturen, Kruzifixe und Altarbilder ausgestellt wurden.

Othmar Rautenberg stand im dritten Fenster. Obwohl sie noch weit genug von ihm entfernt war und nicht wie er in die Tiefe schauen musste, verursachte allein sein Anblick ein eigentümliches Ziehen im Magen – gleiches Gefühl, das sie auch erlebt hatte, als sie einst von den Klippen von Cassis nahe Marseille aufs Meer geblickt oder von einem Turm in Lucca aus die Dächer der Altstadt überschaut hatte.

„Herr Rautenberg ...“

Während sie hochgerannt war, hatte er wohl weitere Verse aus der Bibel zitiert. Nun verstummte er und drehte den Kopf leicht zur Seite. Vergebens suchte sie seinen Blick, er starrte an ihr vorbei auf einen imaginären Punkt. Wie blass er war, leichenblass.

„Herr Rautenberg, was auch immer ...“

Er blickte wieder nach unten.

„Sie wissen doch auch, was ihr rotes Gewand bedeutet“, murmelte er.

Clara war nicht sicher, ob sie ihn richtig verstanden hatte. Er hatte den Kopf so tief gesenkt, dass sein Hemdkragen seine Stimme dämpfte. Und anders als bei seiner an den Bischof gerichteten Rede hatte er nicht mehr viel Kraft in die Worte gelegt – die letzten Worte, die er dieser Welt zu sagen hatte.

Ehe Clara noch etwas hervorbringen oder einen Schritt auf ihn zumachen konnte, ließ er sich einfach nach vorne kippen. Es sah nicht aus, als würde er absichtlich springen, eher so, als hätte er einfach keine Kraft mehr, das unsichtbare Gewicht auf seinen Schultern zu stemmen.

Als jenes dumpfe Geräusch verklungen war, das der Aufprall des Körpers verursachte, war sich Clara nicht sicher, an was es sie erinnerte. An einen Schuss, das Zerplatzen eines Luftballons oder daran, wie eine schwere Wassermelone auf den Boden krachte. Ungewollt stieg vor ihren Augen das Bild vom roten Fruchtfleisch auf, aus dem die schwarzen Kerne quollen, und so unpassend das auch war – es überlagerte die Vorstellung, welcher Anblick sich da unten tatsächlich bot. Noch stand sie etwa zehn Schritte vom Fenster entfernt. Sie machte drei, blieb stehen, ging weiter, hielt wieder inne. Die Angst hielt sie auf, eine kranke Gier trieb weiter. Sie musste sehen, wie Rautenberg dort untern lag. Erst dann würde sie glauben, dass er wirklich gesprungen war, und erst dann würde sie mit dem, was sie eben erlebt hatte, fertig werden. Sonst würde sie immer nur das Bild von der Wassermelone im Kopf haben, wenn an seinen Tod dachte, und den Schweißtuchaltar vom Altmünsterkloster in Mainz, der hier ausgestellt wurde und auf den ihr Blick nun fiel.

Ehe sie in die Tiefe lugen konnte, ertönte ein Schrei, hysterisch und schrill. Eigentlich war es kein Schrei, sondern derer vieler. Kaum einer der Versammelten brüllte nicht sein Entsetzen aus sich heraus, doch als sie schon glaubte, ihr Trommelfell würde gleich reißen, verstummten die Schreie – oder nein, sie verstummten nicht, sie hörte sie nur nicht mehr, hörte nur ein Rauschen und ganz nahe an ihrem Ohr eine schwache Stimme.

„Othmar? Othmar, wo bist du denn?“

Clara drehte sich um, ehe sie zum Fenster gelangt war und nach unten blicken konnte. Beim Notausgang, über den sie selbst die Räumlichkeiten betreten hatte, stand Judith Rautenberg mit einer Packung Aspirin in der Hand.

