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14. Februar 1

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Bischof Rainer Kahlfuß verließ die Gemeinde St. Matthäus gegen halb zehn Uhr abends.

Er war erleichtert so zeitig wegzukommen, er hatte bis mindestens zehn Uhr gerechnet. Dass der Smalltalk vorzeitig abgebrochen worden war, lag allerdings nicht nur am warmen Weißwein und den zähen Lachshäppchen, sondern an der mehr als überschaubaren Zahl an Besuchern. Bischof Kahlfuß hielt schon seit vielen Jahren Vorträge über den Heiligen Valentin, aber noch nie waren die Reihen vor ihm so gähnend leer gewesen. Acht Besucher waren es gerade mal gewesen, wobei zwei nicht zählten – der Pfarrer nämlich, der ihn zum Vortrag eingeladen hatte, und die Pfarrsekretärin, die wahrscheinlich zur Teilnahme zwangsverpflichtet worden war. Ach ja, die Pastoralreferentin war auch nicht darum herumgekommen. Während des Vortrags hatte sie etwas sauertöpfisch geguckt, allerdings grimmig genickt, als er die Zuhörer über die wahren Hintergründe des Valentinstages aufklärte – die im Übrigen so gar nichts mit all dem Kitsch, von wegen Herzchen hier und Herzchen da, zu tun hatten.

Bischof Rainer Kahlfuß hasste den Valentinstag. Natürlich nicht, wofür er eigentlich stand, aber das, was daraus gemacht worden war, eine kapitalistische Orgie aus Verwöhngutscheinen, Haribo Liebesherzen und Großbestellungen bei MIFLORA. All diese Liebesschwüre und dann ging man heutzutage doch so leichtfertig wieder auseinander.

Er beschleunigte seinen Schritt, ließ die Kaiserstraße hinter sich und kam eben an einem italienischen Restaurant vorbei, das heute natürlich ein Valentinsmenü anbot: Zitronenrisotto mit Jakobsmuschel, Rinderfilet unter Kräuter-Ziegenkäse-Kruste und Pannacotta-Herz mit Orangen-Marzipan-Sauce. Bischof Kahlfuß fuhr sich über die Lippen, wurde aber trotzdem den Nachgeschmack der Lachsbrötchen nicht los. Er war nicht sicher, ob die Mayonnaise oder der Lachs verdorben gewesen waren. Die meisten Brötchen hatte die ältere Dame mit dem Hörgerät gegessen, das während des Vortrags ständig gepfiffen hatte. Hinterher hatte sie sich mehrmals entschuldigt. „Es hat Ihnen doch nichts ausgemacht, oder?“

„Natürlich nicht!“, hatte er erklärt, obwohl ihn das Pfeifen mehrmals aus dem Konzept gebracht hatte. Aber mit diesen alten Menschen durfte man es sich nicht verscherzen, es waren schließlich die einzigen, die der katholischen Kirche die Treue hielten. Auch die anderen Zuhörer waren mindestens über sechzig gewesen - wahrscheinlich hatten sie keinen Partner, um mit ihm Valentinstag zu feiern.

Wenig später hatte Bischof Kahlfuß seine Zielstraße im Frankfurter Westend erreicht. Eines dieser überteuerten, amerikanischen Cafés, das um diese Uhrzeit geschlossen war, hatte heute Caramel-Macchiato mit Schoko-Herzchen angeboten. Wenn das die Vorstellung von Liebe war, war es kein Wunder, dass fast jede Beziehung scheiterte.

Weiße Rauchwölkchen stiegen beim Ausatmen von seinem Mund hoch, er zog den Mantelkragen über sein Kinn, obwohl der Stoff kratzte. Er würde nicht mehr lange unterwegs sein. Außerdem taten ein paar Schritte ganz gut. In Berlin war er nur mit der Dienstlimousine unterwegs, da fühlte sich jeder Aufenthalt in seiner Heimatstadt wie Urlaub an. Es war ja gesund, sich mehr zu bewegen, er hatte nur leider nicht so viel Zeit. Organisatorisches, Leitungsaufgaben, Reisen, Gemeindebesuche - für einen Bischof hörte die Arbeit niemals auf. Und Vorträge. Vorträge, zu denen acht Besucher kamen. Fünf ohne die Pflichtgäste. Vier, wenn man bedachte, dass die Dame mit dem Hörgerät fast nichts verstanden hatte. Vier Menschen, die jetzt mehr über den Heiligen Valentin wussten und den Kitsch künftig mit Verachtung strafen würden ... Eigentlich hätte er die gleich zum Rinderfilet mit Kräuter-Ziegenkäse-Kruste beim Italiener einladen können. Mit vollem Magen wäre die feuchte, schwere Februarkälte auch leichter zu ertragen.