Na, die braucht er jetzt nicht mehr, ging es Clara durch den Kopf, und sie fand den Gedanken ebenso komisch wie geschmacklos, zugleich aber so schockierend, dass sie glucksend zu kichern begann. Das letzte Mal hatte sie in Pubertätszeiten so gelacht, als sie vor der ganzen Klasse aus Goethes Egmont vorgelesen hatte und zu der Stelle gekommen war, als von einem „rohen Pferd“ die Rede war. Auch die mahnenden Blicke der Deutschlehrerin hatten den hysterischen Lachkrampf nicht eindämmen können.

Eine aufgeplatzte Melone ... ein rohes Pferd ...

„Was ... was ist denn los?“

So abrupt wie sie begonnen hatte, hörte Clara zu lachen auf. Von unten ertönten immer noch Schreie und bewirkten, dass Judith sich aus der Starre löste und zum Fenster hastete. Gerade noch rechtzeitig stürzte Clara auf sie zu und bekam sie an der senffarbenen Bluse zu fassen. Sie zog so heftig daran, dass der Stoff riss und die fleischfarbene Unterwäsche sichtbar wurde.

Das Bild von der Wassermelone und dem rohen Pferd verschwamm. Auf ewig würde sie diesen Augenblick mit der zerrissenen senffarbenen Bluse, dem etwas unförmigen geblümte Rock und der Unterwäsche verbinden ...

„Nicht! Schauen Sie nicht nach unten!“

Claras Hände wurden schweißnass. Kurz hatte sie Angst, dass Judith sich losreißen, sie diesmal nur den Rock zu fassen bekommen und auch ihn von ihrem Leib fetzen würde, und schon wieder stieg ein hysterisches Kichern ihre Kehle hoch.

Doch Judith machte sich nicht los, sondern drehte sich langsam zu ihr um. Ihre Lippen zitterten, sie ließ die Packung mit den Aspirin fallen.

„Othmar ... er hat es getan ... er hat es wirklich getan ...“

Wieder war da ein Rauschen in Claras Kopf, wieder fühlte sie sich einfach nur überfordert. Mitleid erwachte, der Wunsch, diese verstörte Frau an sich zu ziehen und zu umarmen. Und zugleich war da der ganz nüchterne Gedanke: Er hat ihr gesagt, was er vorhat, er hat die Tat angekündigt ...

„Kommen Sie“, sagte Clara leise.

Sie zog sie ganz sanft mit sich, und diesmal bestand keine Gefahr, dass der Stoff riss, denn Judith folgte ihr willig. Als sie die Treppe zum Erdgeschoß erreichten, sackte Judith auf die oberste Stufe. Erst jetzt nahm sie wahr, dass ihre Bluse zerrissen war.

„Die ist ruiniert ...“ Vorhin Stimme hatte ihre Stimme gebebt, jetzt klang sie sachlich.

Clara war stehen geblieben. Sie spürte ihre Füße nicht, als wären sie eingeschlafen.

Wie von weither kamen die Schreie, aus denen nun einzelne Sätze deutlich herauszuhören waren. Der Bischof schrie immer wieder: „Um Gotts willen! Um Gottes Willen!“, während eine Frau forderte, an müsste den Notarzt rufen. Ein Mann erklärte, dass jede Hilfe zu spät käme.

Obwohl sie nicht nach unten geblickt hatte, glaubte Clara nun selbst zu sehen, wie Othmar Rautenberg mit unnatürlich verrenkten Gliedmaßen auf dem steinernen Boden lag, von seinem Gesicht nur eine rote Masse geblieben war, die Schädeldecke wie eine Schüssel zersprungen war und die Gehirnmasse hervorquoll.

Sie schloss die Augen.

„Clara!“, rief jemand nach ihr. „Clara, wo bist du denn?“

Patrick.

Na, dem habe ich für ein zweites Date was geboten.

Sie hörte Schritte, bald würde er bei ihr sein.

„Ihr Mann ...“, murmelte Clara. „Bevor er sprang, hat er etwas gesagt ... Sie wissen doch auch, was ihr rotes Gewand bedeutet. Was ... was hat er damit gemeint?“

Judith starrte sie an, als erwachte sie aus dunklem Traum. Sie blickte sich um, als wäre sie sich nicht sicher, wie sie hierher geraten wäre. Clara schüttelte sie leicht an Schultern. „Wissen Sie es?“

Judith schüttelte den Kopf.

„In .. in den letzten Wochen ... er ... er war nicht mehr er selbst ... es ... es hat angefangen, als Erzbischof Kahlfuß ermordet wurde ... ich verstehe das nicht, er kannte ihn doch nur flüchtig ... ich ... ich ...“ Sie blickte auf ihre Bluse. „Ich muss mich umziehen, sofort, so darf mich niemand sehen. Haben Sie ... haben Sie irgendetwas da, was Sie mir leihen können?“

Hilflos blickte Clara auf sich hinab, ließ ungesagt, was ihr durch den Kopf ging und ein neues hysterisches Auflachen provozierte: Zu einem Empfang des Bistums Mainz nehme ich doch keine Klamotten zum Wechseln mit.

„Es geschehen ja noch Zeichen und Wunder“, kommentierte Hartmann wenig später die Tatsache, dass Kai Erdmann sie zur Dienstbesprechung hinzu gebeten hatte. „Da wird man ja fast noch gläubig ... wobei das nicht ungefährlich, wie man an unserem Kardinal sieht.“

Simon rang sich ein Lächeln ab.

„Und dann haben wir uns noch nicht mal ein Taxi nehmen müssen, sondern durften sogar im Dienstauto mitfahren.“

Das war wohl nicht nur ein Versuch zu scherzen, sondern auch eine wenig subtile Anspielung darauf, dass sie besser doch mit dem eigenen Wagen nach Köln gekommen wären. Simon ging nicht darauf ein, zumal Hartmann während der Fahrt ungewöhnlich schweigsam war. Als sie über die Deutzer Brücke fuhren, starrte er nachdenklich auf das schwarze Wasser des Rheins.

Im Großraumbüro des Präsidiums im Walter-Pauli-Ring stank es wieder nach Schweißfüßen, obwohl der Mann von der Spusi gar nicht anwesend war. Vielleicht kam der Geruch von dem alten grauen Teppich mit den unzähligen Flecken. Ebenfalls grau waren die Tische, um den Stühle aus unterschiedlichem Material und unterschiedlicher Form gruppiert waren.

Drei Beamte hatten ihnen gegenüber in Reih und Glied Platz genommen.

„Tick, Trick und Track“, flüsterte Hartmann. Einer war Andreas Kuhle, die anderen beiden hatte Simon vorhin nicht am Tatort gesehen. Als Simon Hartmann fragte, ob er ihre Namen kannte, zuckte die die Schultern. „Tick Trick und Track, wie ich schon sagte.“

Kai Erdmann saß nicht, sondern lungerte auf dem Tisch. Er fuhr sich immer wieder über seinen rotblonden Bart, als er Aufgaben verteilte. Die Haushälterin stünde noch unter Schock; mittlerweile hatte sie vom Arzt ein Beruhigungsmittel bekommen und war bei ihrer Schwester untergekommen. Heute würde die keine vernünftige Aussage mehr machen, aber morgen musste sie erneut befragt werden. Mögliche Zeugen waren auch die Personen, die für gewöhnlich im Gebäude arbeiteten und sich heute Nachmittag dort aufgehalten hatten, der Diözesanadministrator, wie der Leiter der Erzbischöflichen Verwaltung hieß, diverse Mitarbeiter des Kölner Offizialat, und natürlich einige Priesterseminaristen. Außerdem hätten der Regens und der Spiritual etwas vom Priesterseminar aus beobachten können.

„Regens? Spiritual? Was'n das?“, fragte Andreas Kuhle.

„Na, die Gefängniswärter von den Nachwuchspfaffen“, warf Hartmann ein, was ihm einen vernichtenden Blick von Kai Erdmann einbrachte.