Er überquerte die Straße. Sie war glatt, erst als er den Bürgersteig erreichte, fühlte er unter seinen Sohlen das Streusalz. Ein Grüppchen Jugendlicher grölte, die waren offenbar auch nicht in der Stimmung, um Valentinstag zu feiern. Sie standen unter einem Plakat vor einer halbnackten Frau, die einen Rasierapparat liebkoste. Auch so eine Illusion, die der Kapitalismus erzeugte, sei jung und hübsch und alles läuft großartig.

Er war erleichtert, als er sie hinter sich gelassen hatte, doch kurz bevor er sein Ziel erreichte, hörte er hinter sich plötzlich Schritte.

Schritte, die schneller wurden, wenn er schneller ging.

Und die verstummten, wenn er stehen blieb.

War es möglich, dass ihm jemand gefolgt war?

Er drehte sich um. Von den Jugendlichen abgesehen war die Straße leer. Er hatte alles bei sich, nicht etwa den Schal vergessen oder so. Und derart schnell, wie alle Zuhörer des Vortrags hinterher den Gemeindesaal verlassen hatten, hatte wohl keiner Lust auf eine Vertiefung des Themas. Nein, niemand folgte ihm. Und da waren doch auch keine Schritte mehr, oder?

Bald erreichte er die Pfarrei St. Bonifatius. Früher war er hier Pfarrer gewesen, heute gab es keinen eigenen Gemeindevorsteher mehr, denn die Pfarrei war mit St. Matthäus zusammengelegt worden. Immer, wenn er in Frankfurt war, übernachtete er in der leerstehenden Pfarrwohnung. Sie war noch genauso eingerichtet wie damals, und der Geruch nach Mottenkugeln, Weihrauch und Kerzen war ihm vertraut. Als er jetzt den Innenhof durchschritt, freute er sich auf diesen Geruch und vor allem auf ein Lesestündchen. Die Brüder Karamasow von Dostojewski waren angesagt, er hatte Literatur immer geliebt, leider hatte er als Bischof zum Lesen genauso wenig Zeit wie für ein wenig Bewegung.

Die Pfarrwohnung befand sich über dem katholischen Kindergarten, was tagsüber für unerträglichen Lärm sorgte, doch jetzt war das Gebäude ausgestorben. Die großen Fenster starrten ihn wie leere Augen an, die Tür der Kirche gleich gegenüber war längst abgeschlossen worden. Wenn hier sonntags die Messe gelesen wurde, konnte der Pfarrer sicher froh sein, wenn wenigstens acht Leute kamen. Oder vier, wenn man die Ministranten nicht mitrechnete. Aber das wusste man ja, wenn man sich der Diaspora aussetzte und in einer Großstadt arbeitete, in Berlin war das nicht anders.

Obwohl er schwarze Lederhandschuhe trug, waren seine Hände steif vor Kälte. Er brauchte lange, bis er den richtigen Schlüssel fand. Der Schlüsselbund klirrte, übertönte das Geräusch hinter ihm ... zumindest fast ... da waren doch wieder Schritte?

Er erstarrte, lauschte. Nichts. Nur sein Atem ging noch hektischer. Er steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn um, lauschte wieder.

„Ist da jemand?“

Keine Antwort.

Sein Blick fiel auf eine Kindergartenzeichnung, die auf die Innenseite des Fensters geklebt worden war - mehrere ausgeschnittene Herzen auf einem roten Blatt und mit Glitzerlack umrandet. Außerdem waren Verzierungen aus kleinen Wattebäuschen angebracht, zumindest sahen sie wie Wattebäuschen aus, es könnten auch Marshmallows sein, keine Ahnung, was so einer Erzieherin heutzutage alles einfiel. Und in der Mitte der Herzen stand: Ich habe dich so lieb. Schrecklich, dass jetzt schon die Kinder mit diesem Valentinskitsch überfrachtet wurden. Warum gab man sich nicht einmal in einer katholischen Kita die Mühe, vom wahren Valentin zu erzählen?