Etwas schmollend schob Hartmann die Unterlippe vor und sah bewusst zur Seite, etwas, was er nicht lange durchhielt. Schon beugte er sich zu Simon und flüsterte: „Ob die beiden miteinander gevögelt haben?“

„Wer?“, fragte Simon ahnungslos.

„Na, der Pfarrer und die Haushälterin“

„Er war Kardinal!“

„Aber sie war bereits seine Haushälterin als der noch Pfarrer war.“ Vielsagend hob Hartmann die Braue.

„Das hat Track auch vermutet“, sagte Simon. Eigentlich wollte er Hartmann damit vorhalten, wie wenig originell seine Vermutung war, doch der nickte nur befriedigt. „Sag ich's doch.“

Erneut warf Kai Erdmann ihnen einen mahnenden Blick zu.

Simon erwartete, dass Hartmann sich spätestens jetzt mit ihm anlegen würde und endlich darauf bestehen, dass man die Tatmuster verglich, was angesichts der Umstände das Naheliegendste war. Aber in den vielen Monaten, die er nun schon unter Hartmanns Aufsicht arbeitete, hatte er gelernt, dass man nicht immer mit dem Naheliegendsten rechnen durfte.

Anstatt etwas zu sagen, stand Hartmann auf, um sich aus einer blauen Plastikkanne Kaffee einzuschenken, und als er sich wieder setzte, zog er sein Smartphone hervor.

„Schauen Sie mal“, sagte er und hielt Simon das Display vor die Nase. „Da treibt Luis sich jetzt rum.“

Simon konnte kaum einen Blick auf die Fotos erhaschen, weil Hartmann rasend schnell von einem zum anderen weiter scrollte. Sandstrand, Meer, eine Frau im pinkfarbenen Bikini, weiße Häuser, die ihn an Griechenland erinnerten. Wobei – war es dort jetzt überhaupt warm? Vielleicht waren die Aufnahmen doch auf den Kanaren gemacht worden.

Simon war sich nicht sicher, was erstaunlicher war – dass Hartmann ihm überhaupt die Fotos zeigte oder dass er es ausgerechnet jetzt tat. Wahrscheinlich machte er nicht nur wegen Erdmanns strengem Blick auf beleidigte Leberwurst, sondern weil er schon vorhin in der Erzbischöflichen Residenz mit ihm aneinandergeraten war.

„Die Palmblätter sind ein wichtiges Symbol“, hatte Hartmann erklärt. „Als Jesus in Jerusalem einzog, wurde ihm damit zugewunken ... eine Woche später wurde er gekreuzigt.“

Fast wortwörtlich hatte er Simons Überlegungen wiedergegeben, was ziemlich beachtlich war, weil er ansonsten seine Beiträge selten ernst nahm, sondern ins Lächerliche zog. Erdmann machte Hartmann nicht lächerlich, aber hatte sich über den Bart gestrichen und gegähnt.

„Ich weiß nicht, wie Sie normalerweise vorgehen. Bei uns werden erst einmal die Fakten gesammelt, dann erst Vermutungen angestellt.“

Diese Bemerkung hätte von Hartmann selbst stammen können, weswegen sich Simon nur mühsam ein Grinsen verbissen hatte – was nichts daran änderte, dass die Behauptung Blödsinn war. Als Fallanalytiker war er nie so versessen auf die Ergebnisse der Spusi, sondern hatte immer den Tatort als Ganzes im Blick. So oder so hatte Erdmann nun die Rolle des bad guy weg, weswegen Hartmann mit Simon eine Front bilden musste.

Er war beim letzten Urlaubsfoto angelangt, das irgendeinen Eintopf mit viel Fleisch, Zwiebeln und roten Paprikas in Großaufnahme zeigte.

„Da möchte ich jetzt auch sein“, seufzte Hartmann.

Seiner ungesunden grauen Gesichtsfarbe nach zu schließen, hatte Hartmann seit Ewigkeiten an keinem Strand mehr gelegen. Simon selbst war im Spätherbst mit Dora auf Zakynthos gewesen, ein unerwartet toller Urlaub, was nicht nur am schönen Wetter lag, sondern daran, dass sie sich erstaunlich gut verstanden hatten. Eigentlich war er mit der Erwartung losgefahren, dass ihre Ehe während dem Urlaub endgültig scheitern würde.

Hartmann spielte unbeeindruckt auf dem Smartphone herum, während Erdmann Kopien von Gebäudeplänen verteilte und weitere Zeugen durchging, und er hielt sich selbst dann noch zurück, als Tick, Trick und Track den Raum verließen. Erst dann verkündete er mit süffisantem Grinsen: „Ich glaube, Sie haben etwas Wichtiges übersehen.“

Erst jetzt sah Simon, dass Hartmann nicht länger Urlaubsfoto betrachtete.

Erdmann lungerte noch auf Tisch und machte einen müden Eindruck. „Was?“, fragte er gedankenverloren.

„Na, das liegt doch auf der Hand.“

„Können Sie das spezifizieren?“

„Köln und Berlin“, sagte Hartmann vielsagend.

„Ich weiß. Das sind die beiden Bistümer, denen die Mordopfer vorstanden.“

„Geben Sie mal Kirchenskandal ein. Und dann den Namen der beiden Städte. Und dann werden Sie sehen, dass sowohl der Erzbischof als auch der Kardinal jede Menge Dreck am Stecken hatten. Ich kann mir gut vorstellen, dass es ein paar Leutchen gibt, die ziemlich wütend auf sie sind.“

Eine Weile blieb es still im Raum. Während Hartmann sein eigenes Smartphone triumphierend erhoben hielt, gab Simon in seines die gleichen Suchworte ein. Erdmann tat das offenbar auch.

Was wäre die polizeiliche Ermittlungsarbeit ohne Google?

Manchmal lieferte die Suchmaschine nur jede Menge Schrott, diesmal aber wurden für jedes Bistum gleich zig Artikel aufgelistet. Als Simon den ersten überflog, in dem es um einen Skandal im Berliner Bistum ging, konnte er sich vage erinnern, schon mal davon gehört zu haben. Dora hatte sich furchtbar darüber aufgeregt. Dora regte sich immer über Skandale jedweder Art auf, und meistens führte das dazu, dass sie für eine Woche lang ihr Leben änderte. Nach Fukushima hatte sie fest vorgehabt, die Grünen zu wählen, obwohl sie ansonsten eine bekennende Konservative war, aber bis zur nächsten Wahl hatte sie das wieder vergessen.

In Berlin gab es ein katholisches Krankenhaus, und dort war vor knapp zwei Jahren eine 32jährige Frau mit starken Unterleibsschmerzen eingeliefert worden. Sie war in der sechzehnten Woche schwanger gewesen, und alle Anzeichen deuteten auf eine drohende Fehlgeburt aufgrund einer Bakterieninfektion hin. Anstatt sie schnellstmöglich zu behandeln, was wahrscheinlich eine Ausschabung der Gebärmutter mit sich gezogen hätte, verweigerte die Oberärztin jeglichen Eingriff. Solange das Herz des Kindes noch schlagen würde, wie es der Fall war, könnte man nichts tun. Schließlich wären in einem katholischen Krankenhaus Schwangerschaftsabbrüche streng verboten, noch nicht einmal die Pille danach wurde verschrieben. Es dauerte zweieinhalb Tage, bis das Baby starb. Erst danach, als die Patientin bereits Anzeichen eines septischen Schocks zeigte, schritt man zur notwendigen Operation, und die Reste des Fötus wurden entfernt. Doch es war zu spät. Zwei Tage später erlag die junge Frau einer Sepsis.