Er trat ein, stieg die Treppe hoch. Es musste ein paar Jährchen her sein, dass das Treppenhaus seine letzte Renovierung erfahren hatte. Der Steinboden fühlte sich klebrig an, vom Geländer blätterte der mintgrüne Lack, und die Wände waren, obwohl sie irgendwann mal im gleichen Farbton gestrichen worden waren, grau. Allerdings konnte das auch an der miesen Treppenbeleuchtung liegen. Mehr als eine der Neonlampen hatte ihren Geist aufgegeben.

Mit jeder Stufe, die er hinter sich brachte, wuchs seine Erleichterung. Wer immer ihm nachgegangen war – nach oben folgte ihm niemand, und bald hatte er den Gang erreicht, an dessen Ende sich die Tür zur Pfarrwohnung befand.

Er kramte wieder nach dem Schlüsselbund, hatte rasch den richtigen gefunden, den, auf dem mit Tippex ein weißer Punkt gemalt worden war. Als er ihn ins Schloss stecken wollte, bemerkte er jedoch, dass die Tür nur angelehnt war. Wie merkwürdig, er hatte doch vorher seinen Koffer vorbeigebracht, und danach hatte er sie ganz sicher abgeschlossen.

Wer war in der Zwischenzeit hier gewesen? Vielleicht die Leiterin des Kindergartens? Aber die würde doch nicht so nachlässig sein und ...

Er fröstelte wieder, diesmal kam die Kälte von Innen, und das Unbehagen wuchs, als er plötzlich im Finsteren stand. Er tastete nach dem Lichtschalter, fühlte, wie rau der Verputz der Wand war. Als es endlich wieder hell war und er sich umdrehte, stand die Tür sperrangelweit offen.

Sein Mund wurde trocken, die steifen Hände schweißnass, die Lippen taub. Sollte er in die Wohnung lugen? Fliehen?

Ehe er eine Entscheidung treffen konnte, ertönte eine Stimme.

„Guten Abend.“

Die Stimme klang ... vertraut. Und der Mann, der ihm aus dem Dunkeln der Wohnung entgegentrat, war es auch.

Bischof Kahlfuß ließ erleichtert den Atem entwichen. Er kannte diesen Mann. Was allerdings noch nicht erklärte, warum er hier war.

„Was machen Sie denn ...“

Erst jetzt entdeckte er, was der Mann in den Händen trug, und die Erleichterung versiegte.

„Was um Himmels Willen ...“, entfuhr es ihm.

Er brachte kein Wort mehr hervor, sobald sein Gegenüber schräg lächelte. Der Mann hob die Hand, mit der die Peitsche hielt ... danach die andere, die auch nicht leer war. Was er mit dieser umklammerte, war sogar noch bedrohlicher als die Peitsche.

„Mein Gott, legen Sie die Waffe weg!“

Der Mann tat nichts dergleichen. Im Gegenteil, er trat ganz langsam auf ihn zu. Da das Licht so trübe war, wirkte es, als wären seine Augen in dunklen Höhlen versunken und sein grimassenhaft verzerrter Mund schwarz. Anstatt die Pistole sinken zu lassen, richtete er sie direkt auf Bischof Kahlfuß' Brust. Unwillkürlich machte der sich auf einen ohrenbetäubenden Knall gefasst, doch der Schuss blieb aus, stattdessen ertönte leise zischend der Befehl: „Kommen Sie in die Wohnung, schließen Sie die Tür! Und dann ziehen Sie sich aus!“

Bischof Kahlfuß trat über die Schwelle. Er hörte kaum, wie die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, und er hatte auch nicht das Gefühl, jemals wieder seine Hände gebrauchen zu können. Vorhin waren sie vor Kälte steif gewesen, jetzt vor Panik. Unmöglich, dass er es schaffen könnte, seinen Mantel aufzuknöpfen. Und überhaupt ... was sollte diese unsinnige Aufforderung, er solle sich entkleiden!

Doch der andere wiederholte sie sogar noch: „Nun machen Sie schon! Ziehen Sie sich aus!“

Wider Erwarten schaffte er es doch, den Mantel aufzuknöpfen, obwohl er ahnte, dass es wenig Sinn hatte zu gehorchen.

„Die Hose können Sie anlassen, der Oberkörper reicht.“

Plötzlich glaubte er zu wissen, warum er den Valentinstag immer gehasst hatte. Nicht, weil der Kapitalismus die Liebenden feierte oder vielmehr die Liebenden den Kapitalismus. Sondern weil er vielleicht eine diffuse Vorahnung gehegt hatte, dass er an diesem Tag sterben würde.

Mit eurem Blut sollt ihr bekennen

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