Deutschlandweit war von diesem Fall berichtet worden; eine Welle der Empörung schwappte über die katholische Kirche, und diese ebbte nicht ab, solange im Bistum einer dem anderen den Schwarzen Peters zuschob. Die Oberärztin erklärte, sie hätte sich den kirchlichen Statuten des Krankenhauses verpflichtet gefühlt. Der Generalvikar hielt daraufhin entgegen, dass es sich bei den Statuen nicht um verbindliche Weisungen, sondern nur um Empfehlungen handelte. In einer Pressekonferenz, die die Ärztin daraufhin einberufen hatte, hatte sie ihn öffentlich gefragt, seit wann die kirchlichen Moralvorstellungen nur „Empfehlungen“ wären.

Der Erzbischof selbst trat erst recht ins Fettnäpfchen. Zwar entschuldigte er sich öffentlich beim Ehemann der verstorbenen Frau, doch nutzte er diese Gelegenheit, um etwas verworren darüber zu philosophieren, welchen wichtigen Beitrag die kirchlichen Krankenhäuser für das Gesundheitswesen leisten würden – Krankenhäuser, die aus Kirchensteuergeldern von Katholiken finanziert wurden, was kein Hindernis war, dass auch Nichtkatholiken dort behandelt wurden. War das nicht ein Beweis für die Toleranz, Weltoffenheit und Nächstenliebe der Kirche?

Umso peinlicher war es, als wenig später gleich etliche Journalisten den Nachweis erbrachten, dass weder Bau noch Betrieb nur eines einzigen katholischen Krankenhauses in Deutschland von der Kirche finanziert wurde. Die Krankenhäuser befanden sich zwar in deren Trägerschaft, doch das Geld kam vom Staat – auch für das Personal, obwohl dieses verpflichtet war, in Übereinstimmung mit der katholischen Morallehre zu leben und zu handeln.

Nach dem Fall hatte es eine große Unterschriftenaktion gegeben, wobei Simon aus dem Artikel nicht recht klar wurde, was diese bezweckte. In jedem Fall war sie dem damaligen Bürgermeister Wowereit vorgelegt worden, der eine Überprüfung der Zusammenarbeit mit den katholischen Krankenhäusern ankündigte.

Der „Skandal“ im Bistum Köln war etwas anders gelagert. Hier ging es um ein Thema, das nicht spezifisch dieses Bistum betraf, sondern in ganz Deutschland hohe Wellen geschlagen hatte: Es ging um einen Fall sexuellen Missbrauchs, den schon der Vorgänger von Kardinal Pachold über Jahre zu vertuschen versucht hatte.

Ein Priester hatte über einen langen Zeitraum hinweg etliche Jugendliche missbraucht, woraufhin sich mehrere Eltern an die Bistumsleitung gewendet hatten. Doch dort hatte man ihnen entweder gar kein Gehör geschenkt oder sie sogar beschimpft. Schließlich hatte der Kardinal den Pfarrer aus der Gemeinde abgezogen - jedoch nur, um ihn zum Jugendseelsorger des Bistums zu machen. An dieser Personalentscheidung trug Kardinal Pachold zwar keine Mitverantwortung, sehr wohl jedoch dafür, dass er bei seinem Amtsantritt besagten Priester in seinem Amt bestätigte, obwohl er von mehreren Seiten darauf hingewiesen wurde, was der auf dem Kerbholz hatte.

Wie viele andere Missbrauchsfälle wurde auch dieser im Zuge der öffentlichen Debatte vom Jahr 2010 breit diskutiert, doch es dauerte zwei weitere Jahre, bis der Priester vom Amt des Jugendseelsorgers suspendiert wurde.

„Da hat man ja den Bock zum Gärtner gemacht“, murmelte Erdmann, der sich offenbar auf diesen Fall konzentriert hatte.

„In diesem Fall war es ein sehr geiler Bock“, sagte Hartmann. „Mittlerweile ist er Seelsorger in einem Altersheim ... na, die zahnlosen Siechen werden sich nicht wehren, da ist also kein Aufsehen zu befürchten. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass sich der Pfaffe nach etwas Knackigerem sehnt.“

Erdmann schien die Geschmacklosigkeit zu entgehen, denn er starrte angestrengt aufs Smartphone. „Wir müssen auf jeden Fall überprüfen, ob es irgendeinen Zusammenhang zwischen den Fällen gibt.“

„Irgendeinen Zusammenhang?“, rief Hartmann entrüstet. „Die Sache ist doch ziemlich klar. Da hat einer ordentlich Wut angestaut ... und jetzt rächt er sich an der ganzen Mischpoke.“

Simon wollte Hartmann nicht widersprechen, schon gar nicht vor Erdmann, aber er konnte seine Skepsis nicht leugnen. Natürlich boten beide Skandale ein ausreichendes Motiv für einen Mord, aber er war dahingehend geschult, nicht nur auf die Parallelen zu achten, sondern auf die Unterschiede.

„Die Bischöfe sind übrigens beide Male in die Öffentlichkeit gegangen“, sagte Erdmann. „Sie haben eine Kommission eingerichtet, die die Vorgänge jeweils prüfen sollte.“

„Ach, solche Kommissionen kennt man ja“, tat Hartmann das ab. „Das ist doch wie bei uns. Da setzt man Leute ein, die man irgendwie beschäftigen muss, und der Abschlussbericht, der nach Monaten oder Jahren endlich vorliegt, verschwindet in der Schublade. Ich bin sicher, hinter den Morden steckt ein Kirchenhasser. Und davon gibt es hier doch genug. Haben vor einigen Jahren nicht zwei Verrückte während eines Fernsehgottesdienstes die Kirche gestürmt und die Messe gestört?“

„Zunächst sollten wir herausfinden, was diese Symbole am Tatort bedeuten“, schaltete sich Simon ein. „Ich bin überzeugt, dass sie eine klare Botschaft haben.“

„Was wiederum für einen Täter spricht, der sich mit dem ganzen symbolischen Dingsbums auskennt“, sagte Hartmann.

Erdmann blickte etwas müde von einem zum anderen. „Wir müssen überlegen, wie wir sinnvoll zusammenarbeiten können“, erklärte er.

„Darauf will ich doch schon die ganze Zeit raus“, sagte Hartmann befriedigt.

„Jeder konzentriert sich auf seine Ermittlungen, und dann gleichen wir sie miteinander ab.“

„Das ist doch Blödsinn. Am besten wir bilden eine gemeinsame Mordkommission.“

„Das ist nicht die übliche Vorgehensweise!“

„Jetzt seien Sie doch nicht so unkooperativ!“

„Ich glaube nicht, dass Sie ...“

Ehe die Auseinandersetzung Hahnenkampf ausartete, erhob sich Simon. „Größtmögliche Transparenz würde für den Anfang schon reichen. Das heißt, alle Informationen werden sofort weitergeben.“

Erdmann machte den Eindruck, als hätte Simon von ihm verlangt, sich nackt auszuziehen. Zum ersten Mal war Simon dankbar, für jemanden wie Hartmann zu arbeiten. Scheinbar ging es immer noch schlimmer. Doch ehe Erdmann eine Entscheidung treffen konnte, läutete dessen Smartphone. Er blieb auf den Tisch gelungert, drehte sich aber von ihnen weg, als er den Anruf entgegennahm. Aus den knappen Antworten, die meist nur aus einem Ja oder Nein bestanden, ließen sich keine Rückschlüsse ziehen, worum es ging.

Hartmann verdrehte die Augen, während Simon das Fenster kippte. Die Luft stand immer noch zum Schneiden dick.

Erdmann seufzte, als er auflegte. „Jetzt haben wir auch noch die Mainzer am Hals ...“

„Noch ein Bischofsmord?“, fragte Simon.

„Nein, diesmal hat es keinen Bischof erwischt. Und es war auch kein Mord, sondern ein Selbstmord. Ein hochrangiger kirchlicher Mitarbeiter – wenn ich es richtig verstanden habe, hatte der irgendetwas mit den Finanzen zu tun - hat sich während eines Empfangs, bei dem auch der Erzbischof von Mainz anwesend war, aus dem Fenster gestürzt.“

Mit eurem Blut sollt ihr bekennen

Подняться наверх